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Der Retter
Der Retter
Ich werde sie retten, denn ich bin ein guter Mensch.
Ich lasse nicht zu, daß Spinnen in meiner Gegenwert Fliegen morden, außer diese befinden sich in meinem Wohnzimmer (dort unterstütze ich es, habe ich
die Spinne noch nicht aus ästhetischen Gründen eingesaugt).
Doch dieser Brummer hier zappelt auf dem Gartentisch, in Gottes intakter Natur, die Sonne scheint, und dieses gräßliche Spinnentier hält ihn mit
ihren widerlichen Krallen fest. Ich kann die Mordgier in ihren Augen erkennen. Die Fliege kann es auch, sie
strampelt und versucht sich zu befreien.
Genervt schiebe ich mein duftendes, frisch gegrilltes Steak zur Seite. So schmeckt es einfach nicht. Was fällt dieser Spinne nur ein! Ihr dünner Körper schleppt die Fliege erbarmungslos weiter. Das darf doch nicht wahr sein!
Ich wußte schon immer, daß Tiere primitiv und grausam sind, doch dieses aufreibende Schauspiel führt es mir erneut vor Augen.
Ein Entschluß setzt sich in meinem Kopf fest.
Ich rufe meine Kinder herbei, damit sie Zeugen meiner Heldentat werden. Sie trennen sich nur widerwillig von ihrer Schnecken-Versuchsfarm im hinteren Drittel des Gartens.
Dies ist kein Tag wie jeder andere. Ich werde der Ungerechtigkeit Paroli bieten.
Denn eines steht fest: Verglichen mit Spinnen haben Fliegen absolut mehr Lebensberechtigung. Nicht nur, daß sie ein moralisch einwandfreies Verhalten an den Tag legen (sie morden nicht). Sie haben auch keinen gesprenkelten, kugelförmigen Hinterleib, keine säbelartigen Mundwerkzeuge und keine Giftdrüsen, mit denen sie ihr armes Opfer zugrunde richten. Sie bauen keine Netze, die sich in jeder Wohnung zu Staubfängern entwickelt, zerstört man sie nicht regelmäßig mit dem Besenstiel. Und am wichtigsten: sie haben keine unproportional langen Beine, mit denen sie unschuldige
Menschen erschrecken .
Deswegen steht meine Entscheidung fest. Die Vernunft eines menschlichen Streitschlichters ist gefragt.
Eilig schalte ich den elekrischen Insektenvernichter aus, damit die Fliege nach ihrer Rettung – durch mich –nicht darin umkommt, sondern, wie Free Willy im Kino, in Freiheit davonfliegt.
Ich nehme das Buch des Dalai Lama, das ich gerade lese, und klatsche es energisch auf den Tisch, um die Spinne zu töten. Ein schmatzendes Geräusch wird hörbar. Ich bin erleichtert, denn es bestätigt den Erfolg meiner Mission. Ich habe dem Bösen den Gar ausgemacht. Zaghaft hebe ich das Buch hoch.
„Komm“, sage ich zur Fliege, „ du bist frei.“ Doch
sie bewegt sich nicht.
12.6.02