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Der Reißverschluss
In dem unüberschaubaren Spirituosensortiment konnte ich den Rum nicht finden. Der neue Supermarkt am Invalidenplatz hielt offenbar jeden Schnaps bereit, den man sich nur wünschen konnte. Mit konzentriertem Blick lief ich an den meterlangen Regalen entlang. Die flackernde Beleuchtung in diesem Bereich erschwerte die Suche und machte mich nervös. Endlich fand ich ihn aber doch, den drei Jahre alten Havana Club, den ich abends für ein paar Freunde und Kollegen in einen Cuba Libre mixen wollte. Es gab etwas zu feiern: Ich hatte meine ersten drei Jahre als angestellter Anwalt in der Kanzlei erfolgreich überstanden und war nun für eine Berufung zum Partner vorgesehen. In den nächsten Tagen würde die formale Entscheidung in der Partnerversammlung fallen.
Mit zwei Flaschen Rum und weiteren Getränken ging ich zum Kassenbereich. Ich nahm mir eine Plastiktüte, weil meine Tasche nicht für alles ausreichte, und suchte mir wie immer die hübscheste Kassiererin aus. Ihre dunklen mandelförmigen Augen und der hellbraune Teint wiesen auf persische Wurzeln hin. Mit geschmeidigen Bewegungen scannte sie die Produkte ein, die ich mit fahrigen Handgriffen in die Plastiktüte räumte, ohne das Mädchen aus den Augen zu lassen. Schließlich teilte sie mir schüchtern lächelnd den Kaufpreis mit.
„Sammeln Sie die Treueherzen?“ fragte sie mich mit neugierigem Blick.
„Ihre Treueherzen nehme ich gerne“, erwiderte ich mit einem schiefen Grinsen. Verdammt, warum hatte ich mir den peinlichen Spruch nicht sparen können? Wieviele testosterongeschwängerte Typen mochten ihr heute schon etwas ähnlich Plattes vorgesäuselt haben? Sie aber kicherte und blinzelte mich an. Sie schien mich tatsächlich sympathisch zu finden.
Nervös nestelte ich an meiner Ledertasche herum, um mein Geld herauszuholen. Der Reißverschluss klemmte. Ich zog noch einmal an dem Lederbändel, doch der Reißverschluss ließ sich nicht bewegen. Die Kassiererin betrachtete grinsend ihre Fingernägel, während die ältere Dame, die nach mir an der Reihe war, genervt die Augen verdrehte. Mit aller Wucht zerrte ich ein weiteres Mal an dem Reißverschluss, und endlich öffnete er sich. „Entschuldigung“, sagte ich gut vernehmbar für alle und bezahlte. Die Kassiererin gab mir das Rückgeld und wünschte mir einen schönen Abend. „Bis zum nächsten Mal dann“, raunte sie mir noch mit einem Lächeln zu.
Beflügelt, aber auch verwirrt machte ich mich durch triefenden Schneematsch zu Fuß auf den Weg nach Hause. Nach vier Wochen Eiseskälte hatte es heute begonnen zu tauen, die Schneemassen begannen zu schmelzen und verwandelten Straßen, Plätze und Gehsteige in kaum passierbare Matschpisten. Die Kassiererin ging mir nicht aus dem Kopf, und ich spürte mein schlechtes Gewissen. Denn nicht nur beruflich, auch privat lief derzeit alles glatt: Seit fünf Jahren war ich nun in einer festen Beziehung, und ich war Nora nie untreu gewesen. Ich konnte mir auch nicht vorstellen, sie jemals zu betrügen – ich liebte sie mehr als je zuvor. Seit zwei Monaten waren wir verlobt. Trotzdem genoss ich hin und wieder den Anblick schöner Frauen und konnte mir auch meine unbeholfenen Flirtversuche nicht immer verkneifen. Nora war das nicht entgangen, aber es schien sie nicht sonderlich zu stören.
Langsam stapfte ich durch die Schneeschmelze und erreichte schließlich das fünfstöckige Gebäude, in dem ich in der zweiten Etage eine schicke Vierzimmerwohnung bewohnte. Altbau, Stuck, Parkett, hundertzwanzig Quadratmeter Wohnfläche. Noch lebte ich dort offiziell allein, aber bald schon wollte Nora zu mir ziehen. Platz hatte ich genug, und in der letzten Zeit waren wir ohnehin die meiste Zeit bei mir gewesen.
Gerade sah ich Natalie Berger, junge Schauspielerin am Theater und meine direkte Nachbarin, im Hauseingang verschwinden. Wenn ich mich jetzt beeilte, konnte ich noch durch die Tür schlüpfen und müsste nicht meine Einkäufe im Matsch abstellen, um nach dem Schlüssel zu kramen und aufzusperren. Ich fing also an zu laufen – und rutschte sofort auf dem Schneematsch aus. Mit der schweren Tüte voller Getränke und meiner Tasche versuchte ich noch zu balancieren, um einen Sturz zu verhindern, doch meine glatten Ledersohlen zogen mir die Füße unter dem Körper weg. Mit voller Längsseite krachte mein Körper auf den Gehsteig. Die Plastiktüte landete direkt neben mir auf den Boden – das Klirren von Scherben war zu hören und der Geruch von kubanischem Rum stieg deutlich in meine Nase. „Elender Mist“, fluchte ich, während ich mir den Schnee aus dem Gesicht wischte. Schmerzen durchfluteten meinen Körper, doch soweit ich es beurteilen konnte, war nichts gebrochen. Ich rappelte mich auf und stellte fest, dass der dünne Stoff meiner Anzughose eingerissen war. Mantel und Schuhe waren völlig vom dreckigen Schneematsch besudelt, und der Rum hatte sich gut riechbar auf meiner gesamten Kleidung verteilt. Es war aber nur eine Flasche zu Bruch gegangen, die restlichen Getränke waren unbeschädigt.
Ich atmete tief durch und griff zu meiner Tasche, um den Wohnungsschlüssel herauszuholen. Wieder klemmte der Reißverschluss. „Blödes Drecksteil“ murmelte ich und ärgerte mich darüber, dass so etwas bei einer hochwertigen Ledertasche passierte. Erst vor zwei Monaten hatte ich mir das wertvolle Stück von einer Prämie gekauft, die man mir für die erfolgreiche Bewältigung eines langwierigen Gerichtsverfahrens zugestanden hatte. Als ich ein weiteres Mal mit großer Kraft (und auch ein bisschen Wut) mein Glück versuchte, riss der Lederbändel ab. Der kleine Metallring, über den der Lederbändel mit dem Reißverschluss verbunden war, war gerissen. Nun konnte ich den Reißverschluss überhaupt nicht mehr richtig bedienen. Ich versuchte, ihn zwischen Daumen und Zeigefinger zu nehmen und zu bewegen, was aber zum Scheitern verurteilt war. Meine eben noch blendende Laune war dahin. Leise fluchend blickte ich mich um. Einige Passanten schauten bereits zu mir und beobachteten interessiert meinen Kampf mit der Tasche. Genervt betrachtete ich den hinterhältigen Reißverschluss und stellte fest, dass sich das Innenfutter des Faches fest in ihm verfangen hatte. Vermutlich hatte ich den Verschluss vorhin im Supermarkt, nervös von den Blicken der Kassiererin, zu unsanft bedient.
Was nun? Wie ein begossener Pudel verharrte ich nun vor meiner Tür, durchnässt, mit dreckiger und zerschlissener Kleidung, nach Alkohol stinkend, frustriert und verzweifelt. Eventuell könnte ich mit Gewalt die Tasche öffnen, irgendwie musste ich an den Schlüssel gelangen. Aber durch die stabile Verarbeitung erschien mir das ohne geeignetes Werkzeug unmöglich zu sein, außerdem hatte ich große Hemmungen, der teuren Tasche das wirklich anzutun. Außer mir besaß nur Nora einen Schlüssel zu meiner Wohnung, und sie war vor zwei Tagen zu einer Dienstreise aufgebrochen. Doch Hoffnung keimte in mir auf: Für den Fall der Fälle hatten wir verabredet, dass sie meinen Wohnungsschlüssel an einem getrennten Schlüsselbund in ihrer Wohnung liegen lässt, wenn sie die Stadt verlässt. Meinerseits bewahrte ich den Schlüssel zu Noras Wohnung gesondert von meinen eigenen Schlüsseln auf. „Glück im Unglück“, sagte ich zu mir selbst, nur halbherzig erleichtert, und griff in die Innentasche meines Mantels, in die ich den Schlüssel zu Noras Wohnung vor einigen Tagen eingesteckt hatte.
Meine Verlobte wohnte in einer kleinen Zweizimmerwohnung nicht allzu weit von mir entfernt, aber eine halbe Stunde würde mich der Fußweg doch kosten. Ich musste mich beeilen, um vor meinen Gästen wieder zu Hause zu sein und das Wohnzimmer noch schnell aufräumen zu können. Auf meinem beschwerlichen Fußmarsch dachte ich an Nora und unsere gemeinsame Zukunft, wodurch meine miese Laune langsam wieder besser wurde und ich das Elend meiner Situation etwas verdrängen konnte. Ich freute mich auf Noras Rückkehr in ein paar Tagen und nahm mir vor, sie dann mit einem selbst kreierten Menü zu verwöhnen. Ihre Überraschung und ihr Lächeln würde alle Ärgernisse des heutigen Tages vergessen machen.
In der Arkonastraße bog ich nach links in Richtung des Zionsplatzes ab. Die kahlen Äste der Kastanien raschelten im Wind und warfen dunkle Schatten auf die von fahlem Laternenlicht beleuchteten Gehsteige. Ich fröstelte und wünschte mir, ich könnte mich meiner klammen Kleidung entledigen. Nach ein paar Metern stand ich endlich vor dem schlichten Mietshaus aus den Sechzigerjahren. Auf dem Weg hierher hatten mich einige Passanten mit pikiertem Blick angesehen. Kein Wunder, dachte ich, meine Erscheinung war die eines vornehmen Penners.
Ich betrat das Gebäude und erreichte durch den schmalen Innenhof das Hinterhaus. Knarzende Treppen führten mich bis in den vierten Stock zu Noras Wohnung hinauf. Mein rechter Knöchel sendete bei jeder Treppenstufe Schmerzsignale an mein Hirn. Vor Noras Tür angekommen, stellte ich meine Sachen ab und schloss auf. Seltsam, die Tür öffnete sich bereits nach der ersten Drehung. Normalerweise schloss Nora doppelt ab, wenn sie ihre Wohnung verließ. Wachsam schob ich die Tür auf und betrat den Wohnungsflur. Nach dem Lichtschalter tastend blickte ich mich im Halbdunklen um – und erschrak fast zu Tode: Am Ende des etwa fünf Meter langen schmalen Ganges konnte ich die Umrisse einer Person erkennen, die etwas in ihrer rechten Hand hielt. Panisch suchte ich weiter nach dem Lichtschalter, ohne die Silhouette aus den Augen zu lassen. Als ich den Schalter gefunden und betätigt hatte, flammte das Licht im Flur auf. Was ich nun erblickte, ließ meinen Herzschlag einmal aussetzen. Ich sah in das ebenso verblüffte wie erschrockene Gesicht eines Mannes. Mundpartie, Kinn und Nase waren verschmiert von einer braun-weißen Masse. Er war komplett nackt, hatte südländische Gesichtszüge und war etwa so groß wie ich. Offenbar war ihm durch den Schreck sein Schwanz stark zusammengeschrumpelt, denn man konnte ihn zwischen den langen Schamhaaren kaum erkennen. Überhaupt war er von oben bis unten fellartig behaart, also das genaue Gegenteil von mir. Es dauerte einige Sekunden, bis ich die Tragweite des grotesken Anblicks zu realisieren begann: Wenn dieser Mann nackt in Noras Flur stand, konnte das nur bedeuten, dass er ihr heimlicher Liebhaber war und dass Nora ihre Dienstreise erfunden hatte, um sich die Zeit in Ruhe mit ihrem Lover vertreiben zu können. Oder hatte Nora ihre Wohnung einer Freundin für deren Schäferstündchen zur Verfügung gestellt? Jetzt sah ich auch, was der Typ in der Hand hielt: Es war ein benutztes, gut gefülltes Kondom.
Meine Hoffnung, es müsse nicht meine Verlobte, sondern könne eine ihrer Freundinnen sein, die mit dem bärenartigen Wesen unmittelbar zuvor Sex hatte, wurde zunichte gemacht, als er seinen Kopf Richtung Schlafzimmer drehte: „Ähhh Nora, hier ist …ähhh… jemand in deinem Flur.“ Er stammelte mit starkem französischem Akzent.
Ich konnte nicht mehr denken, mein Hirn setzte aus. Irgendwo in mir spürte ich einen dumpfen Schmerz, eine furchtbare Leere entstehen. Wie in Trance bewegte ich mich auf den Mann zu, der daraufhin ängstlich ins Schlafzimmer zurück wich. Dort erblickte ich Nora auf dem zerwühlten Bett, nackt und mit geröteten Wangen. Sie starrte mich an und sagte nichts. Im Schein mehrerer flackernder Kerzen war sie so schön wie immer, doch auch sie war an verschiedenen Stellen ihres Körpers verschmiert. Als ich die Sprühsahne und das Nutellaglas neben dem Bett sah, wurde mir auch klar, warum.
In ruhigem Ton sagte ich zu Nora: „Musstest du dir also diesen französischen Neandertaler angeln, um endlich deine seltsamen Phantasien auszuleben? Ich hatte keine Ahnung, wie abartig du bist.“ Nora schwieg weiterhin, wenngleich ich ein leichtes Kopfschütteln erkannte. Ihr Liebhaber glotze mich regungslos mit seiner dümmlich-verdreckten Visage an. Ihm setzte die gesamte Situation offenbar genauso zu wie mir.
Im Nachhinein kann ich mir nicht erklären, was genau in mir die folgende Handlung auslöste. Zu viele schockierende Impulse hatte mein Kopf verarbeiten müssen. Die peinliche Kassenszene, der streikende Reißverschluss, mein Sturz, der zermürbende Fußmarsch hierher und schließlich die unerwartete in flagranti-Entdeckung meiner Verlobten beim Seitensprung – alles Unglück der letzten Stunde entlud sich auf gewaltige Weise, als ich mich dem Verführer zuwandte: Mit beiden Händen stieß ich ihn so sehr gegen den Brustkorb, dass er mit enormer Wucht gegen die Wand hinter sich flog. Er hatte noch versucht sich abzufangen, prallte aber mit seiner rechten Seite gegen den Stahlbeton und sank schließlich zu Boden. Jammernd hielt er sich den rechten Arm. Blut strömte aus Wunden an Stirn und rechtem Handgelenk. Das Knacken im Moment des Aufpralls war mir nicht entgangen.
„Oh mein Gott! Was tust du … er ist doch Pianist“, stammelte Nora erschüttert. Hatte sie sonst nichts zu sagen?
Ich drehte mich um und verließ das Zimmer. An der Wohnungstür nahm ich meine Tasche und die Tüte mit Getränken und ging nach unten, ohne die Tür zu schließen. Wie ferngesteuert betrat ich den nahe gelegenen Park, wo Nora und ich im Sommer öfter gepicknickt hatten, und setzte mich auf die erstbeste Bank. Dass sie von nassem Schnee bedeckt war, der meine Hose komplett durchnässte, war mir in dem Moment egal. Den starren Blick geradeaus gerichtet, griff ich die Tüte und ertastete die verbliebene Flasche Rum, öffnete sie und setzte an. Wohltuend ergoss sich der Alkohol in meine Kehle. Für einen kurzen Moment des Wahnsinns musste ich grinsen: Jetzt war das Bild von mir als abgehalftertem Penner, der auf einer Parkbank dem Alkohol zuspricht, perfekt.
Schnell holte mich jedoch die Tragik meiner Situation ein. Eigentlich, so überlegte ich, war ich selbst schuld an allem: Hätte ich mich im Supermarkt nicht von einer hübschen Kassiererin ablenken lassen und wäre stattdessen mit ganzer Aufmerksamkeit und der gebotenen Sorgfalt ans Öffnen meiner Tasche gegangen, hätte sich womöglich nicht das Futter im Reißverschluss verhakt. Ich hätte meine Wohnung aufschließen können. Nora hätte ihren Seitensprung rechtzeitig vor der Hochzeit beendet und alles wäre gut geworden, ganz sicher.
Ich nahm noch ein paar große Schlucke vom Havanna Club und sah mich um: Der Park lag dunkel und verlassen da, keine Menschenseele hatte sich an diesem feuchtkalten Winterabend hierher verirrt. Plötzlich tauchte das Gesicht von Noras Liebhaber vor meinem inneren Auge auf, allerdings lächelnd und sauber. Irgendwo hatte ich ihn vorher schon einmal gesehen. Er war Pianist, hatte Nora vorhin gesagt – und natürlich, jetzt viel es mir wie Schuppen von den Augen: Vor Wochen hatte sie die Werbekampagne für die Europa-Tournee von Frédéric Bertrand vorbereitet, einem gerade sehr angesagten französischen Pianisten. Bilder von ihm lagen damals überall in ihrer Wohnung herum… Hätte ich etwas ahnen müssen?
Eine weitere Erkenntnis drängte sich in mein Bewusstsein: Wenn sich der gut dotierte Pianist bei seinem Aufprall die Hand oder gar einzelne Finger gebrochen hatte und nunmehr seine Konzerte absagen musste, dürfte es unglaublich teuer für mich werden. Ich müsste aber nicht nur mit hohen Schmerzensgeldforderungen rechnen, sondern auch ein Strafverfahren wegen Körperverletzung stünde mir ins Haus. Eine Verurteilung würde das unmittelbare Aus meiner Karriere in der Kanzlei bedeuten. Sie verdankte ihr hohes Ansehen nicht zuletzt der Integrität ihrer Anwälte.
Die verheerende Bilanz meines Handelns der letzten Stunde erschütterte mich. Unwillkürlich begannen meine Lachmuskeln zu zucken. Die Kontrolle über mein Nervensystem war mir verloren gegangen. Ich brach in lautes, hysterisches Gelächter aus.
Irgendwann beruhigte ich mich wieder. Die Rumflasche war fast leer. Mir war warm und wohlig zumute. Ich streckte mich jetzt ganz auf der Bank aus und schloss die Augen. Von der Kälte des nassen Schnees spürte ich nichts. Um mich war es dunkel, und das Rascheln der Bäume hatte eine angenehme, einschläfernde Wirkung…