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- 23.12.2004
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Der Regen
Ich hoffe es passt in diese Rubrik ^^
Regen
Es regnet. Ich mag Regen. Ich fühle mich immer wie neugeboren. Schade ist nur, dass dann so selten Besuch vorbeikommt. Kein Vogelgezwitscher dringt an mein Ohr. Aber wenigstens beklauen sie mich dann auch nicht, die Vögel. Im Frühling reißen sie manchmal ganz Stücke aus mir heraus. Doch ich bin ihnen nicht böse, was bleibt ihnen denn anderes übrig?
Früher, als ich noch jünger war, da schimpfte ich noch mit ihnen, doch sie haben mir nie zugehört. Manchmal glaube ich, sie können mich gar nicht hören. Nun ist es mir sowieso egal, meine rebellischen Jahre sind vorüber.
Bei dem Henry, da haben sie noch nicht einmal angefangen. Er ist gerade mal 20 Jahre alt, dieser Jungspund, und trotzdem schon größer als ich. Das liegt sicher daran, dass er aus dem Ausland kommt. Er sagt, sie sind dort alle viel größer als wir hier.
Er mag den Regen auch so gerne wie ich. Wie beide reden oft miteinander, aber wenn es regnet, schweigen wir uns an. Wir wollen es beide genießen.
3.121.971, 3.122.021 und 3.122.022 kommen gerade vorbei. 3.121.971 scheint krank zu sein, sie muss von den anderen beiden geschoben werden. Ich frag mich immer noch wie diese Wesen nun wirklich heißen. Wir alle sind uns uneinig. Sie bezeichnen sich selbst mit soviel unterschiedlichen Begriffen. Manchmal sind sie Deutsche, manchmal Christen, manchmal Menschen, manchmal Asis, manchmal das Proletariat. Weil wir uns auf keinen Namen einigen konnten, benennen wir sie nach Zahlen. 3.121.971 ist schon viel früher an uns vorbeigekommen als 3.122.021 und 3.122.022. 3.121.971 wird von den anderen immer Oma genannt. Doch von anderen Zahlen wird sie auch Mutti genannt. Diese Wesen sind seltsam, sie haben so viele verschiedene Namen. Aber sie machen es mit allem so. Auch die Vögel heißen bei ihnen unterschiedlich. Wir glauben sie wollen uns damit nur verwirren.
Nachdem sie endlich an uns vorbei sind, ist es wieder still und nur das Plätschern des Regens ist zu hören. So ist es immer, während des Regens. Sein beruhigendes Geräusch kommt immer wieder. Egal wie oft er gestört wird. Er ist sehr geduldig.
Plötzlich hören wir ein unbekanntes, seltsames Geräusch. Es ist grässlich laut. Henry ist so verschreckt, dass er unser friedsames Schweigen durchbricht und mich ängstlich fragt was los ist. Ehe ich ihm antworten kann, treten 3.201.189 und 3.201.190 zu uns, mit seltsamen Kästen. Ich will Henry antworten, aber dann wird es schwarz.
Es regnet. Ich hasse den Regen. Jedes mal fühle ich mich schäbiger und gebrechlicher, wenn es regnet. 3.201.223, 3.201.224 und 3.201.225 sind immer da, wenn es regnet. Dann setzen sie sich auf mich. Es interessiert sie nicht, wie sehr meine Äste unter ihrem Gewicht ächzen.
Sie haben mich geteilt, in drei Stücke. Sie sehen alle gleich aus, und alle gar nicht nach mir. Sie kreisen den Henry ein. Vom Henry ist nur ein Stück hier. Sie nennen ihn Tisch. Sie haben einfach seinen Namen geändert.
Henry und ich können hier nicht mehr miteinander sprechen. Man hat uns auch die Möglichkeit zum atmen genommen. Das verstehe ich nicht. Meine Mama hatte mir immer gesagt, die Zahlen könnten nur atmen, solange wir atmen und andersherum.
Die Zahlen sind seltsam. Ich finde es langweilig, ich sehe nur noch immer dieselben Zahlen. Ich bin sicher schon einige Jahre hier. Ich weiß es nicht genau, da ich nicht mehr alter.
3.201.223 bemerkt gerade mein ächzen. Er spricht mit den anderen Zahlen über mich. Vielleicht wollen sie mich nun endlich netter behandeln. Sie sprechen was von neuen Möbeln. Vielleicht sind das Hilfsmittel für meine alten Äste. Während ich noch darüber nachdenke, nimmt mich 3.201.223 und trägt mich davon. Er öffnet eine Tür. Ich denke noch darüber nach, wo ich landen werde, dann wird es schwarz.
Es regnet. Ich verachte den Regen. Er versucht mir zu helfen, doch es hilft nichts. Er ist so schwach.
Ich bin nicht mehr bei den drei Zahlen. Sie nahmen mich heute mit auf ein schönes Feld. Hier standen sicher einmal viele meiner Artgenossen, doch nun war hier nur noch Gras.
Sie schmissen mich, Henry und viele andere auf einen Haufen. Es war schön andere zu treffen. Henry und ich lernten viele neue Leute kennen. Doch es ist nicht wie früher, man hat keine Freude mehr am sprechen. Vielleicht, weil wir nicht mehr leben, nur noch existieren.
Sie nahmen ein Stück von Henry und zündeten es an. Dann schmissen sie es auf uns. Nun merke ich, wie ich mich schon zu Hälfte in Asche verwandelt habe. Es tut weh.
Die Zahlen freuen sich über unser Leiden. Es sind viele von ihnen hier. Sie trinken und lachen und schauen uns ewiglich an.
Henry ist verschwunden und ich merke, wie auch mein letztes Stündlein schlägt. Der Regen versucht immer noch, gegen das Feuer anzukämpfen, doch er ist zu schwach. Ich höre das Knistern des Feuers und das Plätschern des Regens. Auch ihre Töne scheinen wie ein erbitterter Kampf. Ich sehe nichts mehr und höre, wie sich das Plätschern und Knistern vermischt. Ich frage mich noch, warum die Zahlen so etwas mit uns machen, dann wird es schwarz.