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Der Prozess 2.0
Prolog
Zuerst war es nur eine Unsicherheit, doch sie wurde zum Zustand. Schon bald kamen sie in Scharen: unscheinbare Objekte wie etwa ein Tisch oder die Lampe, die über mich Bescheid wissen . Sie werten mich ab und wollen mich nun sogar in einem Prozess vernichten.
Und nun bin ich hier, an diesem ungewöhnlichen Ort, meinem Zuhause.
Kapitel 1
4:37 Uhr
Die rot leuchtende LED-Anzeige meines Radioweckers verrät mir die unverschämte Zeit, zu der sich der Regen die Erlaubnis erteilt hat, laut gegen mein Schlafstubenfenster zu peitschen und mich zu wecken. Der wahre Übeltäter ist jedoch der durch und durch soziopathische Wind, der sowieso randaliert, wo und wann es ihm auch immer passt. Ich verachte seine Existenz zutiefst.
Ich bin früher wach, als ich es sein sollte. Mein Bett weiß das genau, schließlich habe ich mich bereits aufgerichtet und stütze mich mit beiden Unterarmen ab, um meinen Augen einen besseren Rundumblick zu verschaffen. Ich hoffe, sie wissen meine Geste zu schätzen, denn mein Bett wird mich hassen, wenn ich liegen bleibe. Sechs Stunden und dreiundzwanzig Minuten habe ich seine Dienste bereits in Anspruch nehmen müssen. Es wäre außer sich vor Wut, wenn ich mich jetzt noch länger ausruhen würde.
Mein Schlaf ist wichtig, ergeben meine Abschätzungen; ich sollte es mir mit meinem Bett also nicht verscherzen. Daher schwinge ich mich aus dem Bett, betätige den Lichtschalter und bekomme direkt eine Ladung Hass von meinen Augen eingeprügelt. Das Sichtfeld verschwärzt sich von den Außenbereichen her. Das eingeschaltete Licht protestiert ebenfalls und leuchtet extra hell, nur um mich zu blenden. Ich bin mir sicher, dass es mir damit auch unterschwellig mitteilen möchte, dass ich unterbelichtet bin. Immerhin sorgt die Lampe sich um mich weist mich darauf hin. Wenn sie mich nicht beleidigt hätte, würde ich es zu schätzen wissen.
Während ich in die Küche gehe, teilen mir Wind und Regen mit, dass sie sich von mir vernachlässigt fühlen und brettern wieder einen Schwall Lärm gegen das Küchenfenster. Ich werde heute unmöglich mit dem Auto zu meinem heutigen Ziel, dem Arbeitsgericht, fahren können, denn die Scheibenwischer und ich hatten letzte Woche einen heftigen Streit wegen der verdreckten Frontscheibe. Daraufhin haben sie sich an die Gewerkschaft gewendet und streiken jetzt. Die Verhandlungen laufen noch und keine Partei ist bereit, Kompromisse einzugehen.
Jedenfalls kann ich bei Starkregen nicht scheibenwischerfrei Auto fahren. Erst Recht nicht mit meinen seit gerade eben verärgerten Augen. Die Reise muss also mit meinem gut aussehenden, lieben Fahrrad angetreten werden, das die Komplimente hoffentlich gehört hat.
Die Fahrt wird Energie kosten, die mit Bedacht aufgefüllt werden muss. Zum Frühstück gibt es somit erst mal ein Brot, belegt mit reichlich Käse. Ich mag zwar keinen Käse, aber ich hasse mich selbst noch mehr als Käse, daher geht das in Ordnung.
Zeit zum Aufbruch. Aufs Fahrrad gesetzt und los Marsch!
Entschlossen voran; dem Wind gegen an.
Eine Armee von Regentropfen wird mir in die Fresse geschleudert. Der Wind scheint meine Kriegserklärung zu erwidern. Ich verachte seine Existenz zutiefst. Mich zu wecken ist eine Sache, aber den Regen als Hilfsmittel zu verwenden, um gegen andere Vorzugehen, ist unerhört!
…
Irgendetwas muss ich falsch gemacht haben, denn das Fahrrad beginnt zu knarren. Es scheint meine Aussage falsch verstanden zu haben und fühlt sich als Schlachtross im Feldzug gegen den Wind missbraucht. Diesen Interpretationsspielraum hätte ich zuvor bedenken müssen. Dieses blöde, ständig pöbelnde Fußvolk! Immerzu muss es eine Meinung vertreten und protestieren, sobald diesem irgendetwas nicht passt.
…
Das Ventil des Vorderreifens springt heraus; der Überdruck des Reifens hat kurzerhand ein Bündnis mit dem Feind geschlossen und greift mich mit einem Hinterhalt von Unten an.
Der Umstände wegen; dem Wind entgegen.
Entgegen meiner Prinzipien sehe ich mich gezwungen, mich zu ergeben. Ich bremse, steige vom trojanischen Schlachtross ab und erkenne die Genialität meines strategischen Schachzuges denn der Wind, der sich seines Sieges sicher scheint, ist es, der mir entgegen kommt und merklich nachlässt. Um weiteren Provokationen aus dem Weg zu gehen, lasse ich dieses verräterische Fahrrad zurück und setze meinen Weg allein fort.
Der klein beigebende Wind ist dabei keine Bedrohung mehr, nur noch ein Störfaktor, der mich von der Länge des Weges ablenkt. Mir gefällt seine minderbemittelte Handlungsweise. Stärker als der Wind, immun gegen Regen, erreiche ich zusammen mit dem Eintreffen der ersten Sonnenstrahlen mein Ziel: Das Arbeitsgericht.
Ich betrete das Gebäude, atme tief aus und spüre einen kleinen Windhauch an meinen unterkühlten Lippen. Ich verachte meine Existenz zutiefst.
Kapitel 2
Ein zweitaktiger Hammerschlag eröffnet die zweite Runde des Streikprozesses.. Mir gegenüber: Die Scheibenwischer – in Begleitung eines ganzen Autos. Die Beiden sind ein Team, so eng sind sie einander gerückt. Zu meiner Rechten: Die Vollstrecker. Ihre Blicke lasten auf mir wie 10 Tage Regenwetter. Mir persönlich reicht schon dieser Eine.
Zumindest zu meiner Linken findet sich ein Trost: Ein abscheuliches, kaum definierbares Kunstgemälde. Es zeigt einen Regenbogen, mit Ei darunter. Und ein Elefant. Was auch immer der Künstler sich dabei gedacht haben mag; ich schreibe ihm weder Talent, noch Verstand zu. Ich bin also kein hoffnungsloser Fall.
Die Augen fallen mir vor Müdigkeit fast zu, ich kann den Tarifverhandlungen kaum folgen und bin gerade konzentriert genug, um die zusammengefassten Forderungen zu erfassen. Die Scheibenwischer sind es leid, neben ihrer Aufgabe, die Frontscheibe von Regenwasser zu befreien, auch noch für die Entfernung von abgelagertem Schmutz zuständig zu sein.
Mir passt diese Grundhaltung des Scheibenwischers nicht und ich protestiere, da sich ja beide Aufgaben in einem Arbeitsgang erledigen lassen. Die Vollstrecker sind da anderer Meinung. Zumindest schauen sie mich an, als sei ich hier der Schuldige. Verzweifelt und verängstigt weiche ich ihren Blicken aus, schaue aus dem Fenster und sehe einen Regenbogen.
Und da dämmert es mir: Ich bin kein hoffnungsloser Fall.
Der Regen ist es, der mich heute geweckt hat, der mich gezwungen hat, eine Odyssee der Kälte auf mich zu nehmen, der mich ausgekühlt hat und mich dazu geleitet hat, meine Existenz zu verachten. Der Regen ist es, der Nässe und Schmutz in sich trägt und der jede Handlung erschwert. Der Regen entfacht die Angst.
Was war zuerst da? Die Henne oder das Ei? Was war zuerst da? Die Angst vor Situationen und Objekten oder die Angst vor der Angst? Jene Angst, die mich meiner Freiheit beraubt, die mich glauben lässt, mein Hab und Gut und gar mein eigener Körper würden mich hassen. Jene Angst, wegen der ich aus einer Henne einen Elefanten mache.
Ich akzeptiere die Forderungen der Scheibenwischer ohne weitere Einwände und beginne von nun an, die Reinigung der Scheiben selbst zu übernehmen. Die Scheibenwischer sind von der Einigung erfreut und blicken hoffnungsvoll auf einen Neuanfang. Mit dem Auto in Begleitung trete ich den Rückweg an, auf dem ich noch meinen gefallenen Kameraden, das Fahrrad aufsammle. Es traut mir nicht recht und ich habe vollstes Verständnis dafür. Es wird einige Zeit dauern, bis ich den heutigen Vertrauensbruch verzeihbar gemacht habe.
Daheim Angekommen, bemerke ich, dass in der Schlafstube noch die Lampe brennt. Es tut mir für sie Leid, das sich sie vergessen habe, aber sie hat sich für mich eingesetzt. Die Erleuchtung im Arbeitsgericht kam nicht von irgendwo her. Diese Lampe ist ab sofort mein Freund.
Epilog
Das Fahrrad habe ich zur Reparatur gebracht, ich hoffe, es wird nie wieder knarren. Das Auto habe ich bei einer Kfz-Werkstatt abgegeben, ich hoffe, sie kümmern sich gut um die Scheibenwischer. Und ich? Ich bin endlich beim Psychiater, ich hoffe, ich muss nie wieder Käse essen.