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Der Rabenmann
Julia hörte, wie die Tür aufgeschlossen wurde. ‚Jetzt geht’s wieder los`, dachte sie. Ein tiefer Atemzug durch die Nase, dann hörte sie im Flur schon das altbekannte Schnaufen und Grunzen, gefolgt von einem Geräusch, als würde ein großer nasser Sack auf einen noch größeren und ebenso nassen Sack fallen. Der Fernseher erwachte plärrend zum Leben. Der Herr des Hauses war daheim und thronte nun auf der Couch.
„Julia-Baby, bringst du mir ein Bier?“
Ein zweiter Atemzug durch die Nase, der dieses Mal mit etwas mehr Nachdruck ausgestoßen wurde. Julia manövrierte durch die enge Küche und fluchte leise, als sie mit einem Ausfallschritt über einen gelben Sack stieg, den sie schon vor Tagen entsorgen wollte. Hin zum Kühlschrank, wo sie neben einer pelzigen Gurke fein säuberlich gestapeltes Dosenbier fand, immerhin da legte Mark großen Wert auf Ordnung. Sie schnappte sich ein Bier und lief ins Wohnzimmer.
„Hey Süße“, grüßte Mark. Julia wich geschickt seinem Versuch, sie zu küssen, aus und drückte ihm das Bier in die wurstige Hand. Vorwurfsvoll schaute sie ihren Ehemann an, der ihren Blick träge erwiderte. Endlich platzte sie heraus: „Willst du ihm nicht mal ‚Hallo‘ sagen?“
Mark sah zu ihrem Sohn Lasse hinüber, der am anderen Ende des Zimmers auf dem Boden saß und mit einer Nintendo Switch spielte. Er lehnte sich ein wenig zurück, bevor er antwortete: „Nee der bekommt doch eh nix mit.“ Dann ließ er seinen Blick ein wenig weiter schweifen. „Sag` mal, was machst du eigentlich den ganzen Tag? Hier sieht`s aus wie bei Hempels unterm Sofa.“
Julia spürte, wie sich in ihrem Bauch Hitze sammelte, die sie kaum durch aggressives Nasenatmen loswerden würde.
„Du könntest ja auch deinen Arsch hochkriegen und mir helfen!“, schnappte sie.
„So sehe ich aus, erst soll ich den ganzen Tag schuften und dann dir helfen, hier mal ein bisschen zu putzen.“
‚Dieser elendige Sack‘. Julia spürte wie sich ihre Hände zu Fäusten ballten, ehe sie sich anders besann. Nicht hier, nicht vor dem Kind.
Wütend stampfte sie in Richtung Küche - nur weg von Mark. Manchmal kam es ihr so vor, als hätte sie zwei Kinder. Aus dem Wohnzimmer erklang ein kehliger Rülpser.
Nein, sie hatte ein Kind und ein Hausschwein.
Wieder sah sie den gelben Sack und wieder wollte sie mit einem großen Schritt über ihn rüber steigen. Doch dann hielt sie inne und gab dem blöden Plastikbeutel einen ordentlichen Tritt. Knisternd und klirrend verteilte sich der Inhalt auf dem Küchenboden. Doch noch bevor das letzte Geräusch verstummte, wurde es schlagartig dunkel. Mit dem Sterben der Elektronik trat eine bedrohliche Stille ein.
Mark blaffte aus dem Wohnzimmer: „Was zur Hölle hast du gemacht?“
Julia ignorierte den Vorwurf, lief vorbei an ihrem Mann, der ratlos den Lichtschalter drückte, und hin zu Lasse. Der Kleine schaute irritiert im dunklen Zimmer umher. „Spiel einfach weiter“, flüsterte sie ihm zu und küsste seine Stirn. Mit einem statischen Knacken sprang der Fernseher wieder an und tauchte das Zimmer in blaues Licht.
„Was ist denn jetzt los?“, wunderte sich Mark und testete nochmal den Lichtschalter. „Immer noch tot, muss wohl irgendwas mit der Birne sein“, verkündete er.
Doch Julia hörte ihm gar nicht zu, sie lauschte dem Rauschen des Fernsehers – und noch etwas anderem. Etwas, das völlig deplatziert war. Ein Zwitschern und Schnarren, das sie ein wenig an ihre Wellensittiche erinnerte.
„Hörst du das auch?“, fragte sie. Wie zur Antwort ertönte draußen auf dem Flur ein dumpfes Poltern, als wäre etwas sehr Schweres umgefallen, gefolgt von einem tiefen durchdringenden Krächzen.
Julia spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Sie vernahm das Trillern ganz deutlich hinter der Wand. Und dann war da ein Pfeifen und Krähen und etwas, das sich wie schlagende Flügel anhörte. Julia lugte vorsichtig um den Türrahmen in den Flur. Die Geräusche schienen nun direkt von der anderen Seite der Wohnungstür her zu kommen. Julia wollte sich die Ohren zu halten, doch da verstummte das, was draußen auf dem Gang war. Sie starrte mit großen Augen den Flur hinunter. Dann erschütterten drei schwere Schläge die Tür. Bei jedem einzelnen Schlag verspannte sich Julias Nackenmuskulatur ein bisschen mehr.
„Es hat geklopft“, sagte Mark mit monotoner Stimme.
Hilflos beobachtete Julia, wie sich ihr Mann steif wie eine Puppe in Bewegung setzte, an ihr vorbei zur Tür wankte und sie öffnete.
Julia bedeckte ihren Mund, als sie erblickte, was vor der Tür stand. Das Wesen war riesig, so groß, dass alles, was sie sah, ein gewaltiger schwarzer Mantel und ein gebogener Schnabel war, der von oben durch den Türrahmen ragte.
Das Monster gab klickende Geräusche und Krächzer in unterschiedlichen Tonlagen von sich, bevor es mit einer angenehmen und erstaunlich menschlichen Stimme fragte: „Darf ich eintreten?“
Dem letzten Wort folgte ein unnatürliches Schnarren.
Julia war überrascht, dass sie bei dieser Frage mehr empfand als Furcht. Sie spürte dieselbe Hitze wie vorhin, sie war wütend und sie wollte nicht, dass dieses Ding, dieser böse Geist ihre Wohnung betrat. Am liebsten hätte sie geschrien: ‚Hau ab, du Monster, geh zurück in den Abgrund, aus dem du kommst‘.
Aber es war nicht ihre Stimme, die als nächstes ertönte, sondern Marks. Er starrte das Ungetüm mit weit aufgerissenen Augen an und bat es herein.
Julia wollte ihren Ohren nicht trauen, dann ertönte aus der Tür ein zustimmendes Flöten als der unheimliche Gast eintrat. Sie hätte nicht erwartet, dass etwas von solcher Größe Platz im Hausflur finden würde, ohne alles umzuwerfen und sämtliche Bilder von der Wand zu reißen.
Doch das Wesen bewegte sich erstaunlich vorsichtig und geschickt und fand so gerade genug Raum für sich. Im flackernden Schein des Fernsehers konnte Julia erkennen, was da vor Mark aufragte. Es war ein gewaltiges, vogelartiges Wesen, ein Rabenmann. Was sie im ersten Augenblick für einen Mantel gehalten hatte, waren massive schwarze Schwingen, die eng um den Körper geschlungen waren.
Obendrauf saß ein fast menschlich anmutender Kopf mit kohleschwarzen Augen, die kein Licht reflektierten. Statt der Nase ragte aus der Mitte des Gesichts der fürchterliche Schnabel, der fast bis zur Körpermitte reichte. Vor sich hatte das Ungeheuer einen riesigen schwarzen Sack in den Flur gestellt.
Julia hatte das Gefühl, als ob kalte, nasse Hände über ihre Schultern strichen.
Für einen Moment schien der Rabenmann alles zu mustern, den Flur, Julia, Mark und Lasse, der jetzt hinter Julia stand und verängstigt an ihrer Hüfte vorbei das Ungeheuer anstarrte.
Dieses gab ein Gackern von sich, hob einen Flügel und mit einem fleischigen Geräusch fiel etwas auf den Boden. Julia spürte, wie sich ihr der Magen umdrehte. Dort auf dem Teppich lag eine schwarze Hand, die sich am Ende eines Arms befand, der unter dem Flügel hervorkam. Die Finger streckten sich und tasteten auf dem Teppichboden umher. Ein dumpfes, knackendes Geräusch, als würde jemand ein Gelenk auskugeln, erklang und der Arm begann sich zu strecken. Wie eine Schlange kroch er über den Fußboden.
Julia hielt den Atem an, als er sich an ihr vorbei bewegte und in der Küche verschwand. Sie hörte das Patschen der Hand auf den Fliesen, dann Knistern und Scheppern. Ein Ruck lief durch den Arm und er zerrte etwas aus der Küche. Julia erkannte aus dem Augenwinkel den gelben Sack, der quer durch den Flur zu dem Rabenmann gezogen wurde. Das gefiederte Ungetüm hielt den Müllbeutel für einen Moment in die Höhe, bevor es ihn in seinem Sack verschwinden ließ.
Was als nächstes geschah, kam Julia wie ein entsetzlicher Fiebertraum vor.
Aus dem Schnabel erklang ein raspelndes Krähen, dann schüttelte sich der Rabenmann. Er spreizte die Flügel und unzählige weitere Arme kamen zum Vorschein. Wie ein schwarzgefiederter Wirbelwind raste das Monster durch die Wohnung. Julia spürte Federn und Hände, die mit wahnsinniger Geschwindigkeit an ihr vorbeisausten. Der Lärm war unerträglich, sie hörte Kreischen, Pfeifen und Krähen, alles gleichzeitig, dazu das Rascheln von was Millionen an Federn sein mussten und das Rumpeln all der Dinge, die in dem schwarzen Sack verschwanden.
Dann war der Spuk auch schon vorbei. Nach nicht einmal zwei Minuten stand der Rabenmann wieder an seinem ursprünglichen Platz und die Wohnung war sauber, sauberer als sie es jemals gewesen war.
Die fürchterlichen Hände verschwanden wieder unter dem Federkleid, alle bis auf eine, die wie eine Art Fangarm vor ihrem Besitzer verharrte.
Die Kohleaugen musterten Julia und Mark. Das Ungetüm wiegte den Kopf und stieß hin und wieder einen Pfiff aus. Dann fixierte es Julia und die schwarze Hand bewegte sich in ihre Richtung. Am liebsten wäre sie schreiend davongerannt, doch irgendein Teil in ihr, ein Instinkt vielleicht, zwang sie dazu, stillzuhalten.
Leise raschelten die Federn, während der Arm näherkam, dann hatte er sie erreicht. Julia spürte, wie die Hand begann, ihre Füße zu betasten, dann zu ihren Waden hochglitt, dort tastete und einmal schmerzhaft zudrückte.
Als nächstes bewegte sich die fürchterliche Gliedmaße über ihre Beine zu ihrem Bauch, fühlte dort und kniff ihr einmal in die Seite. Julia war sich sicher, dass sie jeden Augenblick anfangen würde, hysterisch zu schreien, während die Hand ihre Brüste betastete. Doch sie biss sich auf die Lippen und schloss die Augen. Dann spürte sie das Tasten auf ihrem Hals und Gesicht.
Zum ersten Mal fühlte Julia die Hand auf ihrer Haut. Sie war kalt und ledrig. Dann blitzte die Erkenntnis auf . Der Rabenmann spürte sie und sie den Rabenmann. Das Innerste von beiden war offenbart. Julia hatte das Gefühl, ihr Kopf sei mit Federn gefüllt.
Doch sie war nicht, wonach der Gefiederte suchte und die Hand ließ von ihr ab. Der Rabenmann klapperte frustriert mit dem Schnabel. Dann kroch der Arm auf Mark zu. Mit einem Mal wurde Julia sehr kalt. In ihrem Bauch wuchs die Furcht wie eine üble Frucht heran, brach auf und Entsetzen sickerte heraus, das ihren ganzen Körper in lähmte. Julia wusste, wonach der Rabenmann suchte und sie wusste was er tun würde, wenn er es fand.
Wieder wanderte die Hand von unten und betastete Marks Füße. Doch irgendetwas war anders als bei Julia. Der Kopf des Rabenmannes bewegte sich ruckartig und er stieß ein schnarrendes Geräusch aus. Ein weiterer Arm kam unter dem Federkleid hervor und rutschte auf Mark zu. Nun betasteten ihn zwei der grässlichen Hände und glitten langsam nach Oben. Die Bewegungen wurden schneller und fordernder, gefolgt von ekstatischem Gezwitscher und Krähen.
Weitere Hände kamen dazu, zwei begannen Marks Arm zu greifen, ihn zu biegen. Mit einem fürchterlichen Knirschen, wie ein trockener Ast, brach der Arm. Mark, der bisher wie hypnotisiert dagestanden hatte, schrie auf. Eine weitere Hand schoss hervor und verschwand in seinem Mund.
Julia fiel auf die Knie und schlug die Hände vor ihr Gesicht. Immer wieder hörte sich das Knacken von Knochen und das fleischige Geräusch ausgekugelter Gelenke, gefolgt von Marks erstickten gurgelnden Schreien und dann war es ruhig. Durch einen Schleier aus Tränen sah Julia, wie Marks merkwürdig zusammengefalteter Körper durch den Flur geschleift wurde, wie er hoch in die Luft gehoben wurde und schließlich im schwarzen Sack verschwand.
„Bist du jetzt endlich fertig?“ schrie Julia den Rabenmann an, ihre Stimme heiser und erstickt. Doch der Gefiederte beachtete sie gar nicht. Er blickte an ihr vorbei und streckte wieder seine Arme aus.
Sämtliche Kraft verließ Julia und alles begann sich zu drehen. ‚Lasse!‘ schoss es ihr durch den Kopf.
„Das darfst du nicht!“ brüllte sie, aber die Hände schlängelten sich unaufhaltsam weiter auf den Jungen zu.
Julia traute sich nicht, ihren Sohn anzublicken, stattdessen beobachte sie den Rabenmann und wartete auf eine Reaktion.
Die kohleschwarzen Augen, der Schnabel, das Federkleid alles blieb ruhig, nicht einen Ton gab das Ungetüm von sich. ‚Das ist gut‘, dachte Julia.
Ihr Herz hämmerte wie wild, doch als mit einem Mal ein mächtiges Kreischen den Raum erschütterte, setze es einen Schlag aus. Weitere Hände schossen unter dem Federkleid hervor. Das Monster würde sich den Jungen holen und sie konnte nichts dagegen tun.
Julias Muskeln erschlafften und sie fiel zu Boden. Gedanken an die grässlichen Geräusche, wenn der Rabenmann ihren Sohn zusammenfalten würde, vernebelten all ihre Sinne. Sie würde alles verlieren, der Rabenmann würde alles nehmen.
Julia vernahm ein würgendes Geräusch, so, als ob jemand etwas Verdorbenes auskotzen würde. Sie spürte Adrenalin durch ihren Körper fluten und die lähmende Trance war verschwunden. Vorsichtig hob sie ihren Blick und sah wie die Arme des Rabenmannes wieder unter seinem Federkleid verschwanden, ohne Lasse.
Sie drehte den Kopf und sah ihren Jungen am anderen Ende des Wohnzimmers sitzen. Ihr Körper schien wieder leichter zu werden und sie schaffte es sich aufzurichten. Kohleschwarze Augen fixierten sie, doch Julia hielt dem Blick stand.
„Es ist vollbracht“, verkündete der Rabenmann mit einem leichten Pfeifen in der Stimme. Julia nickte, sie wusste, was zu tun war. Steifbeinig wankte sie in die Küche, öffnete einen Schrank und holte einen angelaufenen Silberteller heraus, den sie von ihrer Mutter damals zur Hochzeit geschenkt bekommen hatte. Wieder im Flur ging sie zu dem schwarzen Sack, der vor dem Ungetüm stand.
„Hiermit entlohne ich dich für deine Dienste“, sagte sie mit belegter Stimme und warf den Teller in den offenen Sack.
Der Rabenmann gab ein Krähen von sich und ein fürchterlicher Wind erhob sich. Mächtige Schwingen schlugen und als Julia ihre Augen wieder öffnete, war der Rabenmann verschwunden. Eine einzelne schwarze Feder sank langsam zu Boden und zum ersten Mal seit Jahren fühlte Julia sich erleichtert.
Deshalb musst du immer dein Zimmer aufräumen, sonst kommt der Rabenmann.