Was ist neu

Der Redselige

Mitglied
Beitritt
28.04.2003
Beiträge
13

Der Redselige

Er sass wie immer ganz still in der Ecke und träumte vor sich hin. Egal wo ich ihn traf, im Bus, auf dem Schulhof, auf der Strasse oder sonst wo. Ich kannte ihn schon seit drei Jahren und er sah mir nie direkt ins Gesicht. Meistens hafteten seine Augen auf dem Boden. Er tat niemandem etwas. Früher hat man ihn oft gehänselt, doch als er nie darauf reagierte, wurde es ihnen zu langweilig und sie hörten damit auf. Durch seine zurückhaltende und scheue Art wurde er im ganzen Schulhaus bekannt, man nannte ihn nur noch den Redseligen. Er redete nur, wenn er etwas gefragt wurde. Und auch das in möglichst kurzen Sätzen. Von uns gab sich niemand gerne mit ihm ab. Er war auch nie auf uns zugekommen und hat mit uns angefangen zu reden. So haben wir ihn mit der Zeit einfach in Ruhe gelassen.
Ich hatte heute meinen Glückstag. Als erstes bekam ich eine 6 in Mathe und dann sind sogar noch un-sere Schullektionen am Nachmittag ausgefallen. Ich hüpfte übermütig die Treppen hinunter und wäre fast mit dem Redseligen zusammengestossen. Erschrocken trat ich einen Schritt zurück und entschul-digte mich wortreich bei ihm. Er hingegen murmelte ein kurzes "schon gut". Ich wurde sauer. Schliess-lich war er an unserem beinahen Zusammenstoss genau so Schuld wie ich. Ich schrie ihn an, er sei rück-sichtslos und er hätte sich auch bei mir entschuldigen müssen. Zum ersten Mal schaute er mir ins Ge-sicht. Seine Augen sahen traurig und bemitleidend aus. Sofort tat es mir leid, was ich zu ihm gesagt habe. Doch ich war so erschrocken über seinen Gesichtsausdruck, das ich die ersten Sekunden kein Wort herausbrachte. Und dann war es zu spät um mit ihm zu sprechen, da er mit gesenktem Kopf schon um die Ecke marschierte.
Unser Zusammentreffen beschäftigte mich noch eine ganze Weile und ich fragte mich, was wohl ihn ihm vorging. Als ich am Abend deswegen nicht einschlafen konnte, nahm ich mir vor, morgen mit ihm zu reden.
Als ich am nächsten Morgen auf den Schulhof schlenderte, suchte ich ihn. Doch nirgends sah ich einen scheuen Jungen, der in der Ecke stand und auf den Boden starrte. Ebenso in der grossen Pause und am Mittag war er nirgends auffindbar. Auch als ich bei einigen Mitschülern nach ihm erkundigte, hatte ihn niemand gesehen. Langsam machte ich mir Sorgen.
Als wir nach der Mittagspause wieder angewidert in unser Schulzimmer zurück kehrten, kam unsere Klassenlehrerin bedrückt zur Tür herein. Sie bat alle um Ruhe und sagte mich belegter Stimme; " Thomas Schäfer aus eurer Parallelklasse hat sich gestern das Leben genommen. Jeder schwieg bedrückt. Einerseits waren alle geschockt, das sich jemand in unserem Alter das Leben nehmen würde und ande-rerseits wusste niemand, wer dieser Thomas Schäfer eigentlich gewesen war. Plötzlich ging mir ein Licht auf und ich stammelte: "Der Redselige!" Jetzt wurde es auch allen anderen klar, wer dieser Unbekannte war. Mir wurde ganz schlecht und mulmig. "Warum habe ich ihn gestern nur angeschrien und warum bin ich ihm gestern nicht nachgelaufen?" Ich rannte auf die Toilette. Tränen rollten über meine Bak-ken. Vielleicht,... vielleicht hätte ich ihm helfen können...

 

Hallo Zana!
Herzlich willkommen erst einmal auf kg.de!!!

Deine Geschichte hats ja ganz schön in sich. Super geschrieben und mitreissend. Als ich das mit der Sechs gelesen habe, musste ich gleich in Deinem Profil nachschauen, ob Du auch aus der Schweiz kommt. In dem Falle noch einmal: Sälü hie bi kg.de!!!
Zu bemängeln habe ich ausser dem letzten Satz nichts. Ich würde es nicht so schreiben, das eine "vielleicht" auslassen. Dann wirkte es fast mehr!

Alles Gute,
Marana

 

Hallo Marana!
Ich bin echt froh, das dir meine Geschichte gefallen hat. Ehrlich gesagt, war ich sogar etwas nervös, wie meine Geschichte wohl ankommen würde!
Ich war mir auch nicht sicher, ob ich nun die 6 oder die 1 als die beste Noten nehmen sollte...
Vielen Dank für deine Stellungnahme!

Zana

 

Die Sechs ist schon in Ordnung. Und mehr als schlechte Kritiken kannst Du hier nicht bekommen. Also,
weiterhin alles Gute!
Marana

 

Hallo Zana,

hmmm... Ich hab ein bißchen ein zwiespältiges Gefühl bei Deiner Geschichte. Einerseits ist sie ganz gut erzählt und auch ganz gut von der Handlung her. Andererseits fehlt meiner Meinung nach doch etwas die Tiefe... Ich glaube, es hätte ihr nicht geschadet, wenn sie etwas länger geworden wäre. Wenn Du diesen Thomas näher beschrieben hättest, zumindest so, wie Deine Protagonistin ihn sieht; wie sieht er aus, hat er eine besondere Art zu gehen etc.? Und wieso macht sie sich schon Sorgen um ihn, wenn er ein Tag mal nicht in der Schule war? Vielleicht wäre es besser gewesen, wenn Du ihr ein ungutes Gefühl verpaßt hättest... Sowas wie eine Vorahnung... Sorgen macht man sich ja eigentlich mehr nur um Menschen, die man kennt und liebt.

Wie auch immer; die Geschichte ist ganz in Ordnung. Es fehlt ihr meiner Meinung nach nur etwas an Tiefe.

Griasle,
stephy

 

Hallo Zana!

Gute Geschichte, wenn auch ziemlich bedrückend... Wenn mir eine Geschichte gefällt, weiß ich aber auch leider nicht, was ich noch groß dazu sagen soll ;)
Das mit der 6 hat mich zunächst irritiert, aber den Antworten hier entnehme ich, dass in der Schweiz andersrum gezählt wird? Andererseits ist man in der Oberstufe ja inzwischen an Punkte von 0-15 gewöhnt, da wäre eine 6 dann eine 4+... ähem, gutes ausreichend *schon ganz verwirrt bin*

Übrigens, da sind noch Trennstriche im Text - kg.de wird nämlich irgendwie mit der automatischen Silbentrennung nicht fertig. Der schnellste Weg, das zu beseitigen, ist, in Word die Silbentrennung auszuschalten und dann den Text hier nochmal überzuschreiben. Ansonsten kannst du die Striche aber auch einzeln raussuchen.

Mfg
xka

 

Hallo xkaxre!
Ja genau, in der Schweiz ist die 6 die beste Note, die man kriegen kann. Ihr habt ja ein ganz schön kompliziertes Notensystem. :rolleyes:
Danke für den Tip mit der Silbentrennung!

Sonnige Grüsse aus der Schweiz!
Zana

 

Hallo Stephy!
Ich glaube das ist allgemein mein Problem, wenn ich eine Geschichte schreibe, dass ich zuwenig in die Tiefe gehe. :bonk:
Vielen Dank für die Tipps!

Zana

 

Hallo Zana,

Ich finde die Geschichte gut. Sie ist ganz klein und kurzweilig, und hat dazu noch eine diskrete Moral.
Für mich sagt sie aus, dass die "Redseligkeit" schon einen Grund hat, in den meisten Fällen eine tiefe Unzufriedenheit mit dem sozialen Umfeld. Oder vielleicht mit der Gesellschaft an sich. Dass irgendwann der Letzte Tropfen fällt, ist die quasi zwingende Konsequenz dieser Umstände.
Ich konnte mich dabei sehr gut mit dem Redseligen identifizieren, obwohl weniger deswegen, weil Du besonders viel *hüstel* Informationen zu ihm gegeben hast, sondern weil ich auch eher dem Milieu der Schweigsamen angehöre (teils unfreiwillig).

Es gibt in meinen Augen aber zwei Sorten von Mutisten: Den einen ist das Sprechen unter äußeren Einflüssen verdorben worden, etwa durch Diskrimination oder Hänselei. Die anderen haben freiwillig die kommunikative Verbindung ihrer inneren Welt mit der äußeren Welt gekappt. Freilich gibt es da noch ein stufenloses Irgendwo-Dazwischen.

Einen kleinen Hinweis auf die Gedankenwelt des "Redseligen" würde der Geschichte ganz gut tun, damit der Leser beim Verständnis der Geschichte nicht ganz so im Dunkeln tappt.

Gern gelesen,
FLoH.

 

hallo!
da hast du eine sehr gelungene geschichte geschrieben, herzlichen glückwunsch! das einzige was mich etwas irritiert hat war, dass auch in den parallelklassen ausdrücklich mitgeteilt wird, was passiert ist... aber ich habe da auch keine erfahrung, wie so was geht!
danke für die kurzweilige mittagspause, die du mir mit deiner geschichte beschert hast!
mfg onida

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom