Mitglied
- Beitritt
- 10.07.2013
- Beiträge
- 3
Der Richter
Er zitterte. Sein gesamter Leib bebte. Er hatte Angst. Angst vor dem Kreuz. Es stand zwar noch nicht fest, aber er wusste es genau. Er spürte es. Der Mann zog ihn weiter. Er war wieder langsamer geworden. Das raue faserige Tau hatte schon seit Tagen seine Handgelenke aufgescheuert. Anfangs hatte er noch geschrien, als sich das Seil durch seine Haut gesägt hatte. Doch jetzt spürte er keinen Schmerz mehr.
Seine Hände waren schon länger taub. Er konnte sie kaum noch bewegen.
Seine Füße waren sehr wund von den vielen Splittern und Steinen auf dem Boden. Einige aus der Menge warfen ihm Nägel vor die Füße. Manche von ihnen bohrten sich sogar in seine Füße. Doch er hatte auch dort kein Gefühl mehr.
Er war am ganzen Körper verdreckt und verschmutzt. Es erinnerte die Betrachter schon an Ruß oder Asche. Doch sie lagen falsch. Es war der Dreck aus dem dunklen Loch, in dem er die letzten Wochen seines Lebens verbracht hatte. Ein viel zu kurzes, durchlöchertes und mausgraues Hemd schlackerte um seine knochige Hüfte. Sein gesamter Leib war bis auf die Knochen abgemagert. Er hatte kein Gramm Fett auf den Hüften. Seine Wangen waren eingefallen und seine langen fettigen Haare fielen ihm immer wieder über die Augen. Diese waren einst goldbraun gewesen, doch jetzt waren sie farblos, leer. Sie hatten ihr Glitzern von damals verloren und blickten trüb in die Welt.
Der Mann zerrte ihn weiter.
Vor ihm ragte das Kreuz auf. Es waren drei an der Zahl. Für ihn war das mittlere bestimmt worden. An den beiden äußeren Kreuzen hingen schon zwei Männer. Sie waren des Diebstahls am Königshof bezichtigt worden. Sie hatten den Kampf gegen die Nägel längst aufgegeben.
Er wurde vor die drei Kreuze geführt. Ein Mann brüllte ihn an. Die Verhandlung begann. Er hatte keine Wahl zu Wort zu kommen. Der Richter schilderte ihm kurz und knapp, welches Vergehen er angeblich begangen habe. Die Menge johlte und buhte ihn aus. Sie rief ihm Verwünschungen und Flüche zu. Er ignorierte dies alles. Er sah ein, dass er etwas falsch gemacht hatte. Er wünschte sich um mehr als alles in der Welt, dieses rückgängig machen zu können. Aber es ging nicht. Was geschehen war, war geschehen.
Plötzlich verstummte die Menge. Selbst der Richter ward ruhig. Ein Mann schritt auf ihn zu. Langsam. Ohne Worte. Sein Gesichtsausdruck war nichtssagend. Niemand konnte ihn später beschreiben. Keiner wusste, wer er war. Dann sagte er, mit einer ruhigen, kraftvollen Stimme: „Nehmt mich. Nehmt mich für ihn. Ich will für seine Schuld sterben. Nehmt mich.“
Der Richter konnte es nicht glauben. Laut Gesetz durfte ein Unschuldiger für die Schuld eines Anderen sterben und dessen Schuld ward vergeben. So etwas war noch nie geschehen.
Er schritt auf das Kreuz zu. Zwei Männer in Rüstung hoben ihn hoch. „Hilf mir Vater! Gib mir Kraft!“, sprach er. Sie schlugen ihn mit Nägeln fest.
Der Schuldige spürte, wie seine Schuld von ihm abfiel. Er konnte wieder lächeln. Seine Augen glitzerten wieder. Der Gekreuzigte schloss seine Augen. Die Sonne ging unter.
Später sollten die Menschen ihn INRI nennen. Der Mann, der für die Schuld am Kreuz gestorben ist.