Der Prophet
Als die Götter kämpften, hielten die Menschen den Atem an und schauten zu Boden.
Das Kriegsgeschrei, als Donner wahrgenommen, hallte von den Bergen wieder, durchdrang die Täler und setzte sich fest in jeder Pore, jedem Haar, jeder Ritze der furchterfüllten Menschenkörper.
Wie blauer Stahl trafen die Gewalten aufeinander, zerfetzten die Ordnung der Zeit und verwirbelten den Raum in jener Rücksichtslosigkeit, wie sie nur die Götter zu pflegen wissen.
Blitze stachen in das Herz der Erde, zerstörten Häuser und vernichteten Felder und Farmen, welche aufzubauen mehrere Menschenleben gekostet hatten.
Als die Götter kämpften hielten die Menschen den Atem an, lauschten ängstlich dem Getöse und schwiegen.
Nur ein Einziger, ein alter Mann mit langem, grauem Haar, in ein Bettlergewand gehüllt und einem knorrigen Stab in der geballten Faust, hielt sich nicht an dieses ungeschriebene Gesetz.
„ Ihr Mächtigen,“ schrie er, mit wehendem Haar auf einem Felsen stehend, den Blick auf die dunkelroten, blutigen Wolkenberge gerichtet, „ Ich habe euer Taten lange geduldet, habe eure Willkür, euer Morden hingenommen und mir gesagt, eines Tages werden sie sich besinnen, sich an ihre Aufgabe erinnern und uns wieder gerecht und edel auf den Pfad des Guten führen, wie es nur die Götter vermögen .“
Er hielt kurz inne, wischte sich die peitschenden Regentropfen aus Gesicht und Haar, riss seinen Stab mit beiden Armen in die Höhe und Schrie mit aller Kraft , die seine alte Lunge in sich barg: „Aber es ist nicht geschehen, denn ihr seid eitel geworden, habt vergessen was ihr uns schuldet.
Ihr herrscht nicht für, sonder nur noch wider uns.
Ich werde dies nicht länger dulden.“
Ein leises aber dennoch markerschütterndes Donnern hallte von den nunmehr tiefschwarzen Wolken zu ihm hinüber.
Das Geräusch war kaum hörbar, aber es durchdrang ihn in Gänze und durchfuhr seinen Köper, um sein Herz, nicht das Gehör, direkt zu erreichen.
„ Was maßt du dir an kleiner Menschensohn, der du nicht mehr wert als ein Käfer bist, über uns die Göttlichen, deren Handlungen und Beweggründe dein schwacher Geist zu erfassen nicht im Stande ist, zu urteilen?“
Zitternd, der Ohnmacht nahe stand er da, auf seine Stab gestützt , als sich die göttliche Stimme auf sein Herz ergoss.
Nach Luft ringend, mit der letzten ihm zu Gebote stehenden Kraft, richtete er sich auf und begann langsam, kaum hörbar zu flüstern :
„ Ja, ihr seid Götter und eure Weisheit und Macht übersteigen das menschliche Verständnis über jedes Maß, aber ihr nutzt diese Weisheit nicht, ihr missbraucht eure Macht, um zu morden, morden wie es der dümmste Mensch zu tun versteht.
Geboren um zu schaffen , lebt ihr nur noch um zu zerstören und verschenkt somit eure Göttlichkeit . Den letztlich seid ihr nun nicht mehr als wir.“
Ein Blitz wenige Meter neben ihm eingeschlagen versengte ihm die Haut, und er sprach nun schneller, da er sein Ende kommen sah:
„Ihr denkt ihr braucht uns nicht, seht uns als Gewürm und Dreck, lacht über jeden Menschling der durch euer böses Spiel zu unrecht stirbt, doch irrt ihr euch gewaltig.“
Ein mächtiger Wind, wie eine Faust geformt, traf ihn am ganzen Körper und schleuderte ihn mit solcher Wucht an die Felswand, dass jeder Knochen seines Körpers barst.
Schreiend vor Schmerz wälzte er sich in der vom Sturm aufgewühlten Erde als die Stimme erneut zu seinem Herzen sprach:
„ Warum du Wurm sollten wir euch brauchen? Sprich , du dünnes Blatt im Wind?“
Krächzend, schon mehr im Tode als im Leben sprach der Alte ein letztes Mal:
„ Ihr seid Herrscher und geschaffen zum herrschen, was soll aus euch werden, wenn ihr all eure Untertanen ermordet habt?“
Die Stimme antwortete nicht und die Gewitterwolken verblassten.
Die Götter lachten nicht als der alte Mann die Augen schloss.
[ 24.05.2002, 22:52: Beitrag editiert von: Marot ]