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Der Regen
„Wenn du leben willst, warte auf den Regen.“
Diese Weisheit vertraute mir einmal jemand an, den ich sehr schätzte, und es klang so klug, dass ich darauf hörte. Ich wartete.
Tage, Wochen, Monate.
Doch der Regen kam nicht.
Ich saß in meinem Sessel hinter dem Fenster und sah nach draußen, ohne mich je vom Fleck zu bewegen. Nicht einmal zum Essen und Trinken stand ich auf; von Zeit zu Zeit kam meine Mutter herein, öffnete mir den Mund und schob mir ein Stück Brot hinein. Sie schimpfte ordentlich, was ich mir da wieder für einen Unsinn in den Kopf gesetzt hatte, aber das konnte mich nicht aufhalten.
Es war wohl ein Jahr vergangen, in dem ich nichts getan hatte, außer zu warten, und langsam wurde es mir langweilig. „Eines Tages muss es doch regnen“, sagte ich zu mir.
Aber ein Tag verging und darauf noch einer, und immer noch kam kein Regen.
Dann, irgenwann, wurde es mir wirklich zu viel. „Jetzt ist es aber genug“, beschloss ich, stand auf und ging nach draußen.
Man muss verstehen, dass ich noch sehr jung war, ein halbes Kind, mehr nicht, und keinerlei Geduld für solche ewigen Wartereien hatte. Auch das Stillsitzen fiel mir noch sehr schwer und der Himmel muss gelacht haben, als ich nun endlich meine Glieder strecken und aus dem Häuschen treten durfte.
Und als ich mein Gesicht in die mir so verhasste Sonne hielt, bemerkte ich, dass es ein schönes Gefühl war, wie sie mit ihren warmen Fühlern meine Haut betastete. Ich stellte fest, dass ich das goldene Licht liebte, in das sie die Welt tauchte, und ich erkannte, dass mir das Blau des wolkenlosen Himmels gefiel.
So ging ich durch die Straßen meines kleinen Städtchens und hörte plötzlich ein Geräusch, das ich noch nie in meinem Leben vernommen hatte.
Ich wollte wissen, was es denn war, das sich so frech erlaubte, meinen Spaziergang zu stören, und ich folgte dem Laut bis zu seiner Quelle.
Als ich endlich anhielt, stand ich vor einem kleinen Jungen, der auf dem Boden im Schmutz saß.
Streng fragte ich ihn, ob er denn wisse, was er da tue.
Das Geräusch versiegte und der Junge strahlte mich an. „Natürlich“, sagte er verwirrt, öffnete den Mund, und wieder ertönte das Geräusch. „Ich sitze hier und lache.“
Das Wort war mir fremd, und ich erkundigte mich, was es bedeutete.
Der Junge lachte wieder. „Du bist komisch“, stellte er fest.
Das wollte ich nun gar nicht verstehen. Eigentlich war doch er der Komische, und das sagte ich ihm auch.
Er schüttelte ernst den Kopf. „Nicht zu wissen, was lachen ist – das ist komisch.“
Wieder fragte ich, was es mit diesem Lachen denn nun auf sich hatte.
Eine Weile dachte der Junge darüber nach, wie er es mir erklären sollte, dann hellte sich sein Gesicht auf. „Lachen“, sagte er wie ein alter Schulmeister, „ist, wenn du so glücklich und fröhlich bist, wie du es nur sein kannst.“
Ich nickte nachdenklich. Das leuchtete mir ein. „Und weshalb bist du das?“
Er zeigte mir den Ort, auf dem wir uns befanden, und dieser Ort war groß und fremd und voller Kinder und Lachen. „Wegen dem Spielplatz“, erklärte er.
Ich sah mich um, und der Platz gefiel mir ganz gut. Eine Weile stand ich bloß so da, dann fiel mir etwas ein: „Ich will auch lachen.“
„Das kann ich verstehen“, sagte der Junge. Und er holte eine Wasserpistole heraus und spritzte mich nass.
Da wurde ich ärgerlich, nahm sie ihm weg und spritze damit auf ihn, bis er quietschte und rückwärts in den Sand taumelte. Ich wusste noch immer nicht, was ich dem Jungen denn getan hatte, aber so schnell schien er sich nicht geschlagen geben zu wollen. Er nahm eine Hand voll Erde und warf sie mir ins Gesicht.
Dann sah er mich so unschuldig an, dass ich plötzlich lachen musste.
Ich schüttelte mich und weinte beinahe, so sehr lachte ich, denn all das Lachen, dass sich in mir versteckt hatte, während ich auf den Regen gewartet hatte, sprudelte jetzt aus mir heraus.
Als ich endlich wieder zu Atem kam und mir den Sand aus den Kleidern klopfte, bemerkte ich, dass mein Haar vor Nässe an meiner Haut klebte.
Und ich streckte die Nase in die Luft und spürte ein Prickeln darauf wie von Gespensterfingern.
Es hatte begonnen zu regnen.