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Der Professor
In einer einst kleinen, maßlos überfüllten Kammer gleich neben der Küche, die auf Kosten jeglicher architektonischen Ästhetik, bereits mehrfach vergrößert worden war, hatte der Professor in zahlreichen Jahrzehnten eine Sammlung aufgebaut. Sie umfasste vornehmlich juristische Fachzeitschriften, aber auch internationale Tagesblätter und nicht zuletzt eine große Anzahl von allerhand, nicht eindeutig zuordbaren Publikationen wie, Essays, Pamphleten, Manifesten und ähnlichem. Sie war das Ergebnis einer sonderbaren Gepflogenheit des Professors, für die er den schlichten Namen „Katharsis“ beanspruchte. Sie bestand darin, dass er so lange mit einer akribischen Aufmerksamkeit und einer für den alten Mann bemerkenswerten Ausdauer in den Fachschriften jegliche Fehler suchte, markierte, notierte, und kommentierte, bis er einen krankhaft anmutenden Anfall erlitt, der zwar in seiner Intensität variierte, aber ihn stets in einem Zustand nahezu absoluter Teilnahmslosigkeit hinterließ. Diese Teilnahmslosigkeit war das Einzige, was ihn für einige Stunden von der Verzweiflung über die schiere Dummheit der Menschen erlöste.
In den Jahren nach dem Tod seiner ruhestiftenden Frau, hatte sich jene Gewohnheit zu einer suchtartigen Notwendigkeit emporgesteigert und war fester, wenn nicht hauptsächlicher Bestandteil seines Ruhestandes geworden.
Auf der stetigen Suche nach neuem Material, dass in der Lage sein musste, ihn in einen schrecklichen aber notwendigen Wutanfall über die Inkompetenz sich aufspielender Menschen zu versetzen und ihn schließlich den Kummer über die hoffnungslose Situation der menschlichen Spezies vergessen zu lassen, waren ihm einige Werke der niedrigsten Sorte von Boulevarderzeugnissen in die Hände geraten.
Eine Ausgabe behandelte eine aktuelle Serie von bisher ungeklärten Vergewaltigungen und ließ dabei keine Eigenschaft des unseriösen Journalismus vermissen. In einer Zeit, in der es noch Würde gegeben hatte, wäre die aufeinanderfolgende Verwendung dieser beiden Begriffe eine schwere Beleidigung, wenn nicht ein Widerspruch in sich gewesen, dachte sich der Professor mit einer nostalgischen Eingebung und einer merklichen Verengung des Rachens.
Um nicht von der Trauer übermannt zu werden begann er.
Ab Seite 4 wurde empfohlen, dass Frauen an potentiell gefährdeten Orten Sportschuhe tragen sollten um im Ernstfall besser flüchten zu können. Der Professor spürte schon wie langsam seine Schläfen anfingen zu pulsieren. Doch dann las er knapp unter den „Tipps und Tricks der Redaktion“ in den Leserkommentaren, die die Form eines zerfließenden Bluttropfens hatten, das, was ihn schlagartig in einen Zustand höchster Erregung versetzte.
Dort hatte tatsächlich Jemand etwas geschrieben, dass sinngemäß etwa so lautete: „Wenn die Polizei nicht mal in der Lage ist die verletzlichsten Bürger zu beschützen, und von uns verlangt wird, dass wir Maßnahmen ergreifen, dann hat der Staat auf ganzer Länge versagt.“
Für einen Außenstehenden mag es ein Fehler gewesen sein, dass der Professor das Terrain der Fachliteratur verlassen hatte, doch dieser selbst schöpfte sogar, nachdem der erste Schock überwunden war, gar etwas wie Hoffnung. Dieser, bedauernswerte, sogenannte „Leser“ hatte offensichtlich so wenig Kenntnis, dass er möglicherweise noch nicht vollkommen verloren war und mit ein wenig Tüchtigkeit wahre Einsicht erlangen könnte.
Aufgrund des Fehlens eines Zweckes für sein verbliebenes Dasein, entschloss sich der Professor, sich der Sache anzunehmen.
Durch einige Recherche und alte Kontakte in Staat und Wirtschaft, gelang es ihm Name und Adresse des Betroffenen ausfindig zu machen.
Nach weiteren, nicht unmaßgeblichen Mühen, stand er vor einem baufälligen Reihenhaus in der grauen Vorstadt einer entfernten Metropole. Ein dachsartiger, untersetzter Mann in Unterhemd und misstrauischer Miene öffnete ihm. Zu seinem eigenen Erstaunen erhielt er Zutritt in die übel riechende Zwei-Zimmer-Wohnung.
Nachdem er ein Glas Wasser höflich abgelehnt hatte, schoss der Professor den Mann mit einem kleinen Revolver zweimal in den Kopf.
Einmal hätte wohl gereicht, doch er musste sicher sein, dass sein Gegenüber verstand, dass in einem freien Staat, die Polizei niemals absolute Sicherheit für alle Bürger gewährleisten können wird.