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Der Puppenspieler
Zweiundzwanzigster September, der Herbst hatte begonnen. Josef Hartkorn sah aus dem Fenster. Er hatte schon viele Herbste erlebt, gute und schlechte, ungewöhnlich warme und bitter kalte. Doch dieser war beunruhigender als alle zuvor. Der Nebel kroch langsam durch die Straßen und verschlang alles auf seinem Weg. Die dunkel gefärbten Bäume und Büsche schauten aus ihm heraus, wie im Meer zurückgelassene Schiffsbrüchige, die vergebens auf Rettung warteten. Wie verfaultes Fleisch hingen die Blätter von ihren Skeletten herunter. Monströse Schatten liefen von Ihnen durch den Nebel, lange Krallen schoben sich durch die kalte Decke und schienen alles auf dem Weg mitreißen zu wollen.
Er konnte den Anblick nicht mehr ertragen und schloss das Fenster. „Was für eine unheilvolle Zeit.“ murmelte er in seinen Bart. Er ging in den Keller und holte Holz, um seinen Ofen anzufeuern. Als er zurückkam, stellte er sich an die Fensterseite in seiner Werkstatt, direkt neben die lange Werkbank. Nachdem das Feuer endlich brannte, setzte er sich in seinen Schaukelstuhl. Quietschende Geräusche entlockten die Bewegungen dem alten Holz, wie sie es jeden Tag taten. Hartkorn stopfte sich eine Pfeife und sog genüsslich den Rauch in sich hinein. Von seinem Stuhl aus konnte er auf all seine Puppen schauen.
Sie waren in Reihen aufgehängt, sortiert nach Geschlecht und Verkleidung. Es gab Prinzessinnen, Mädchen in Trachten, Mädchen in Kleidern, Frauen mit Schürzen, Rotkäppchen, Schulkinder, Kasperle, Ritter, Holzfäller, Könige und Verkäufer. Ein wenig traurig schaute er einer vergangenen Zeit hinterher. Einer der letzten Puppenmacher war er, ja, einer der letzten. Hunderte Puppen hatte er gebaut, vielleicht waren es über die vielen Jahre auch tausende gewesen. In Zeiten des Fernsehen und Internets war dies eine Berufung, kein erfolgversprechender Beruf. Er konnte sich noch an die siebziger Jahre erinnern, da hatte er zwei Lehrlinge, aber die hatten sich dann auch anderen Berufen zugewandt. Der eine wurde ein selbständiger Schreiner, der andere machte etwas mit Computern, genau wusste er es aber nicht mehr. Heute lief der Verkauf von Puppen sehr schlecht und seine Theatervorstellungen ebbten immer mehr ab und so hatte er schon über drei Jahre keine mehr gegeben. Seine kleine Rente reichte für ein Leben ohne Luxus. Wirklich fehlte ihm aber der Kontakt zu Menschen, die Bewunderung der Kinder. Er konnte ihr Lachen noch immer hören.
Freunde hatte er keine. Wer will schon einen Puppenspieler zum Freund? Er hatte es in ihren Augen gesehen. Blicke der Verachtung, manchmal auch mit Angst gepaart. Ein Mann in seinem Alter, der mit Puppen spielt, musste verrückt sein! Man sollte keinen Kontakt zu ihm halten!
Hans Erdmann war ein klein gewachsener Mann, der einen Bauch, wie ein prall gefüllter Sack Mehl, vor sich hertrug. Er sah die letzten Jahre nicht besonders fit aus. Seine Knie ächzten unter der Last seines Körpers, aber er fraß trotzdem alles in sich hinein. Er hätte wohl ein halbes Schwein geschafft, hätte es ihm nur jemand angeboten. Jetzt war er tot. Früher besuchte er Hartkorn ab und zu in seiner Werkstatt. Er mochte die Puppen nicht, er hatte sie niemals angefasst. Seine Worte schallten noch immer in Hartkorns Ohren „Tote Mistdinger sind es, schmeiß sie lieber weg und miete Dir einen Schrebergarten, wie ich. Die Lebenden gehören zu den Lebenden und die Toten zu den Toten!“ Vorletzten Winter fand ihn seine Tochter im Garten, kalt, bleich und starr. Mit einer verzerrten Fratze im Gesicht und dem Bauch nach oben, wie ein riesiger Maulwurfshügel kurz vor dem Durchbruch, lag er vor seiner Hütte. Seine Tochter schrie und weinte, als sie ihn dort fand. Sie hatte auch Monate danach noch das Bild im Kopf. „Herzanfall und dann erfroren.“ sagte der Arzt sachlich. Erdmann hatte schon Jahre zuvor bei einem gemeinsamen Besuch der Kneipe in der Bergstraße zu ihm gesagt: „Wenn Du wieder Geld verdienen willst, dann bau Dir eine Bauchrednerpuppe. Im Fernsehen gibt es viele davon zu sehen, das ist wieder modern, die Leute mögen es.“ Dann hatte er einen großen Schluck Bier in seine Kehle geschüttet. Josef hatte lange über seine Worte nachgedacht, aber weiter seine Puppen mit Fäden gebaut. Doch heute stand ein riesiger Artikel über einen solchen Puppenspieler in der Zeitung. Hallen mit tausenden von Zuschauern füllte er. Genau das wollte Hartkorn auch, endlich wieder Anerkennung. Dieser Gedanken brannte jetzt in seinem Hirn, wie ein Buschfeuer das hunderte Feuerwehrmänner und Löschhubschrauber nicht im Zaum halten konnten. Fasst schmerzhaft trieb er sich durch seinen Kopf. Die Schläfen schienen sich wie Hammerschläge in seinen Kopf zu rammen. Seine Gedanken formten sich zu einem geradlinigen Strahl. Herr Berger oder einfach nur Berger, so würde er sie nennen. Nichts als sein Meisterwerk würde sie werden. Er erhob sich aus seinem Schaukelstuhl. Plötzlich wehte ein eiskalter Windzug durch den Raum. Die angelehnte Tür schlug mit einem Knall zu. Die hängenden Puppen klapperten. Ihre leblosen Schatten tanzten über den Boden und bildeten verzerrte Bilder. Das Feuer im Ofen flackerte für einen Moment stark auf. Aus den Werkzeugen, die in einer Reihe aufrecht auf der der Werkbank standen, kamen dunkle schwarze Zähne, die sich zu einem schnappenden Gebiss formten, als kämen sie aus einer Welt, um sich hier zu holen, was sie dort nicht bekamen. Hartkorn lief es kalt den Rücken herunter. Er wollte es sich noch einmal überlegen, aber der Gedanke war schon zu tief in ihn eingedrungen. Er hatte sich komplett in jede Zelle gefressen. Es gab kein Zurück mehr. Er musste diese Puppe bauen. Sein erster Weg führte ihn in den Keller, dort war das Holz für das Skelett. Er durchwühlte die Stapel und nahm drei Scheite heraus. Als er wieder in die Werkstatt eintrat, umgab ihn Kälte. Er wunderte sich, denn der Ofen flackerte und trotzdem erschien ihm der Keller viel wärmer, viel menschlicher. Er setzte sich auf seinen Schemel und spannte ein Holzscheit in seine handbetriebene Drechselmaschine ein. Er hätte sich eine elektrische kaufen können, aber Perfektion bedarf Handarbeit, pflegte er sein Leben lang zu sagen. Das Holzscheit begann sich zu drehen und der Meißel schälte sich unaufhaltsam in das Holz hinein. Schweiß lief von seiner Stirn, über seinen ganzen Körper. Es ging viel schwerer als sonst. Hart wie Stein kam ihm das Holz vor. Sein Handgelenk schmerzte von der Kurbel. Tausend Nadeln stachen in seine Gelenke. Er war total ausgezehrt. „Feierabend!“. Er stand auf betrachtete das Holz und legte es zur Seite. Nachdem er das Werkzeug an seinen Platz zurückgestellt hatte, löschte er das Feuer im Ofen, ging zur Tür und schaltete das Licht aus. Noch während er den Türgriff drehte, hörte er ein leises „Nein“ aus der Dunkelheit. Er drehte sich um, drückte noch einmal auf den Lichtschalter. „Hallo, ist da wer?“ Keine Reaktion, alles totenstill, die Puppen hingen wie kleine bewegungslose Leichen aufgereiht in einem Massengrab, ihre Schatten leblos. Es war Zeit schlafen zu gehen. Alles nur Phantasie! Er hörte schon die Flöhe husten. Diese Nacht wälzte er sich von einer Seite zur anderen. Hartkorn verfolgte ein sonderbarer Traum.
Seine Puppen führten ein Spiel auf und er war der Zuschauer. Sie tanzten im Kreis und gaben krächzende Laute von sich. Ihr Tanz wurde immer schneller. Aber es waren nicht seine Puppen. Mit Ekel stellte er fest, dass sie nicht aus Holz waren. Ihr Skelett hatte echte Knochen und es waren keine Fäden, sondern Sehnen an denen die Knochen hingen. Blut rann von ihren Gesichtern. Sie bewegten sich auf ihn zu und aus dem Krächzen war das Wort „Aufhören“ zu entnehmen. Die Bilder zerflossen zu einem Brei und er schreckte aus seinem Traum auf. Sein Herz raste und sein Blut drückte sich fest gegen die Wände seiner Adern. Sie hätten zerbersten können, aber sie taten es nicht. Langsam fasste er sich wieder. Ein Tee würde ihm jetzt gut tun. Er ging in die Küche und setzte Wasser auf. Seine Gedanken drehten sich weiter um den Sinn des Traums. Was hatte das Wort „Aufhören“ zu bedeuten? Hatte es überhaupt etwas zu bedeuten? Hatte er vielleicht Fieber? Er konnte sich keinen Reim darauf machen. Das Pfeifen des Kessels holte ihn aus seinen Gedanken zurück. Er öffnete seinen Schrank und griff nach dem Tee, eine Auswahl verschiedener Mischungen stand dort in einer Reihe. Rheubuschtee hatte jetzt wohl die richtige Wirkung. Er wickelte das Papier ab, ließ das kleine Beutelchen in die Tasse gleiten und übergoss es mit heißem Wasser. Der Dampf legte sich für einen Moment wie eine zweite Haut über sein Gesicht. Auf dem Weg nach oben blieb er stehen. Ein Lichtschein drang durch den Spalt unter der Werkstatttür. Er bewegte sich nicht. Stille. Es war so leise um ihn herum, dass er nur sein Herz schlagen hörte. Poch. Poch. Poch. Er öffnete die Tür. Das war unmöglich! Der Ofen flackerte vor sich hin und tränkte den Raum in ein Spiel von Licht und Schatten. Schritt für Schritt eroberte Hartkorn den Raum. Er war hier und nur er. Er schaute auf die Werkbank zu dem bearbeiteten Holz und wurde in seinen Bann gezogen, als ob sich eine Hand aus Knochen nach ihm ausstrecken würde und ihn unaufhaltsam zu sich ziehen wollte. Er wendete den Blick ab und ging zum Ofen. „37 Jahre habe ich den Ofen schon und 37 Jahre war der Ofen aus, wenn ich ihn ausgemacht habe. Alles Hirngespinste, ich muss morgen mal wieder an die frische Luft.“ Zum zweiten Mal löschte er heute das Feuer und ging ins Bett. Den Rest der Nacht schlief er durch. Am Morgen erwachte er, noch etwas gerädert von der Nacht, aber mit dem Vorsatz einen Spaziergang vor dem Frühstück zu machen. Er öffnete die Tür, nachdem er sich seinen Mantel und die festen Schuhe angezogen hatte. Ein kühler Wind blies ihm entgegen. Er drehte sich um und Griff nach Schal und Handschuhen. Im Alter war es keine gute Idee, sich mit der falschen Kleidung nach draußen zu wagen. Die Knochen und Gelenke würden es noch am selben Tag mit höllischen Schmerzen zurückzahlen. Früher hätte ihm das nichts ausgemacht, aber die Zeiten änderten sich. Ein richtiger Herbst lag vor ihm, der Nebel wurde von Tag zu Tag undurchdringlicher. Er saugte das Licht in sich hinein und gab es nicht wieder frei. Der Wind trieb sich durch die Bäume und entlockte ihnen Seufzen und Stöhnen und trug es weiter, wie eine Karawane voll Leid. Der Regen hatte den Boden aufgeweicht. Matsch, Blätter und zerquetschte Schnecken bildeten einen Teppich unter seinen Füßen. Die Geschäfte in der Marktstraße waren leblos, wie die Gräber eines Friedhofs, die in ihrem Inneren die Dunkelheit vergangener Tage aufbewahren. Am Ende der Straße leuchtete die Bäckerei, eine Kapelle, die all jenen Erlösung bietet, die früh genug aufstehen und dort einkehren. Er trat ein und schaute sich die Auslage an. „Drei Brötchen bitte, Frau Maier.“ Er erschauderte, ihr Gesicht sah bleich und fahl, fast leblos aus. Krämpfe machten sich bei ihrem Anblick in seinem Magen breit. „Ach, Herr Hartkorn, sie waren ja schon lange nicht mehr hier.“ „Das Wetter, Frau Maier, sie wissen ja.“ Er nahm die Brötchen entgegen, zahlte und verließ den Laden, ohne sich auf ein weiteres Gespräch einzulassen. Er musste hier weg. Auf dem Weg die Weinstraße hinunter, lief eine Joggerin an ihm vorbei. Ihr Hund kläffte ihn an. „Aus Leon. Aus.“ Und so schnell, wie sie gekommen war, war sie auch wieder weg. Keine Post im Briefkasten, nur die wöchentliche Werbung und die Tageszeitung. Er klemmte sie sich unter den Arm und ging zur Tür, streifte die Schuhe über die Matte und trat in sein Haus. Kälte strömte ihm entgegen, er musste den Ofen anmachen. Nachdem er das Holz in ihn geschürt hatte, strahlten die Flammen schnell eine wohlige Wärme aus. Er ging zum Kühlschrank legte die Zeitung beiseite und schmierte sich die Brötchen mit Frischkäse. Doch der Anblick von Frau Maiers Gesicht war ihm immer noch vor Augen und er stellte die geschmierten Brötchen weg. Stattdessen, nahm er eine Flasche Korn, schraubte den Deckel ab und nahm einen kräftigen Schluck. Ein Kribbeln zog sich durch seinen ganzen Körper. Er wollte sich auch noch eine Pfeife anmachen, doch er ließ es und setzte sich auf seinen Schemel, nahm das Stück Holz und strich mit seiner Hand langsam darüber. Es fühlte sich warm und lebendig an, fast wie echte Haut. Er nahm den Meißel und arbeitete weiter. Die Stunden verflogen. Er war in seine Arbeit vertieft, die Welt um ihn herum stand still, ganz still. Nur die Zeiger seiner Armbanduhr wanderten unaufhörlich weiter. Der erste Teil seiner Arbeit war fertig. Es war perfekt. Er hatte viele Stücke im Laufe seines Lebens gemacht, aber das war sein Meisterstück. Stolz erfüllte ihn. Seine Kehle war trocken und seine Zunge lag in seinem Mund wie eine verdorrte Pflaume. Er holte sich eine Flasche Wasser und trank sie mit einem Zug aus. Er atmete tief durch. Die Uhr zeigte kurz vor Mitternacht. Das konnte er sich nicht erklären. Wenn ihn jemand fragen würde, was er den ganzen Tag gemacht hätte, er hätte mit nicht mehr als einem Satz antworten können. Er war müde und ging ins Bett. Seine Augen fielen zu und er begann zu träumen.
Er schritt über eine Allee, grauer Asphalt unter seinen Füßen, kratzende Geräusche vom Splitt unter seinen Schuhen. Er blickte nach rechts, Männer und Frauen mit verzerrten Gesichtern, er blickte nach links, genau das gleiche Bild. Ihre Augen starrten durch ihn hindurch, als ob er ein Geist wäre. Er fühlte großes Unbehagen. Seine Schritte wurden schneller, immer schneller. Er rannte. Die Gestalten flogen an ihm vorbei. In der Ferne sah er eine Tür, sie kam immer näher. Er öffnete sie, trat ein, lehnte sich mit dem Rücken an sie und atmete tief durch. Luft kehrte zurück in seine Lungen, wie eine Meute Ertrinkender, die sich in ein Boot drängen und sich mit ihren Fingern in die Planken krallen. Sein Brustkorb brannte. Er hob langsam den Kopf, das Knacken von Knochen dröhnte aus seinem Nacken in seine Ohren. Mehrere Tische und Stühle standen in Reihen vor ihm, der Klassenraum in seiner Schulzeit. Nun stand nicht wie damals Frau Hetzing am Pult, sondern er. Hinter jedem Tisch saß eine Puppe. Es waren nicht seine Puppen, sie hatten wieder Knochen und Sehnen, aber diesmal strömte kein Blut aus ihren Gesichtern. Erst war es ganz still, dann ging ein Murmeln durch ihre Reihen und fügte sich zu einem Refrain. „Nicht aufhören, nicht aufhören, nicht aufhören.“ Dann verschwanden die Puppen und mit ihnen die Stimmen. Das Zimmer entbrannte in grellem Licht.
Hartkorn wachte auf, die Sonne strahlte durch das Fenster mitten in sein Gesicht. Er schaute auf die Uhr. 13 Uhr. Er ging ins Bad und machte sich frisch. Ein Blick in den Spiegel und er erstarrte. Sein Gesicht fing an zu zerlaufen. Seine Wangenknochen stachen hervor, lange Hautlappen hingen von ihm herunter. Durchgekauter Kaugummi statt der faltigen Haut, die er vorher dort immer gesehen hatte, verrutschte Augenbrauen und ein grünes Schimmern in den Augen. Ein Dämon in ihm, der sich von seiner Haut befreien wollte und lechzend darauf wartete durch ihn in diese Welt zu gelangen. Er konnte dieses Bild nicht mehr ertragen. Es war zu verstörend. Wut und Ekel übermannten ihn. Er griff zum Zahnbecher und knallte ihn gegen den Spiegel. Er zerbarst und die Scheiben splitterten in alle Richtungen. Hartkorns Knie wurden weich, er sank zusammen. Sein Kopf lag auf dem Teppich und aus seinem Mund lief langsam Erbrochenes, mehr Säure als alles andere. Sein Hals brannte, glühende Kohlen bis an den Rand hineingestopft und ein stechender Geruch nach Chemikalien zog sich durch seine Nase. Alles wurde schwarz um ihn herum und er verlor sein Bewusstsein.
Einige Zeit später kam er wieder zu sich. Hunger fraß sich durch seinen Magen, er musste dringend etwas essen. Seine Finger fuhren durch sein Gesicht, alles fühlte sich normal an. Er stützte sich auf die Kloschüssel und kam wieder auf die Füße. Seine Beine zitterten. Hätte man das Bild gesehen, so hätte es die meisten sicher stark an die ersten Kühe erinnert, die dem BSE-Erreger zum Opfer gefallen waren. Er hielt sich am Waschbecken fest und kam langsam wieder in Schwung. Am Ende der Treppe hing ein kleiner Spiegel, ohne einen Blick nahm er ihn ab, drehte ihn und stellte ihn gegen die Wand. Er wollte kein Spiegelbild mehr von sich sehen. Sicherlich gab es einen irgendwo in ihm den Wunsch zu überprüfen, ob das was er im Bad gesehen hatte, der Realität entsprach, aber die Angst ein weiteres Mal diesen Anblick ertragen zu müssen, war einfach zu groß. In der Küche verschlang er die geschmierten Brötchen. Die halbgekauten Brocken gingen nur schwer seinen Hals hinunter. Er nahm die Flasche Korn und spülte damit nach. Er entzündete das Feuer, setzte sich auf seinen Schemel und arbeitete weiter an der Puppe. Wie ein Besessener erschuf er Stück für Stück und dann hielt er es endlich in seinen Händen, das ganze Skelett. Er schaute es bewundernd an. Ein Stück Leben eingefangen in seinen Händen. Dann fiel sein Kopf auf die Arbeitsplatte und er schlief ein.
Verschmierte Bildfetzen fügte sich zusammen und seine Augen nahmen wieder die Umgebung war. Er ging aus dem Haus, dunkle bedrohliche Wolken starrten vom Himmel herunter, leises Flüstern gedämpft durch den fallenden Regen um ihn herum. Sein Herz fing an zu rasen. Er hörte Schritte, schnelle Schritte. Sie kamen immer näher. Er warf sich hinter einen Busch, versuchte nicht zu atmen. War er in einem Traum oder war das die Realität? Seine Wahrnehmung hatte schon längst den Versuch aufgegeben, die Fakten seiner Umgebung zu sortieren. Er nahm hin, was ihm seine Augen vorgaben. Vielleicht kam mit dem Alter auch der Wahnsinn und dann der Tod. Bei dem Gedanken musste er schlucken. Zwei Fratzen tauchten vor ihm auf. Nein es konnten keine Menschen sein, wie Monster bauten sie sich vor ihm auf. Lautes Schreien und dumpfes Donnern in seinen Ohren. Er fühlte einen Tritt in sein Gesicht und stählerne Nägel, die sich tief in sein Bein bohrten. Das Blut lief in einem heißen Schwall seine Hose hinunter. Seine Socken färbten sich. Todesangst breitete sich in seinem Körper aus und drang bis in die letzten Poren vor. Er schlug um sich. Die blutroten Augen seiner Widersacher schauten ihn wütend an. Ohne Besinnung schlug er zu, immer wieder und dann wurde es still, ganz still. Die dunklen Gebilde lagen vor ihm. Ihre Körper waren nicht mehr zu erkennen, ihre Augen waren erloschen. Er musste weg, so schnell er konnte. Er schleppte sich mit letzter Kraft nach Hause.
Stunden später erwachte er auf seinem Schemel. Sein Bein schmerzte, seine Hände waren geschwollen. Er fasste sich an sein Bein und ein Ziehen bahnte sich seinen Weg durch den Körper bis hin zu seinem Kopf. Er biss sich auf die Zähne, um nicht zu schreien. Langsam zog er die Hose etwas nach oben und ein weißer Verband um seinen linken Unterschenkel zeigte sich. Ein weißer Turban auf einem bärtigen hageren Kopf kam ihm in den Sinn, aber diesen Gedanken verwarf er schnell. Die Flasche Korn stand vor ihm, ganz leer. War alles nur ein Traum oder war es Realität? Er wusste es nicht und es war ihm auch egal. Er schaute vor sich und Verwunderung machte sich in ihm breit. Berger hatte einen Kopf, nicht wie er es sich vorgestellt hatte. Kein lächelndes Gesicht mit braunen Haaren und braunen Augen, stattdessen tiefrote brennende Augen, seelenlose schwarze Haut, mit kleinen Stacheln, die sich durch seinen Schädel bohrten. Auch sein Skelett hatte sich verändert. Das Holz hatte sich ebenso schwarz gefärbt, dunkler als Ebenholz und statt Füßen und Händen endete sein Körper in Krallen, messerscharfen Krallen. Die Augen leuchteten ihm lebendig entgegen. Ein Gefühl von kalter Angst, ja fast schon tiefer Furcht durchzog ihn. Aber da war noch etwas, ganz tief in ihm, eine Art von Stolz, vielleicht sogar Freude, wie sie sich im Gesicht einer Mutter nach den Strapazen einer Geburt abzeichnet. Er war matt, sein Körper war schon alt, aber jetzt fühlte er sich noch Jahre älter. Er atmete in tiefen langen Zügen und die Muskeln seiner Augenlieder verloren ihre Kraft und schlossen sich.
Als sie sich wieder öffneten, stand er vor der Haustür, eingehüllt in Mantel, Schal und Handschuhen. Ihm war nicht klar, wie er hier hergekommen war, wahrscheinlich träumte er. Er hätte sich kneifen können, doch ob man im Traum diese Schmerzen wirklich nicht fühlen konnte, das wusste er nicht. Also ließ er es einfach. Seine Beine hatten sich bereits in Bewegung gesetzt. Regen fiel aus dunklen Wolken vom Himmel herab. Am Boden bildeten sich Pfützen und kleine Bäche. Bei jedem Schritt versuchte das Wasser sich an seinem Körper festzukrallen und sich den Weg hinauf zu bahnen, wie eine schwarze Gestalt, die sich seiner zu bemächtigen versuchte. Er glaubte in den Pfützen Gesichter und sich windende Körper zu erkennen. Er versuchte sich los zu schütteln, doch sie waren überall. Er musste schnell irgendwo einen Unterschlupf suchen, sonst würde sie ihn kriegen. In der Ferne erkannte er ein rettendes Licht. Er begann zu rennen. Sein linkes Bein trieb gellende Schmerzen in seinen Körper. Immer näher kam das Licht und dann hatte er es endlich erreicht. Eine Tür, er öffnete sie. Ein abartiges Geräusch, wie die Glocken einer Totenwacht, erklang in seinen Gehörgängen. Schnell schloss er sie wieder und das Geräusch verhallte langsam. Das kalte Licht brannte in seinen Augen. Er kniff sie kurz zu. Beim Öffnen erkannte er eine Gestalt, die aus einer der dunklen Ecken des Raums auf ihn zukam. Erst war sie ganz ruhig. Eine scheußliche Kreatur mit Haaren, die sich wie verlassene Gespinste an ihrem Kopf und den Hals hinab rankten. Seelen Lose weiße Augen ohne Pupillen starrten ihn aus einer blassen Maske an. Ein weißer Kittel umgab den Körper, wie ein Leichentuch, das kurz vor der Obduktion die Toten vor dem letzten Lichtschein der Welt verhüllt. Dann begann ein quälendes Schreien. Seine Ohren schienen zu zerreißen. Er hielt seine Hände schützend über sie, aber es nützte nichts. Der Klang schlängelte sich durch seine krampfhaft zusammengepressten Finger. Er musste sich wehren, er musste es abstellen. Wie war ihm völlig egal, nur schnell musste es gehen. Er war alt, hatte nicht mehr so viel Kraft wie früher. Viele Menschen könnten es sicher bezeugen, wenn man dem Tod nahe steht, dann können die eigenen Kräfte über sich hinauswachsen. Dieses Monster konnte nicht aus dieser Welt sein. Der Gedanke, dass er gegen es nichts ausrichten könnte, schwebte einsam in seinem Kopf gleich einer zerrissenen Wolke am purpurroten Himmel. Er sah sich panisch um und ergriff ein Messer, das nicht weit von ihm entfernt auf einem Tisch lag. Er stach zu, einmal, zweimal, aber das schreckliche Schreien wollte nicht enden. Schwarzes Pech spritzte in alle Richtungen aus dem Körper. Er wollte, nein er konnte jetzt nicht aufhören. Er stach weiter zu und ein Treffer unterhalb der hässlichen Fratze, dort wo sich sein Hals hätte befinden müssen, lies das Schreien in ein Gurgeln übergehen. Das Monster sank in sich zusammen, wie ein Löffel Kartoffelbrei, der auf den harten Boden klatscht. Ein kurzer Moment des Triumphs, dann wieder Angst, fürchterliche Angst. Er wollte nur weg, weit weg. Er riss die Tür auf und lief hinaus, keinen Blick zurückwerfend. Die Dunkelheit, vor der er eben solche Furcht gehabt hatte, fühlte sich an, wie ein Freund, der ihn schützend in seine Arme nahm. Nach Hause, nur nach Hause, das war wirklich alles, was er wollte. Ein Nebel aus Gedanken kroch durch seinen Körper und überzog alles mit einer kalten feuchten Schicht. Sein Geist schien seinen Körper längst verlassen zu haben. Seine Schritte trugen ihn immer weiter und dann verschwand alles im Schwarz der Nacht.
Er rutschte vom Schemel und sein Kopf schlug mit einem dumpfen Knall auf den Boden. Er war völlig irritiert und brauchte eine Minute, um sich wieder zurechtzufinden. Er war in seinem Arbeitszimmer, die warmen Holzdielen unter ihm. Seine Hand krallte sich um ein Messer. Er öffnete sie und ein metallenes Geräusch durchbrach für einen Moment die Stille. Sein Blick wanderte seinen Körper hinauf und dann an den Beinen seines Arbeitstischs entlang. Da lag etwas. Er zögerte einen Moment, dann griff er danach, aber konnte es nicht erreichen. Erst nachdem er seine Arme ganz lang gemacht hatte, bekam er es mit seinen Fingern zu fassen. Er zog es heraus. Es klebte an seinen Fingern. Er betrachtete es genau. Es war eine schwarz gefärbte Lederkordel mit einem kleinen silbermetallenen Schildchen. Er drehte es und konnte vier Buchstaben darauf lesen. LEON. Grässliche Gedanken durchströmten seinen Schädel. Noch bevor er wusste, was er damit anfangen sollte oder wie er reagieren sollte, blockierte sein Verstand das eben Gesehene. Es gibt Dinge, die man einfach nicht wissen muss, nicht wissen soll. Er ließ das Band fallen und trat aus Wut gegen das Messer, so dass es über den Boden schlitterte und mit der Spitze in einem Karton stecken blieb. Plötzlich wurde ihm eins ganz klar. Nur ein Gedanke fand in seinem Kopf Platz. Er wusste, wie die Kleidung für Berger auszusehen hatte, nicht kunterbunt, wie all seine anderen Puppen. Er rappelte sich auf und ging zu den Kartons, die in der hinteren linken Ecke standen und kramte ganz tief darin. Dann zog er ihn hervor, einen pechschwarzen seidigen Stoff und ein Stück schwarzes Nappaleder. Er setzte sich wieder auf den Schemel und zog die Nadel durch den Stoff, Stich für Stich. Aus der großen Stoffbahn formte sich eine lange wallende Robe, deren Ende von einer Kapuze gekrönt wurde. Aus dem Leder schnitt er einen einteiligen Anzug und vernähte seine Enden. Er steckte Berger in sein neues Gewand, sah es mit einer Mischung aus Freude und Abscheu an und schlief ein.
Ein heller Lichtschein war auf ihn gerichtet, ansonsten nur Dunkelheit. Es ertönten Geräusche erst ganz leise, weit entfernt, dann immer lauter, ganz nah. Er schaute sich um. Er glaubte seine Puppen wahrzunehmen, aber genau konnte er es nicht erkennen. Ein Lachen von hunderten feiner Stimmen brannte in seinen Gehörgängen. Sie fraßen sich wie eine Horde Maden tief in sein Fleisch, der Schmerz war höllisch. Hartkorn wachte auf.
Vor ihm seine Puppe. Sie drehte ihr Gesicht zu seinem. „Es hat begonnen!“ schallte es aus ihrem bewegungslosen bizarren Maul. Er wollte seine Arme aus der Puppe ziehen, doch sie klebten an ihm, als wären sie zu einer Einheit verschmolzen. Er schaffte es nicht, sie von sich weg zu reißen. Er war ganz eins mit ihr, keine Kontrolle über seine Arme und Hände. Die Klauen strichen langsam über seinen Pullover. Die Wolle teilte sich unter den scharfen Schnitten und Hartkorn fühlte die kalte Luft auf seiner Haut. Wie die Finger eines Klavierspielers tippten die Klauen auf seine Brust. Erst leise sanfte Anschläge, Reiszwecken, die sich vorsichtig in sein Fleisch senkten. Dann die tiefen dumpfen Anschläge mit Schmerzen, die durch seinen ganzen Körper schlugen. Hartkorn zappelte und wand sich, aber kein fortkommen. Er hatte das Monster geschaffen. Jetzt saß es direkt vor ihm und er war machtlos. Er schrie. Er schrie so laut er konnte, doch niemand hörte ihn. Hinter ihm seine Puppen mit gaffenden Augen, aufgereiht als Armee von Schaulustigen eines tragischen Unfalls, der gerade seinem Höhepunkt entgegen lief. Die Klauen wanderten weg von seiner Brust und gruben sich langsam durch das Fleisch seiner Bauchdecke. Immer wieder hallte schallendes dunkles Lachen durch den Raum. Seine Eingeweide drückten sich aus seinem Bauch, ein Korb voll mit Schlangen, der aus allen Nähten zu platzen schien. Säure stieg seinen Hals hinauf und verätzte auf ihrem Weg seinen Hals und seine Stimmbänder. Aus seinem Schreien wurde ein schwaches Krächzen. Die Qualen wollte und konnte er nicht mehr ertragen. Tod. Ja. Tod war alles, was er sich jetzt wünschte. Seine Atmung flachte langsam ab. Das Blut, das noch in ihm war, wurde kalt und schob sich nur noch ganz langsam durch seine Adern. Sein Gesicht hatte bereits jegliche Mimik verloren, nur noch eine verzerrte graue Skulptur. Dann sank er in sich zusammen, kein Funken Leben mehr in seinem Körper, alles leer.
Der Schein des Morgenlichts fiel in die Werkstatt und verkündete einen neuen Tag. Blut quoll über den Boden, wie ein Teppich, der die Grausamkeit des hier stattgefunden, verdecken wollte. Keiner sollte etwas davon erfahren, keiner sollte sehen, was hier passiert war. Knochensplitter und kleinere Hautfetzen an den Wänden sackten langsam nach unten. Die Blutspuren einer Hand am Ofen bildeten unter der Hitze eine karamellartige Masse mit kleinen aufplatzenden Bläschen. Eine Säge, verschmiert mit einem Gemisch aus Körpersäften und Blut, lag einsam auf dem Boden. Der stechende Geruch von verbranntem Fleisch und Haaren hatte sich in den Stoffen, in den Wänden und in jeder kleinen Ritze festgesetzt. Die Puppen hingen aufgereiht an ihren Fäden, stumm, als wäre nie etwas passiert. Ihre Augen mit starrem Blick, als hätten sie den Schmerz und das Leid nicht gesehen, völlig teilnahmslos.
Durch den Spalt unter der Werkstatttür zog sich mit einem kratzenden Geräusch langsam das Ende eines Stück Stoffs, eines pechschwarzen Stück Stoffs.