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Der Riese
Ich kann nicht sagen, wie lange es mich schon gibt. Ich bin sehr alt. Mich gibt es schon so lange, dass ich gar nicht weiß, ob ich oder die Welt zuerst da war.
Ich bin ein Riese.
Der einzige meiner Art. Ob etwas so Großes wie ich, überhaupt Vater und Mutter hat?
Ich bin so nackt und so groß, dass ich den Boden, auf dem ich stehe, nur bei wolkenlosem Himmel betrachten kann. Ich fresse ganze Länder, um meinen Hunger zu stillen. Ich bade in Ozeanen und trinke Seen. Bin ich wütend, beben Kontinente. Meine Hände versetzen Berge, und meine Arme sind so lang, dass ich, wenn ich sie ausstreckte, die Erdkugel zerdrücken könnte. Sterne beleuchten mir den Kopf, und in meinen riesigen Locken verfangen sich Kometen.
Wenn ich schlafe, schlafe ich tausend Jahre. Ich kenne nicht Tag und nicht Nacht. Ich träume nicht, weil ich schon alles geträumt habe. Es gibt für mich keinen Grund, auf etwas zu warten oder zu wollen. Ich wünsche mir nichts, denn ich habe alles. So ist es, seit ich denken kann.
Dann.
Alles fing unerwartet und ganz leise an. Ich schlief, wie die meiste Zeit über, und wärmte mich an einem kleinen Vulkan, als der Wind kam. Ich machte mir nichts daraus, denn wenn ich ausatme, fäll' ich die größten Wälder. Ich war also unbesorgt.
Das Wasser kam und weckte mich aus meinem Schlummer. In meinem Zorn schlug ich mit meiner rechten Hand, den glühenden Berg aus. Es donnerte, und das Wasser stieg immer schneller.
Da erblickte ich sie zum ersten Mal. Zwar war sie noch weit weg, etliche Kilometer, dennoch erkannte ich ihre Größe. Ich hatte nie zuvor etwas so Gewaltiges gesehen. Sonst zertrete ich jede Gefahr. Doch „Sie“ war groß!
Eine Welle.
Dann hörte ich sie. Erst ganz fein wie Stimmen, die immer zu einen Ton singen. Aber kein Lied, dessen Ende man hören möchte. Ein Rauschen und ein Tosen folgten dem Singsang.
Obwohl uns jetzt noch hunderte Meter trennten, überragte sie mich schon um das Vielfache.
Plötzlich erwachte in mir ein altes Gefühl, aus der Zeit, als Antworten klein und Fragen groß waren.
Neugier.
Sie war so schnell und so nah, dass ich sie riechen konnte. Sie roch nach Erde, nach würzigen, süßen Nüssen, nach Wurzeln, und nach allem ,was sie mit sich und in sich hinein zog.
Also pflückte sie mich wie eine Blume vom Boden und stieß mich in ihre Fluten. Sie drückte mich in ihren feuchten Schoß.
Sie war über mir. Sie war unter mir. Wir kämpften.
Aber immer wenn ich zugriff, glitten meine Hände durch sie hindurch.
Ich wollte schreien, doch schluckte ich nur ihr Nass.
Sie drang in mich ein, mit ihren kalten feuchten Fingern.
Packte mich und riss meine Glieder auseinander, dass ich glaubte, sie müssten mir abfallen.
Der Schmerz wurde so unerträglich, dass alles um mich herum schwarz wurde.
Als ich die Augen wieder öffnete, schwamm ich auf meinem Rücken, in einem einzigen, riesigen Ozean. Alles war still. Keine Berge, keine Tiere, kein Himmel mehr. Nichts.
Alles ist verschwunden. Auch meine Erinnerung, an das Davor.
Sie hat sich anscheinend beruhigt, doch ich wage es nicht, einen Muskel zu bewegen.
Um sie nicht zu wecken, halte ich meinen Atem an.
Ich sinke langsam, ganz langsam, immer tiefer in sie hinein. Und obwohl meine Lungen brennen, rühre ich mich nicht.
Mein riesiger Körper nähert sich Ihrem dunklen Grund. Er gräbt sich in den von Wasser aufgeweichten Schlamm.
Meine Gedanken kommen nur noch selten bei mir an: „Ist mir kalt?“, dachte ich. „Weiß nicht.“, antwortete ich.
Nicht mehr lange, dann hört auch das Denken auf. Ich rühre mich nicht!