Der Profi
Als mir der Arzt erklärte, was Martha noch weiter benötigen würde, wurde mir klar, dass ich wieder arbeiten musste. Tomographie, Elektrophorese, Chemotherapie, Radiatio cerebri, all die vornehmenden lateinischen Wörter flogen unverstanden an meinen Ohren vorbei. Dann war das Gespräch beendet, der Weißkittel ging, und ich schaute Martha an.
„Wir können es uns nicht leisten“, sagte sie.
„Was?“
„Das ganze lateinische Zeugs.“
„Jedenfalls nicht, solange ich nicht wieder arbeite“, murmelte ich und schob meine Schwester aus dem Krankenhaus. Nach einiger Zeit kamen wir durch ein Wohngebiet. Der Bürgersteig wurde schmaler, und ich musste aufpassen, wo ich Marthas Rollstuhl hinschob. Das Grundstück, an dem wir vorbeigingen, war von einer drei Meter hohen Bruchsteinmauer umgeben. Einbrecher lieben Mauern. Denn erstens zeigen sie besser als jedes Hinweisschild, dass dahinter etwas zu holen ist. Und zweitens bieten sie den perfekten Sichtschutz, wenn man sie mal überwunden hat. Wenn man sich an einem Fenster zu schaffen macht, dann gibt einem eine Mauer ein Gefühl der Sicherheit, das kein Jägerzaun der Welt bieten kann. Der Rücken ist frei, und man kann sich auf das Wesentliche konzentrieren.
In diesem Augenblick drehte sich Martha zu mir um und schaute mich an. Sie hatte die Mauer auch gesehen, aber im Gegensatz zu mir schien sie zu wissen, was zu tun war. So schaute sie mir in die Augen, treu und hilflos, wie nur sie schauen konnte. Ich schob sie unschlüssig noch ein Stück weiter und versuchte ihrem Blick auszuweichen. Dann hielt ich es nicht mehr aus, stoppte und sagte: „Okay, du hast gewonnen. Ich werde es tun.“
Martha lächelte und drehte sich wortlos um.
Zuhause legte ich mich hin, denn die Nacht konnte lang werden. Um 1:00 Uhr stand ich auf und zog meine Arbeitskleidung an, ein leichtes Sweatshirt, Jogginghose und Segeltuchschuhe, alles in schwarz. Zum Schluss legte ich meinen alten Ledergurt mit den Werkzeugen um. Als ich ihn schloss, spürte ich den Zauber der alten Zeiten wieder, und eine geballte Ladung Adrenalin schoss von meinem Magen bis in die Fingerspitzen. Auf dem Rücken bekam ich eine Gänsehaut, die sich langsam auf den ganzen Körper ausbreitete. Ich war wieder im Spiel. Ein tolles Gefühl!
Einbrecher sind immer im Nachteil. Erstens kennen sie die Örtlichkeiten nie so gut, wie der Hausbesitzer. Zweitens sind sie vogelfrei, wie die Verbrecher im Wilden Westen, Wanted, Dead or Alive. Wenn ein Einbrecher dem Hausherrn ein Haar krümmt, ist er ein mieses Dreckschwein, wenn der Hausherr den Einbrecher hinterrücks abknallt, wird er als Held gefeiert. Daran dachte ich, als ich das gusseiserne Gitter begutachtete, das die Einfahrt versperrte. Es war innen nur mit einem Haken gesichert, der ohne Probleme zu lösen wäre. Aber ich entschied mich, den Weg über die Mauer an der Hinterseite des Grundstücks zu nehmen. Mit einem Seil zog ich mich hoch und sprang über eine lächerliche Reihe von Glasscherben. Hinter der Mauer lag Rasen, der frisch gemäht roch, einige Blumenrabatten, saisonal bepflanzt und Gartenmöbel. Ich näherte mich im Mondlicht dem Haus. Alle Fenster waren dunkel. Es gab eine Metalltür, die wahrscheinlich zum Keller führte. Mit etwas Glück kam ich so auch in den Wohnbereich.
Die Tür war mit einem BKS-Schloss gut gesichert, für mich aber nur eine Fingerübung. In weniger als zwei Minuten hatte ich sie offen, ohne Spuren zu hinterlassen. Ich ging hinein und ließ die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Dann schaltete ich meine Taschenlampe an und sah eine Treppe, die nach unten führte, wie ich es mir gedacht hatte. Am Ende der Treppe befand sich eine Art Hobbykeller. Nur dass das Hobby des Besitzers unklar blieb. Der Raum war nämlich vollkommen leer, das Linoleum sauber gefegt, die Wände grob verputzt, wie ich im Taschenlampenlicht sah, aber leer. Wozu diente wohl so ein Raum?
Plötzlich hörte ich Stimmen. Jemand war wach. Hatte man mich entdeckt? Wenn ja, sah es mit Marthas Behandlung schlecht aus. Ich musste ein Versteck finden. Zwei Türen waren zu sehen. Die eine war direkt vor mir, die andere zu meiner linken. Was sollte ich tun? Durch eine der Türen würden gleich die Hausbesitzer stürmen und mich entdecken. Einen Kampf wollte ich unbedingt vermeiden. Ich machte zwei Schritte nach vorne. Als ich die Tür berührte, spürte ich ein Vibrieren, jemand war dahinter.
Schnell lief ich nach links. Die andere Tür war durch ein Vorhängeschloss aus Messing gesichert. Ich nahm die Taschenlampe in den Mund, leuchtete darauf und holte einen kleinen Stahlhaken aus meinem Gürtel. Die Geräusche hinter der Tür wurden deutlicher. Jeden Moment konnte jemand hereinstürzen und mich entdecken. Ich zitterte am ganzen Körper, was meine Aufgabe erschwerte. Dann verlor ich auch noch den Haken, und musste einen neuen aus meinem Gürtel ziehen. Jetzt waren deutlich Schritte von mehreren Personen zu hören. Ich war also in der Unterzahl. Endlich gab das Vorhängeschloss nach. Ich steckte es in die Hosentasche, öffnete die Tür und warf einen Blick über die Schulter. Gerade sprang die andere Tür auf. Ich schaltete die Taschenlampe aus, schlüpfte in eine dunkle Ungewissheit und schloss die Tür so leise wie möglich von innen. Dann hielt ich den Atem an, wartete und horchte. Hatten sie mich bemerkt?
Ich hörte Stimmen, Männerstimmen, konnte aber nichts verstehen. Ein schwacher Lichtschein drang durch den Türschlitz und leuchtete meine Segeltuchschuhe an. Etwas stand zwischen meinen Beinen, aber was es war, konnte ich nicht erkennen. Ich machte meine Arme breit und konnte mit beiden Händen den Rauhputz der Wände fühlen. Der Raum war also klein, ein Abstellraum vielleicht. Draußen quietschte etwas, und weitere Stimmen waren zu hören. In einer Ecke meines Verstecks ertastete ich einen Holzstiel, einen Besen oder einen Spaten. Es roch vermodert und nach Schimmel. Plötzlich stieg neue Angst in mir auf. Was war, wenn die Männer draußen das fehlende Vorhängeschlosses bemerkten? Ich klammerte mich an den Holzstiel, die einzige Waffe, die ich zur Hand hatte. Die Stimmen wurden lauter, ein Mann gab Kommandos oder Befehle in einer fremden Sprache, osteuropäisch, ich verstand nichts. Dann wurden die Stimmen wieder leiser, das Licht ging aus. Keiner hatte mich bemerkt.
Ich wartete fünf Minuten, bis das Zittern nachgelassen hatte, dann öffnete ich die Tür. Erst einen Spalt breit, um mich umzusehen, dann soweit, dass ich den Kopf hinaus stecken konnte. Menschenleere Dunkelheit, ein wundervoller Anblick. Ich schaltete die Taschenlampe an und sah mich um. Der Holzstiel gehörte zu einem Rechen, und zwischen meinen Beinen stand eine silberfarbene Kassette aus Stahl. Bis auf ein Spinnennetz in einer Ecke war der Raum sonst leer.
Ich hob die Kassette an, sie war ungefähr so schwer wie eine Schreibmaschine, und nahm ihn mit aus meinem Versteck. In der Mitte des Raumes stand jetzt ein Tisch, und darauf lagen ein Koffer und eine rechteckiger Kasten, ungefähr so groß wie ein Kopiergerät. Ich stellte die Kassette neben mir ab, öffnete den Koffer und ließ ihn vor Schreck gleich wieder zufallen, was ich sofort bereute, denn es gab ein dumpfes Geräusch. Sofort löschte ich die Taschenlampe und lauschte, aber nichts war zu hören. Man hatte mich anscheinend nicht gehört. Was ich in dem Koffer gesehen hatte, war so unglaublich, dass ich es jetzt mit Tasten versuchen wollte. Ich öffnete ihn wieder und griff hinein. Jawohl, das war es, unverwechselbar, das Gefühl von gebündeltem Geld. Ich leuchtete in den Koffer und konnte es immer noch nicht fassen. Es waren alles Fünfziger. Der Dicke nach lauter Bündel mit Tausend Stück. Jeweils zehn Bündel lagen übereinander in zwei Spalten und fünf Reihen.
Ich hatte meine Hand in einem Koffer mit fünf Millionen Euro!
Das erste, woran ich dachte, was Martha. Ihre Behandlung war gesichert. Wir konnten uns die besten Ärzte der Welt leisten. Und wenn sie einmal nicht mehr im Rollstuhl sitzen musste, war bestimmt auch noch ein Urlaub drin. Ein Hund, oder ein Fahrrad für mich.
Ich hob den Koffer an. Fünf Millionen hatten ein ordentliches Gewicht, zehn Kilo schätzte ich, aber ich würde sie notfalls auch auf Knien nach Hause tragen. Dann fiel mir die Metallkassette wieder ein. Sie war aus Stahl und hatte ein Sicherheitsschloss. Ich hätte sie mit einem Spezialstemmeisen öffnen können, aber das hätte Geräusche gemacht. Was kümmerte ich mich eigentlich um dieses Ding, wo ich doch fünf Millionen Gründe hatte, schnellstens zu verschwinden? Andererseits... Wenn die Typen ihren Geldkoffer im Hobbykeller aufbewahrten, hatten sie bestimmt auch Wertsachen in der Kassette. Außerdem war ich Profi. Ich konnte diesen Ort unmöglich verlassen, ohne herauszufinden, was in der Kassette war.
So klemmte ich den Geldkoffer unter meinen rechten Arm und trug die Kassette mit der linken und die Taschenlampe in der rechten Hand. So bepackt stieg ich die Treppe hinauf. Oben setzte ich die Kassette ab und öffnete die Tür.
Jedenfalls versuchte ich es. Sie ging auch einen Spalt weit auf, sperrte aber dann. Die Männer hatten die Tür verrammelt, mit einem Vorhängeschloss oder einer Kette. Natürlich, sie hatten ja jetzt etwas zu bewachen. Dagegen war selbst ich machtlos.
Was sollte ich jetzt tun? Ich kam mir eingesperrt vor, im Paradies aber eingesperrt, wie ein Piranha in der Gulaschsuppe. Ich musste zurück. Die Kassette wog tonnenschwer in meiner Hand, als ich umdrehte und wieder nach unten ging.
Wieder im Hobbykeller, wurde mir klar, dass es keinen anderen Ausweg gab, als die Tür, durch die die Männer die Sachen in den Keller gebracht hatten. Aber was war dahinter? Ich hatte Angst, denn Typen, die fünf Millionen in den Keller bringen, waren in der Regel bewaffnet. Und wenn jemand ihnen das Geld wegnehmen wollte, würden sie diese Waffen auch einsetzen.
Schließlich stellte ich den Koffer und die Kassette ab und machte mich an die Arbeit. Das Türschloss war nicht sehr anspruchsvoll, eine Fingerübung. Mit der Taschenlampe im Mund schob ich den Dietrich soweit in das Schloss, bis ich einen federnden Widerstand spürte. Eine lockere Drehung aus dem Handgelenk und die Tür sprang auf. In dem Raum dahinter war es dunkel, was mich beruhigte. Es hätte schließlich auch eine Bande schwer bewaffneter Gorillas dahinter lauern können. Ich leuchtete jede Ecke aus. Es schien sich um ein Treppenhaus zu handeln. Anscheinend hatte ich Glück, denn Treppenhäuser führen normalerweise an dem Wohnraum vorbei nach draußen.
Ich nahm den Koffer und die Kassette und ging Richtung Treppe. Was war nur in dem schweren Stahlgehäuse verborgen? Goldbarren? Diamanten? Ich konnte es kaum erwarten hinein zu sehen.
Nach vierundzwanzig Treppenstufen stand ich vor dem Ausgang. Es ging eigentlich viel zu einfach, dachte ich noch, als mir die Tür geöffnet wurde. Im Mondlicht, das von draußen hinein fiel, sah ich zuerst den weißen Hut mit der schwarzen Krempe, darunter baute sich ein Mann vor mir auf, der ungefähr zwanzig Zentimeter größer war als ich, ein buschiger Schnurrbart zuckte ungläubig in seinem Gesicht. Ohne zu überlegen schleuderte ich ihm mit all meiner Kraft die Kassette in den Bauch. Der Mann ächzte kurz auf, fiel nach hinten ins Freie und hielt sich dabei an der Kassette fest, sodass ich nach draußen gerissen wurde. Ich ließ los, so dass er hinfiel, schleuderte ihm die Taschenlampe hinterher und stürzte mich auf ihn. Mit der einen Hand griff ich nach der Kassette, mit der anderen schlug ich ihm den Koffer auf seinen Hut. Endlich ließ er los, versuchte aber meinen Knöchel zu packen. Ich verpasste ihm einen Tritt in die Weichteile und rannte. Der Mann schrie, und hinter mir hörte ich Schritte.
Ich lief um den Mercedes herum, der vor dem Haus geparkt war und über den geharkten Kies auf die vergitterte Einfahrt zu. Der Koffer und die Kassette zogen mich fast zu Boden, meine Schultern schmerzten, und vor Angst war mir übel. Ich war nur noch zwei Meter von dem Gitter entfernt, als ich die Schüsse hörte, schallgedämpfte dumpfe Schüsse aus kleinkalibrigen Waffen, die ungezielt den Kies hinter mir aufpeitschten. Noch gab der Wagen mir Deckung vor den aus dem Haus preschenden Männern, aber ich musste jetzt sehr schnell weiter kommen, oder ich war verloren. Vor der Einfahrt ließ ich Koffer und Kassette fallen und zog das Gitter nach innen auf. Dann warf ich meine Beute nach draußen und sprang selber raus. Vier Männer, alle mit weißen Hüten und Schnurrbärten, rannten mit gezückten Waffen auf mich zu. Ich nahm das Vorhängeschloss aus meiner Hosentasche, verschloss damit das Gitter, hob die Kassette hoch und merkte, wie eine Kugel darin einschlug. Der Schlag haute mich fast um, aber ich fand mein Gleichgewicht gleich wieder. Dann rannte ich, dachte nicht an die Gewichte in meinen Händen, dachte nicht daran, was die Kassette wohl verbarg, dachte nicht an Martha sondern rannte, rannte zwei, drei, vier Blocks weit, rannte ohne mich umzusehen, rannte ohne Luft zu holen.
Dann stolperte ich und fiel hin. Wahrscheinlich hatte ich mir die Knie aufgeschrammt, vielleicht blutete ich, aber es war mir egal. Ich konnte durchatmen, nur einen Moment Ruhe. Dann richtete ich mich wieder auf. Niemand verfolgte mich. Ich war in Sicherheit.
Das letzte Stück nach Hause zog ich meine Beute hinter mir her. Fast fielen mir die Arme ab, und ich war so erschöpft wie ein Marathonläufer kurz vor dem Ziel.
Martha erwartete mich schon und machte mir Kaffee. Sie war ganz aus dem Häuschen, als ich ihr das Geld zeigte. Dann war die Zeit gekommen, die Kassette zu öffnen. Erst wusste ich nicht, was ich darin sah, Metallscheiben, rechteckig mit Prägung. Dann erkannte ich es. In der Kassette waren Druckplatten für Falschgeld.
Martha reagierte als Erste. Sie nahm ein Bündel Scheine aus dem Koffer und hielt sie gegen das Licht. „Falschgeld“, sagte sie und schaute mich groß an. „Du hast zwanzig Pfund Falschgeld gestohlen. Die schlechtesten Blüten, die ich je gesehen habe.“
Nun ja. Gelegentlich muss auch ein Profi Rückschläge einstecken. Ich versuche es halt Morgen wieder.