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Der Radfahrer
Der Radfahrer
Er kam aus einem Landstrich, dessen Berge so zahlreich waren wie die Pickel der Akne auf seinem Rücken, als er von dort fort ging. Was ist das nur für ein Flachland! Dort kannst du ja schon montags den Besuch sehen, der sonntags ankommen wird. Das war die einhellige Meinung seiner Heimat über die Gegend, in der er seinen Beruf lernen sollte. Man kannte das Fremde nicht und misstraute allem Unbekannten. Sie ließen ihn nur gehen, weil im Bergland keine Aussicht bestand, dass eine heimische Firma groß genug für seinen vielversprechenden Intellekt sein könnte.
Als seine neue Wohnung in der großen Stadt eingerichtet war, weinten sie noch ein wenig, dann fuhren sie und ließen ihn allein. Er kannte niemanden dort und niemand kannte ihn.
Der Eingang zu einer Häuserschlucht barg seine Unterkunft. Der Blick aus dem Fenster im ersten Stock fiel auf ein brach liegendes Grundstück, dahinter der Anfang eines Industriegebietes, davor Müllcontainer: grüner Punkt, Papier und Glas in weiß und bunt. Der Fuß des Baumes daneben war eingezwängt in eine Manschette aus Beton. Wie würde es ihm in dieser Enge ergehen, wenn er weiter wächst, seine Wurzeln tiefer führen will und sein Stamm Ring für Ring dicker werden muss? Die Kinder, die in der Straße aufwuchsen, interessierten sich nicht für diesen Kampf des Baumes. Er war zu schnell zu hoch gewachsen, deswegen hatte er keine Zeit gehabt, sich früh zu verzweigen und so kam er nicht als Kletterbaum für sie in Frage. Wenn sie dieses Wort überhaupt kannten. Das Wort Klettercontainer gab es jedenfalls nicht und doch stiegen sie auf den Müllbehältern herum. Ein besonders kecker Junge bewies den anderen seinen Mut und seine Geschicklichkeit, indem er in der Papierhöhle verschwand. Dunkel musste es dort drinnen sein, nur ein Strahl des Lichts mochte wohl hereinfallen, wenn die Klappe es vorbeiließ.
Lichtstrahlen fallen auch durch dichtes Werk der Zweige hoher Wälder in den Bergen, wo er als Kind mit Freunden Höhlen baute, sie betrat, die Augen schloss und träumte von der Ferne und dem Wind, der sanft die Felder streift, den Duft des Korns aufnehmend, diesen mitbringt, ihn hineinträgt in den Wald, die Höhle, seine Nase. Er atmet ein. Er atmet den Wind ein, der kühl in seinen Kopf hinaufzieht und ihm sagt, dass er zu Hause ist. Alles liegt in diesem Wind. Der Sommer mit Mutters Pflaumenkuchen und Vaters rauchendem Grill, die Gitarrenklänge des Nachbarn zum Lachen seines Bruders und seiner Freunde. Gleichzeitig liegt in diesem Wind der Duft des Winters, der Schnee ankündigt, der herumgewirbelt werden will, wenn er schweigend niedersinkt und die Ohren wie mit Watte betäubt. Stehen bleiben, flüstert er, staunen!
Er nimmt sein Fahrrad aus dem Kellerverschlag, schleppt es die Treppen hoch an der vor Werbung überquellenden Briefkastenwand vorbei, zwängt es durch die Tür und radelt los. Doch alles bremst. Es stehen Autos im Weg, wo nur Räder fahren sollten. Ein Hund an langer Leine steht weit weg von seinem Frauchen und pinkelt an die Hausecke. Eine Menschenmasse quält sich die Treppe der U-Bahn herauf. Ein Mann sieht desorientiert aus, muss erst nach dem Weg sehen, geht derweil unbeirrt in die eine Richtung, besinnt sich und dreht dann um. Ein Gullydeckel steht offen, daneben hält das Fahrzeug der Kanalreiniger, das die anderen Autos hinter sich staut, sie müssen sich plötzlich mit einer Spur begnügen. Heißer Gestank bildet eine Wolke zum Übelwerden. Doch die nächste Ampel zeigt rot und der Weg heraus aus dem Beton ist noch weit.
Er radelt den großen Fluss entlang, doch sein Fahrrad passt nicht mehr. Es ist gewöhnt an das steile Rauf und Runter, den Wechsel zwischen kräftigem Tritt in kleinen Gängen und dem Ausruhen bergab. Es ist nicht mehr der Weg selbst, der anstrengend ist, sondern der Wind, der ihm stetig ins Gesicht bläst, als ob er ihn zurück treiben wollte. Ihm wird klar, dass er sich ein neues Fahrrad kaufen wird. Er wird lernen, seine Fahrweise zu ändern. Vieles ist nun möglich, er kann weit sehen, sich selbst für einen Weg entscheiden. Und irgendwann wird er mit einer Fähre sogar den Strom überqueren. Doch noch will er an diesem Ufer weiter. Sehen, ob die neue Anonymität wirklich Einsamkeit bedeutet. Leben.
Nein, er ist nicht allein. Der Wind, der ihn an seine Wurzeln erinnert, ist in ihm. Heimatwind.