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- 05.09.2013
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Der Posten
Da, war da nicht schon wieder dieses Geräusch? Mit vor Müdigkeit brennenden Augen starre ich aus dem Fenster in die undurchdringliche Dunkelheit. Was hoffe sich zu erkennen? Natürlich ist nichts zu sehen, von der Tatsache ganz zu schweigen, dass es in der völligen Finsternis draußen sowieso unmöglich wäre, etwas zu erkennen. Die Straßenlaternen brennen schon seit Tagen nicht mehr und Mond und Sterne sind hinter dicken Wolken verborgen. Einzig die angrenzenden Häuser auf der anderen Straßenseite lassen sich als vage Schemen ausmachen. Trotzdem oder vielleicht gerade deshalb ist da dieser ständige Verdacht, diese nagende Unsicherheit, die Furcht vor dem Unbekannten, dem Unaussprechlichen, das draußen in der Dunkelheit lauert. Dem Grauen, das durch die Schatten kriecht.
Mühsam reiße ich meinen Blick vom Fenster los, zwinge meine Gedanken weg vom leisen Murmeln der Schatten da draußen, hinein ins Jetzt, ins Leben. Mit einem leisen Seufzen lasse ich mich auf die Decke unter dem Fenster sinken. Wie oft hat sich diese Prozedur jetzt in den letzten Stunden schon wiederholt? Ich weiß es nicht mit Sicherheit zu sagen, gefühlt waren es wohl tausende Male. Auch hier im Raum ist es nicht viel heller als draußen, doch für die an die Dunkelheit gewöhnten Augen reicht es. Mir gegenüber liegt, einen kleinen Spalt weit geöffnet, die Tür. Ich sitze an meinem Beobachtungsplatz zwischen den Fenstern an der Südwand des Zimmers im sechsten Stock. Die Tapete an den Wänden ist voll verspielter Muster und Streifen in Farben, die sich jetzt im Dunkeln nicht erkennen lassen. Neben der Tür steht ein Schrank, die Türen achtlos offen und das Innere über den Zimmerboden verteilt, gerade so, als wären die Bewohner halsüberkopf geflüchtet, als das Dunkel kam. Neben mir unter dem Fenster steht ein kleiner Schreibtisch. Mein Blick schweift darüber. Stifte, Papier und ein paar Bücher liegen verstreut darauf. Plötzlich zucke ich zusammen: Mein Fuß ist gegen etwas gestoßen, doch als ich hinsehe, ist es nur der umgestürzte Schreibtischstuhl. Ich schließe mit einem leisen Seufzen die Augen und schlucke den Schrecken herunter. Dann atme ich bewusst tief ein und spüre, wie die kalte Luft meine Lungen füllt.
Deutlich nehme ich den Geruch des Zimmers war. Die Erinnerung an seinen Bewohner liegt noch deutlich darin, aber auch etwas Fremdes und Schreckliches. Und auch in den Geruch des nassen Asphalts, der von der Straße hereinweht, hat sich diese kaum wahrnehmbare Veränderung eingeschlichen, die wie ein bitterer, bleierner Beigeschmack schwer auf der Zunge liegt. Ich atme aus und öffne die Augen. Mein Blick schweift weiter: Auf dem Boden zwischen dem Stuhl und dem kleinen Bett liegen Spielzeuge und Kleidungsstücke verteilt. An den Wänden hängen im Dunkel fast nicht zu erkennende Poster und Regale mit tausend kleinen Dingen. Das Zimmer muss einem Kind gehört haben, bevor das alles losging. Alles das hier, das chaotische Durcheinander und der Dunst aus Panik, Verwirrung und Hilflosigkeit, der noch immer über allem hängt, stehen zusammen mit der kalten Wirklichkeit da draußen so sehr im Gegensatz zu dem, was dieses Zimmer eigentlich ausdrücken und repräsentieren sollte, dass es mir fast die Luft abschneidet. Da ist er wieder, dieser kalte, eiserne Ring um meine Brust, der sich langsam zuzieht und die Dunkelheit kriecht wieder bedrohlich nahe heran.
Doch Licht zu machen traue ich mich nicht, aus Furcht, entdeckt zu werden. Nur ein leichter, kaum wahrnehmbarer Schimmer sickert durch den Türspalt von draußen herein. Dort, ein paar Türen weiter, in einem kleinen Zimmer, die Fenster sorgfältig mit Decken und Vorhängen verdeckt, sitzt der Rest unserer zusammengewürfelten Gruppe im Schein einer Kerze und döst vor sich hin. Der Wiederschein der flackernden Flammen überträgt sich als hypnotischer Reigen aus Farben und Formen, Licht und Schatten auf den Fußboden vor mir, ruft die Geister wach, die ich eben so mühsam zurückgedrängt habe. Ich atme tief ein und wieder aus. Langsam stehe ich auf und gehe die paar Schritte bis zum Waschbecken, das sich an der Wand gegenüber befindet. Ich drehe den Wasserhahn auf und lasse das Becken voll laufen. Das Wasser läuft immerhin noch, fragt sich nur, wie lange noch. Mit beiden Händen forme ich eine kleine Schale und schöpfe mir so Wasser ins Gesicht. Auch in den feinen Tropfen, die mir jetzt über Stirn und Wangen auf meine Lippen laufen, rieche und schmecke ich diese feine Bitternis, wie einen Hauch von Schwefel.
Ich beschließe, das Wasser nicht zu trinken und kehre stattdessen zu meinem Platz zurück, wo ich eine halb volle Flasche aus meinem Rucksack ziehe und am Verschluss drehe. Eigentlich kindisch von mir, denke ich, während der Deckel langsam am Gewinde des Flaschenhalses emporfährt. In spätestens zwei Tagen müssen wir sowieso anfangen, das Leitungswasser zu trinken, falls es bis dahin überhaupt noch läuft. Höchstwahrscheinlich werden wir dann sogar froh sein, es zu haben, falls wir bis dahin noch nicht aus der Stadt raus sind. Mit einem leisen Zischen entferne ich den Deckel vollends und führe die Flasche behutsam zum Mund.
Plötzlich erstarre ich. Meine Augen sind starr auf den Türspalt gerichtet. Meine Finger krampfen sich um den Kunststoff der Flasche, so dass das Wasser darin in einer kleinen Fontäne aus der Öffnung schießt. Panik steigt in mir hoch, tastet nach meinem Verstand mit hundert schwarzen Armen. Das Licht, der feine flackernde Schein, ist weg. Mühsam unterdrücke ich das Bedürfnis, nach den anderen zu rufen. Ich halte stattdessen den Atem an und lausche gespannt. Nichts. Nichts bis auf meinen gepressten Atem und das schnelle Pochen meines Herzens, dass mir vorkommt wie Donnergrollen. Ich taumle. Das kann nicht sein. War ich unaufmerksam? Habe ich etwas überhört oder übersehen? Sind sie irgendwie ins Haus gekommen, ohne dass ich es bemerkt habe? Sie haben auf mich vertraut und ich habe sie im Stich gelassen!
Gedanken rasen in totalem Durcheinander durch meinen Kopf, drehen sich um sich selbst, werden dabei immer schneller, um schließlich in sich selbst zusammenzufallen und den wirren Lauf von vorne zu beginnen: Allein! Du bist allein und sie sind da draußen. Kommen dich holen. Allein! Niemand wird dir helfen, wenn sie kommen. Allein! Du kannst sie doch fühlen, wie sie sich aus Schatten und Nichts langsam aber unerbittlich nähern. Sich kriechend, widernatürlich, schlürfend im Dunkel winden, mit Fängen, Klauen und wirren Gliedern, unaussprechlich und namenlos. Schemen zuerst, dann klarer. Unerbittlich. Ihre leeren, schwarzen Augen brennen sich in deine Seele, entzünden sie, als wärest du ein Leuchtturm in der Finsternis, der sie unaufhaltsam herführt. Wozu fliehen, sie finden dich doch. Wozu noch rennen und verstecken, wenn sie dich am Ende doch sowieso schnappen. Denn wie der Tod das Leben hasst, hassen auch sie die Lebenden und suchen sie unerbittlich, wie Raubtiere ihre Beute. Allein! Wozu noch wachsam sein. Bald sind sie hier und dann ist endlich alles vorbei. Vielleicht sind sie sogar schon nebenan, kriechen langsam näher, unaussprechliche Manifestationen des Grauens und des Wahnsinns. So viel hast du schon gelitten und ertragen. Der Schock, das Unfassbare, die Furcht, die Unsicherheit. Alles hat dann ein Ende. Alles ist dann nicht mehr wahr und wichtig.
Allein!
…
Fetzen fliegen mottengleich durch meinen Verstand, angezogen vom Licht, doch sich selbst daran verbrennend. Böse Stimmen mischen sich in meine Gedanken, hämisch, tückisch, verräterisch. Aus der Dunkelheit der Seele erheben sie sich, um ihre Fühler nach dem Verstand auszustrecken. Mühsam verbanne ich sie zurück in den Schatten und wende den Blick keine Sekunde von der Türe mir gegenüber. Alles verschwimmt vor meinen Augen, während ich noch immer starr auf den nun dunklen Spalt starre. Draußen ist es dunkel und hier drinnen ist es dunkel, die Welt ein einziger Brei aus Schwarz und dunklem Grau, Schemen wie Schatten dazwischen gesprenkelt. Alles nimmt nun böse und gespenstische Formen an. Ich schaudere. Noch immer sitze ich an der Wand und lehne mich mit dem Rücken an sie. Zwar ist das solide Wand Mauerwerk zwischen mir und der Welt da draußen, aber ihre Kälte kriecht dennoch aus der Nacht und in mich.
Ich schließe die Augen und versuche, mich wieder auf mögliche Geräusche zu konzentrieren. Es darf nicht wahr sein, es darf einfach nicht! Da, war da nicht etwas? Quoll dort nicht ein Rascheln und Schlurfen aus der Nacht oder spielt mir mein Verstand wieder einen Streich? Ich taste im Dunklen nach meiner Taschenlampe. Das kühle Metall fühlt sich gut an, vertraut und sicher. Es scheint wie ein Anker für die in der wattigen Dunkelheit unsicheren Sinne. Ich ziehe die Beine näher an meinen Körper und zerreibe die Feuchtigkeit auf der Lampe mit meinen Fingern. Mein Schweiß fühlt sich kalt an, ich habe es gar nicht gemerkt, aber auf meinen Händen und meiner Stirn hat sich ein dünner Film aus Feuchtigkeit gebildet. Mit einem kaum hörbaren Klicken flammt die Taschenlampe in meiner Hand auf und schickt einen Speer aus Licht quer durch den Raum. Mit klopfendem Herzen schiebe ich mich Millimeter für Millimeter von der Wand weg, setze mich auf und richte mit angehaltenem Atem den Strahl auf den gähnend schwarzen Türspalt.
Ich weiß nicht, was ich erwarte; das Zucken einer schwarzen Klaue vielleicht oder ihr böses, quietschendes Fauchen. Doch nichts passiert. Alles bleibt still und unbewegt. Dennoch traue ich mich nicht zu blinzeln, während sich meine Augen an die plötzliche Helligkeit vor mir gewöhnen. Ich halte Blick und Lichtstrahl fest auf dem Türspalt, während ich mich langsam, Zentimeter für Zentimeter nach vorne schieben. Auch das Atmen fällt mir schwer vor Anspannung. Ich achte darauf, kein unnötiges Geräusch zu machen und lausche angestrengt ins Dunkel, während ich mich quälend langsam der Tür nähere. Die Sekunden ziehen sich lang wie ein Gummiband, während ich die ganze Zeit auf ein verräterisches Geräusch oder eine Bewegung achte. Ich halte kurz inne und meine Hand tastet suchend meine Hosentasche ab. Das Messer, ich habe es im Rucksack an der Wand gelassen. Verdammt! Ärgerlich über mich selbst, kann ich doch nicht zurück, starre immer noch wie gebannt auf die Tür, die jetzt zum Greifen nah vor mir liegt. Was soll‘s, versuche ich mich zu beruhigen, das Messer würde dir sowieso nichts nützen, das hast du jetzt schon oft genug sehen müssen. Dennoch wäre es besser als nichts. Zumindest wäre man dieses elende Gefühl los, nackt zu sein. Nackt und allein, verbessere ich mich in Gedanken. Ein leises Lächeln huscht über mein Gesicht, der innere Klugscheißer ist noch nicht den Weg alles Irdischen gegangen. Immerhin ein Zeichen, dass ich noch nicht völlig den Verstand verliere. Ich verdrehe kurz die Augen und konzentriere mich wieder auf die Türe. Wenn ich doch nur an Sebastians Pistole kommen könnte, doch die könnte im Moment genauso gut auf dem Mond liegen, wenn eines dieser Dinger draußen auf dem Flur oder im anderen Zimmer lauert.
Endlich habe ich die Tür erreicht. Das lackierte Holz fühlt sich glatt, kühl und hart an. Ich knie mich an die rechte Seite des Türrahmens und lege die Hand an die Kunststoffklinke. Das Muster des Teppichbodens unter mir schwindet und verschwimmt im breiigen Grau der Nacht. Meine Schuhe hinterlassen kleine Vertiefungen darin, die sich füllen wie kleine Seen mit Furcht und Sorge. Langsam ziehe ich die Tür zu mir, bis sie schließlich so weit geöffnet ist, dass ich mich hindurchzwängen kann. Vorsichtig luge ich um die Ecke und leuchte zögerlich in den Flur. Auch hier nichts. Und immer noch diese Totenstille. Mein Herz hämmert wie wild und schickt Blut in pochenden, pulsierenden Stößen durch meinen Schädel. Das wattige Rauschen in meinem Kopf dämpft alles Empfinden wie ein nasser Schwamm. Dennoch arbeiten meine Sinne plötzlich mit einer nie gekannten Schärfe und für einen Moment nehme ich trotz der dämmrigen Dunkelheit alles um mich herum deutlich wahr: Das Parkett des Flurs in seinen ebenmäßigen, hellbraunen Bahnen, hier und dort gesprenkelt von Zeichen des Alters und der Abnutzung, leichten Unregelmäßigkeiten. Das matte Weiß der Wände, die kühle, geometrische Form der Deckenlampe und die gedankenvolle Platzierung der Bilder an den Wänden. Der Duft des Lebens schwebt auch hier noch erkennbar über allem, durchwabert jedoch vom faulen Gestank von Tod und Furcht, Chaos und Grauen, der schon vorhin im Zimmer unverkennbar war.
Als wäre dieser Flur, dieses Haus, diese Stadt hinüber gerutscht in eine andere Welt, unserer zum Verwechseln ähnlich, dennoch so furchterregend und anders, das der Mensch in ihr vergehen oder dem Wahnsinn anheimfallen müsse. In der die Dunkelheit mit tausend Augen lebendig würde und unaussprechliche Geschöpfe uns lauernd beäugten wie der Jäger seine Beute. Langsam schiebe ich mich nun vorwärts, alle Nerven zum Zerreißen gespannt. Leise knarrt und ächzt das Holz des Parketts unter meinen Schritten und die Zeit scheint stillzustehen, bis ich endlich die Tür zu unserem Ruheraum erreiche. Immer noch nichts. Keine Monstrosität schält sich aus dem Schatten, um mich zu zerreißen, kein Geräusch harter, scharrender Klauen hinter der Tür vor meinen Augen. Das Adrenalin pumpt immer noch durch meine Adern. Ich zwinge mich, ruhig zu bleiben und presse mein Ohr an die Tür: Immer noch nichts, kein verräterisches Geräusch. Irgendwas stimmt doch da nicht! Was ist bloß los? Ich hole tief Luft und halte dann den Atem an. Quälend langsam sehe ich meine Hand zur Klinke der Tür wandern, als wäre ich ein Fremder, ein Besucher im eigenen Körper, unfähig etwas zu tun, während mein Unterbewusstsein aufschreit, bettelt, die Tür in Ruhe zu lassen, den Wunsch immer deutlicher und mächtiger werden lässt, einfach alles fallen zu lassen und zu laufen, zu laufen bis endlich alles hier vergessen und vergangen ist. Dann, fast wie von alleine, hat meine Hand die Klinke erreicht. Mein Blick beginnt zu verschwimmen, meine Augen brennen. Die ungeheure Anspannung ließ mich, so scheint es, minutenlang nicht blinzeln. Auch jetzt fällt es mir schwer, die Augen zu schließen, aus Angst davor, was in der Dunkelheit lauern könnte. Mein ganzer Körper ist nass von Schweiß, das Hemd klebt mir am Körper. Dann drücke ich die Klinke herunter und schiebe langsam die Tür auf, die Augen noch immer geschlossen und doch auf alles gefasst.
Ich weiß nicht, was genau ich zu sehen erwarte, doch nach allem, was wir die letzten Tage über erlebt und gesehen haben, bin ich auf eine Szenerie gefasst, deren Grauenhaftigkeit jeder Beschreibung spotten muss: Körper, im Schrecken der letzten Augenblicke furchtbar verkrümmt und zerrissen, die in Panik weit aufgerissenen Augen noch den Anblick des Unfassbaren widerspiegelnd, das nicht von dieser Welt stammt und so fremdartig ist, dass der menschliche Geist unweigerlich daran zerbrechen muss. Die Münder geöffnet zu einem stummen letzten Schrei, die Luft schwer vom Gestank von vergossenem Blut und Schwefel, der wie ein unseliger Hauch über der Vernichtung schwebt.
Ich bin auf alles vorbereitet, doch als ich die Augen einen endlos scheinenden Moment später wieder öffne, trifft es mich wie ein Hammerschlag:
Dort liegen meine Gefährten, ruhig schlafend. Nicht tot und zerrissen. Friedlich liegen sie da, leise und regelmäßig atmend. Sie schlafen, als wäre nichts geschehen, als würden draußen nicht das Chaos und die Angst regieren. Ihr Anblick hat beinahe etwas Beruhigendes und Behagliches. Die Kerze ist heruntergebrannt. Eine unbeschreiblich große Last fällt von mir ab, die Anspannung zerbricht wie dunkles Glas in einem Moment stummen Glücks. Ich fühle mich wie ein vor dem sicheren Schicksal geretteter Ertrinkender, als hätte etwas unglaublich Starkes und Leichtes mich gepackt und mit Macht empor gerissen. Es tut unglaublich gut, wieder einmal nach diesen scheinbar unendlich langen Tagen etwas anderes als Angst, Verwirrung und Anspannung zu fühlen. Diese fünf Menschen, die dort liegen, eigentlich sind sie kaum mehr als Fremde, flüchtige Bekannte und Kollegen, mit denen man zum Zeitpunkt der Katastrophe zusammen war oder die man kurz darauf allein und verstört auflas. Doch nach allem, was wir in den letzten Tagen erlebt haben, sind wir schneller zusammengewachsen, als ich es für möglich gehalten hätte. Diese kleine Gruppe ist alles, was in diesem Schrecken noch einen Rest Normalität vermittelt, was uns alle davor schützt, verrückt zu werden, uns im Dunkeln zu verkriechen und allein zu sterben.
Und, sie sind in dieser kurzen Zeit so etwas wie eine Familie für mich geworden. Eine Familie, die sich beschützt und Trost spendet, sich gegenseitig Halt gibt und etwas, das einen dazu bringt, weiter zu machen. Eine Familie… Langsam und mit zitternden Fingern hole ich ein paar Fotos aus meiner Hosentasche. Meine Familie. Seit fast einer Woche habe ich nun nichts mehr von ihnen gehört. Ob sie noch leben? Ob sie es geschafft haben, sich in Sicherheit zu bringen? Ich hoffe es, glaube es, will es glauben, muss es glauben. Doch da ist auch diese böse, kalte Stimme der Vernunft, die es mir einflüstert wie ein schleichendes Gift: Sie sind genauso tot wie alle anderen. Ein kalter Ring zieht sich um meine Brust zusammen, ich fühle mich schwach und meine Knie werden weich. Es ist einfach alles zu viel. Zu viel ist passiert in den letzten Tagen, zu viel Schreckliches und Unglaubliches, das menschliche Fassungsvermögen Überschreitendes, so dass allein der Mangel an Zeit zur Reflexion einen davor schützt, den Verstand zu verlieren. Wie soll ein Mensch das alles aushalten?
Ich sacke an der Tür, an der ich noch immer stehe, in mich zusammen und stoße dabei etwas um, das klirrend und polternd über den Boden kullert. „Was zum Teufel?“ Luisa schreckt benommen aus ihrem Schlaf auf. Der Schreck des unsanften Erwachens steht ihr deutlich sichtbar ins Gesicht geschrieben. In ihren Augen lebt für einen kurzen Moment dieselbe lauernde Panik, die ich vor Sekunden noch selbst gespürt habe. Dann entspannen sich ihre Züge wieder etwas, während rings um uns auch der Rest der Gruppe widerwillig ins Hier und Jetzt zurückkehrt. „Man, hast du mich erschreckt! Was ist denn los? Du bist ja kreidebleich. Hast du was gesehen?“ Ohne meine Antwort abzuwarten, rappelt sie sich hoch und kauert sich unwillkürlich an die Wand des Zimmers. „Jetzt erzähl doch mal, was ist los? Hast du was gesehen?“ „Ja, sag schon, hast du was gesehen oder weckst du uns nur so zum Spaß, wo wir zum ersten Mal seit Tagen einigermaßen ruhig schlafen können?“, wirft mir Elli entgegen, während sie sich langsam aufsetzt. „Jetzt lass ihn doch mal zur Ruhe kommen!“, kommentiert Sebastian verschlafen und dreht sich im Liegen so, dass er den Blick bequem auf die Szenerie richten kann. „Ach nichts weiter.“ entgegne ich verlegen und noch außer Atem. „Ich hab nur gesehen, dass euer Licht auf einmal aus war und wollte nachsehen, was los ist.“ „Na, dafür siehst du aber ganz schön mitgenommen aus. Du bist doch sonst nicht so schnell aus der Fassung zu bringen. Hast du etwa Angst, so allein im Dunkeln?“, fügt er schnippisch hinzu. In seinen Augen funkelt leise ein freundlicher Spott.
„Sieh’s doch als Kompliment,“ werfe ich schnell ein, während ich noch immer um meine Fassung ringe und mich erschrocken dabei ertappe, ein Gefühl von Betroffenheit in mir aufkommen zu spüren, als wäre ich ein kleiner Junge, der durch eine unbedachte Handlung die Erwachsenen grundlos in Aufregung versetzt hat. „Du bist mir eben inzwischen so wichtig, dass ich hin und wieder mal nachsehe, ob du nicht doch inzwischen auf dem Speise-zettel gelandet bist.“ „Sehr beruhigend, vielen Dank“, erwidert Sebastian knapp, dreht sich wieder auf die andere Seite und schließt demonstrativ die Augen.
„Gut, dass euch wenigstens noch nach Späßen zumute ist“, flüstert Luisa. In ihrer Stimme zittert leise die überwundene Todesangst. „Ich hab aber seit Tagen eine scheiß Angst und hab mich wirklich zu Tode erschreckt, als du auf einmal leichenblass hier rein gestolpert bist. Und auch wenn ihr zwei Idioten jetzt die Coolen spielen müsst, ich hab wirklich gedacht, das war’s jetzt, jetzt kommen sie gleich durch die Tür. Du sagst mir jetzt sofort, dass du draußen nichts gesehen hast und das alles in Ordnung ist, sonst…“ Ihre Stimme zittert noch immer merklich. „Hey Kleine, ist alles in Ordnung.“ Elli beugt sich fürsorglich über Luisa und wirft mir dabei einen scharfen, unmissverständlich tadelnden Blick zu.
„Entschuldigung“, stammele ich verlegen und beuge mich ebenfalls zu Luisa hinunter, während ich dankbar bemerke, dass mein Herzschlag wieder auf ein erträgliches Maß zurückgegangen ist. „Ich wollte wahrscheinlich nur meine eigene Angst herunterspielen. Es hat mich ganz schön erwischt, als ich da allein drüben war. Plötzlich war das Licht aus und ich bin einfach durchgedreht. Hab gedacht, ich hätte irgendwas übersehen oder überhört und sie hätten euch erwischt. Ihr seid die einzigen, die noch da sind, alles, was ich noch habe, auch wenn ich euch kaum kenne. Da musste ich einfach nachsehen. T‘schuldige, wenn ich dich erschreckt habe.“ „Schon in Ordnung“, entgegnet Luisa, während sie mir kurz in die Augen sieht, nun wieder merklich beruhigt. „Aber in Zukunft kann ich auf solche Aktionen echt verzichten.“
„Ist auch echt ne beschissene Situation, in der wir stecken. Wir haben alle viel verloren und durchgemacht, da kann man wirklich verstehen, wenn einem die Nerven durchgehen. Gerade deswegen müssen wir jetzt zusammenhalten und irgendwie hier rauskommen. Wenn wir dann die Evakuierungszone außerhalb der Stadt erreichen, finden wir auch hoffentlich was über deine Familie heraus.“ Sebastian hat sich unbemerkt zu uns gesetzt und legt mir sanft die Hand auf die Schulter. „Vorausgesetzt, es gibt diese Evakuierungszone überhaupt noch“, flüstere ich kaum hörbar. „Wer sagt uns denn, dass diese Dinger nicht inzwischen die ganze Gegend beherrschen? Was wenn es sich immer weiter ausbreitet? Das Wasser hier schmeckt auch schon so komisch wie in der Innenstadt, damals, kurz bevor es losging.“
Sebastian versetzt mir einen unmerklichen aber schmerzhaften Stoß und entgegnet ebenso flüsternd wie scharf: „So was darfst du nicht mal denken! Wir dürfen jetzt die Hoffnung nicht aufgeben! Was bleibt uns denn sonst noch? Wir müssen es auf jeden Fall doch zumindest versuchen!“ Dann fährt er sanfter und für alle deutlich hörbar fort: „Soll ich dich ablösen? Du siehst aus, als könntest du jetzt etwas Ruhe gebrauchen.“
„Ne, schon okay, aber danke für das Angebot“, entgegne ich. „Ich pack das schon. Meine Wache ist auch noch nicht vorbei. Ich hab euch geweckt, wo ich doch selber nur zu gut weiß, wie schwierig das mit dem Schlafen gerade ist. Da käm ich mir blöd vor, wenn du jetzt dann auch noch einen Teil meiner Wache übernehmen müsstest.“
„Guter Mann. Bei dem Horrortrip, in dem wir stecken, sind wir einfach alle mit den Nerven fertig. Ehrlich gesagt, ich hätte mir auch fast in die Hose gemacht. Ich würde sagen, wir trinken alle einen Schluck und versuchen dann, wieder zu schlafen.“ Sebastian lässt kurz lockernd die Arme kreisen, beugt die Knie und macht sich wieder auf den Weg zu seiner Schlafstelle. Er beginnt, in seinem Rucksack zu kramen. Elli gähnt kurz. „Ich finde auch, wir sollten versuchen, wieder ein bisschen zu schlafen. Wer weiß, wann wir wieder die Gelegenheit dazu bekommen. Danke, dass du weiter die Wache übernimmst“, sagt sie, während sie sich mir zuwendet. „Wenn dir wieder was auffällt, komm nur rüber. Aber“, fügt sie lächelnd hinzu, „Versuch das nächste Mal bitte, uns nicht mehr so zu erschrecken. Wie Sebastian schon gesagt hat, wir sind alle sowieso schon mit den Nerven am Ende.“
Luisa nickt nur stumm und nimmt, noch immer leicht zitternd, die Flasche, die Sebastian ihr entgegenstreckt. „Ich werd mein Bestes tun.“ Ich lächle gequält. „Ist ja auch nicht mehr lange bis Sonnenaufgang. Dann sind sie ja zum Glück nicht so aktiv.“ Luisa hat den Blick auf die Parkettdielen vor ihr gesenkt und fragt plötzlich, ohne uns anzusehen: „Weiß eigentlich jemand noch genau den Tag, an dem das alles losging? An dem sie auftauchten?“ Elli setzt die Flasche ab, die sie gerade von Luisa erhalten hat.
„Natürlich. Diesen Tag werde ich nie vergessen können.“ Sie lacht ein kurzes, bitteres Lachen. „Wer vergisst schon den Tag, an dem er unfreiwillig eine Hauptrolle in einem schlechten Horrorfilm übernimmt, ohne Bezahlung aber dafür mit der sicheren Aussicht, am Ende tot zu sein?“ Dann ballen sich ihre Hände zu Fäusten und ihre Augen nehmen einen trüben Glanz an. „Wer vergisst schon den Tag, an dem das ganze Leben zerbricht? An dem alles weg ist und du weißt, es kommt nie wieder? Freunde, Familie... Und jetzt erzählt mir nicht, ich sollte abwarten, bis wir hier raus sind, vielleicht findet man ja alle wieder.“ Sie schreit fast, als sie fortfährt: „Ihr habt doch selbst gesehen, wie es in der Stadt aussah, in den Büros, in den Geschäften! All die Toten, die Verwüstung und der Gestank. Dieser unerträgliche Gestank von Schwefel.“ Sie schluchzt kurz und streicht sich mit beiden Händen übers Gesicht, dann ist ihr Ausbruch ebenso schnell vorüber, wie er begonnen hat und fast macht es mir mehr Angst wie ihr plötzlicher Ausbruch, als sie wie nach dem Umlegen eines Schalters mit fast unerträglichem Gleichmut Luisas Frage beantwortet:
„Es war Mittwoch vor einer Woche, der Fünfzehnte, wenn ich mich nicht irre. Es müsste so gegen halb 11 gewesen sein. Ich war im Büro, als ich plötzlich überall Schreie hörte und diese undefinierbaren, schrecklichen Laute. Was dann passierte, weiß ich nicht mehr, bis ihr mich dann irgendwann aufgelesen habt. Wieso fragst du denn?“
Luisa blinzelt kurz, wie um ihre Gedanken zu sortieren nach diesem kurzen und heftigen Gewitter. „Mir ist nur grade diese Zeitung ins Auge gefallen, die hier auf dem Boden liegt. Die ist vom Vierzehnten und auf der Titelseite ist ein Artikel über ein paar der Wissenschaftler von der Ausgrabung, die in der letzten Zeit überall in den Medien war. Habt ihr das mitbekommen? Die haben da ja andauernd von einer großen archäologischen Sensation gesprochen. Was war das doch gleich? Irgend so eine prähistorische Kultstätte oder Tempel oder so was in der Art.“
„Ja, genau das war’s“, erwidere ich. „Keiner konnte sich einen Reim darauf machen, für wen oder was diese Anlage war. Sie passte zu keiner bisher bekannten Kultur und man fand nur unlesbare Schriftzeichen und seltsame, irgendwie unheimliche Statuen und Figuren. Soviel weiß ich noch. Aber warum erwähnst du das jetzt?“
„Wegen diesem Artikel!“ Dabei hält sie mir die Zeitung vors Gesicht. „Was soll uns denn jetzt irgend so ein Artikel über so ein paar Forscher interessieren?“, fällt Sebastian ein. „Halt einfach die Klappe und hör zu“, fällt ihm Luisa aufgeregt ins Wort. „Ich glaube, hier steht die Erklärung für das, was hier passiert.“ Ich zucke wie elektrisiert zusammen und auch Elli und Sebastian verstummen. Obgleich es eigentlich irrelevant ist, ist es uns doch irgendwie wichtig, etwas über die Hintergründe dieser unerklärlichen, schrecklichen Situation zu erfahren. Eine Erklärung zu bekommen für das, was nicht zu verstehen ist.
„Zuerst hab ich auch nur die Überschriften überflogen, um mich etwas abzulenken, aber dann habe ich den Artikel genauer gelesen. Es ist ein Kommentar zum Verlauf der Ausgrabungen und die dabei beteiligten Wissenschaftler. Hier steht, dass in den letzten fünf Tagen 12 der leitenden Archäologen mit den gleichen Beschwerden in eine psychiatrische Klinik eingeliefert wurden. Sie klagten alle seit einigen Wochen über seltsame Albträume, steigendes Unwohlsein und seltsame Angstzustände, je länger sie an der Ausgrabungsstätte waren. Zu was die Kultstätte diente, konnten sie bislang nicht genau herausfinden, aber anhand der gefundenen Statuen und Figuren gingen sie davon aus, es handele sich um einen Schrein zur Anbetung oder Besänftigung einer bizarren altertümlichen Gottheit. Puh, ich krieg immernoch ein ungutes Gefühl, wenn ich dieses scheußliche Ding sehe!“ Dabei zeigt sie auf das Bild eines monströsen, scheußlich missgestalteten Wesens, dass neben dem Artikel abgebildet ist. „Schön und gut, aber ich verstehe immer noch nicht, was du uns damit sagen willst.“ Sebastians Stimme hat einen ungeduldigen Klang. „Halt endlich die Klappe und hör zu!“
Ellis Blick ist starr auf Luisa und die Zeitung gerichtet. „Jetzt wird es interessant!“, fährt Luisa fort. „Der Grund, warum sie in die Psychiatrie eingeliefert wurden. Alle begannen am gleichen Tag plötzlich, nach einem Traum, den alle exakt gleich beschrieben, sonderbar genaue Details zur Geschichte der Kultstätte zu berichten und in Sinn und Wortlaut die gleiche Warnung auszusprechen, nicht weiter an diesem Ort zu graben und das zu stören, was dort ruhe.“ Sie verstummt und blickt in die Runde. Kein Wort ist nötig, um auszudrücken, was in ihren Gedanken vorgeht. Ihr Blick verrät alles: Ein Schluss, der so abwegig und doch so zwingend ist. So fern menschlicher Konzepte von Realität und Plausibilität, dass es schmerzt, auch nur darüber nachzudenken und eher schreiendem Wahnsinn gleichkommt. Demselben Wahnsinn, wegen dem sie die Archäologen einliefern ließen. Mich schaudert.
„Schöne Gespenstergeschichte. Und deswegen hast du jetzt so einen Aufstand gemacht? Das erklärt überhaupt nichts.“ Sebastians schroffe Antwort kann aber nicht über das hinwegtäuschen, was seine Augen über die Wirkung des Gehörten auf ihn verraten. Auch in Ellis Augen sehe ich denselben Ausdruck. Die Logik hinter Luisas Schlussfolgerung ist schlüssig, obwohl sie nicht schlüssig sein dürfte in dieser, unserer Welt.
Doch jede Erklärung ist uns in dieser Situation des quälenden Nichtwissens im Angesicht solch unerklärlicher Geschehnisse lieber und wir ergreifen sie wie ein Ertrinkender das rettende Seil. Wir blicken uns stumm gegenseitig an, verarbeiten, was wir gerade gehört haben. Wir kennen die Wahrheit. Minutenlang sitzen wir so oder sind es Stunden, Sekunden? Etwas benommen stehe ich schließlich auf, meine Stimme zittert etwas: „Ich gehe dann mal wieder auf meinen Posten. Sobald es hell wird, wecke ich euch und wir machen, dass wir hier raus kommen!“ „In Ordnung“, erwidert Elli und sieht mich aufmunternd an. „Obwohl ich nicht glaube, dass einer von uns jetzt noch schlafen kann.“
Das Licht der Kerze flackert wieder in meinem Rücken, als ich zu meinem Aussichtsplatz zurückkehre. Bald wird es vom Licht der Dämmerung überstrahlt werden. Dann werden wir uns endgültig auf den Weg machen, raus aus der Stadt, weg von diesem gottverlassenen Ort. Wir werden es schaffen, müssen es schaffen. Ich hoffe es, glaube es, weiß es.