Was ist neu

Der Postbote und der Mann

Mitglied
Beitritt
27.05.2008
Beiträge
66
Zuletzt bearbeitet:

Der Postbote und der Mann

In der Bachstraße steht ein Haus. Dieses Haus ist unscheinbar, zweigeschossig, aber flach, mit kaum mehr Fenstern als Türen. Wer nicht weiß, was es mit diesem Haus auf sich hat, geht daran vorbei, ohne es überhaupt wahrzunehmen. Das hingegen, kann für denjenigen, der sich durch Zufall doch einmal danach umsieht, ein seltsam beklemmendes Gefühl sein.
Die Geschichte dieses Hauses beginnt mit dem Zusammentreffen zweier Menschen, vor - so erzählt man sich - zwanzig Jahren. An jenem Tag trat ein Postbote auf die Schwelle des Hauses. Er hielt einen Brief in der Hand, der jedoch nicht für die Bewohner des Hauses bestimmt war. Ganz unüblich für seine Zunft, konnte er die Hausnummer des Adressaten nicht ausfindig machen, auch nach längerem Suchen nicht. Hier, in unmittelbarer Nachbarschaft würde ihm jemand mit Sicherheit weiterhelfen können. Eine Klingel gab es nicht, also klopfte der Postbote. Unter dem Druck seiner Knöchel öffnete sich die Tür einen Spalt weit. Der Postbote wartete einige Momente, sah sich im Vorgarten um, der sehr karg war, und klopfte erneut. Niemand antwortete. Vorsichtig schob er die Tür ein Stück weit auf, um einen Blick hinein werfen können. Er wollte um nichts in der Welt als ungebetener Eindringling erscheinen, und so zwang er sich, ein leichtes Lächeln zu bewahren.
Die Diele, von der links und rechts geöffnete Türen in andere Räume führten, war zweckmäßig eingerichtet. Zwei niedrige Schränke, bei denen es sich um Schuhschränke handeln mochte, ein großer, breitschultriger Kleiderschrank aus Ebenholz und ein unbenutzter Hutständer. Mehr war dort nicht zu finden. Kein Spiegel an der Wand, keine Bilder und selbst der Boden war befreit von jedem Überfluss. Dort, wo einst ein Läufer gelegen hatte, war das Parkett um einige Nuancen heller.
Unschlüssig, ob er gehen oder weiter forschen sollte, richtete der Postbote ein Wort der Begrüßung in den Korridor hinein, das sich unbeantwortet in allen Nischen und Ecke verteilte. Er sah auf den Brief in seiner Hand hinab und überlegte, ob er nicht beim nächsten Haus um Rat fragen sollte. Die Zeit war auf seiner Seite, dachte er, er war überpünktlich in der Erfüllung seines heutigen Pensums gewesen.
Mit dem festen Schritt des Vernunftmenschen trat er in die Diele hinein, und schloss, noch ehe er sich über das Warum sicher war, hinter sich die Tür. Die Stille in dem nun versiegelten Haus war geradezu berauschend. Der Postbote, sonst ein Mann der klaren Absichten und knappen Pläne, öffnete noch einmal die Tür und vergewisserte sich des Anblicks der Straße, ehe er mit Haut und Haar in die Ruhe zurück kehrte und sich darin einschloss.
Er lauschte in die Räume hinter den geöffneten Türen hinein, einen nach dem anderen, indem er sie konzentriert in Augenschein nahm. Soweit er es beurteilen konnte, ging die Möblierung in keinem der Zimmer über ein absolut notwendiges Maß hinaus, und ähnelte sich überdies in allen auf eine ungewöhnliche Weise. Es war nicht zu sagen, welcher Raum welchem Zweck diente, ob es sich um ein Wohn- oder Schlafzimmer handelte, sämtlich wirkten sie wie Zimmer, in denen nie viel Zeit verbracht wurde, denn überall fanden sich nur Schränke und Kommoden – sie alle muteten wie Stauräume an.
Darauf bedacht, beim Gehen keine Geräusch zu verursachen, schlenderte der Postbote ein paar Schritte voran und richtete noch einmal eine höfliche Anrede an die unsichtbaren Bewohner. Eine Antwort hätte ihn erschreckt, deshalb hoffte er auch gar nicht mehr darauf.
Am Ende des Ganges, dort wo eine Tür in einen Raum führte, der einer Küche glich, zweigten sich links und rechts zwei weitere Korridore im rechten Winkel ab. Dort standen weitere Türen offen, sechs an der Zahl, die jede für sich in Zimmer führten, die allen bisherigen ähnelten. Weiter hinten machten die Gänge einen zueinander symmetrischen Knick, der weiter ins Gebäude hinein führte. Es war unsinnig, noch weiter zu gehen, sagte sich der Postbote, diese Korridore waren verlassen, ebenso die daran anschließenden Räume. Hier würde ihm niemand weiterhelfen können.
Da regte sich etwas in der Küche. Ein leises, rasch verklingendes Geräusch, wie das eines flüchtenden Nagetieres. Dann war es wieder still. Mit angehaltenem Atem trat der Postbote ein und nahm das Zimmer in Augenschein. Eine Küchenzeile, jedoch ohne einen Herd oder ein Spülbecken, zog sich an der gegenüberliegenden Wand entlang, daneben ein Kühlschrank mit gezogenem Stecker. Ein Tisch stand in der Mitte des Raumes, dessen Platte zerkratzt und abgestoßen war, wie von jahrelangem, rücksichtslosen Gebrauch. Stühle oder eine Sitzgelegenheit waren weit und breit nicht zu entdecken.
„Hallo“, flüsterte der Postbote und tat einen Schritt in Richtung des Tisches. Die Luft war warm, fast stickig, so als heizte jemand seit Tagen ein, ohne ein einziges Mal gelüftet zu haben. Er wusste nicht, warum ihn die niedrigen Türchen der Küchenzeile so interessierten, und das, was wohl dahinter lag. Es musste die Abwesenheit von jedweder anderer Einrichtung sein, die seine Aufmerksamkeit zwangsläufig an ihren Anblick fesselte. Das Holz war dilettantisch bearbeitet worden, floristische Schnitzereien, wie grobe Arabesken, zierten die Türchen, eingefasst von einem wulstigen, hervor tretenden Rahmen. Er musste sie berühren, dachte er, und öffnen; selbst der Anblick eines Stapels alten Geschirrs dahinter, würde genügen, damit er umdrehen und dieses Haus leichten Herzens wieder verlassen könnte.
Er umrundete den Tisch, kniete vor dem erstbesten Schränkchen nieder und legte zwei Finger auf einen der stumpfen Messingknäufe. Geräuschlos und ohne jeden Widerstand ließ sich das Türchen öffnen, doch der Anblick dessen, was es verbarg, ließ den Postboten erschrocken zurück weichen.
Ein erwachsener Mann lag darin, eingerollt wie ein Hund auf einem Bett aus dünnen Stoffdecken, und schlief. Nur die obere Hälfte seines Köpers war durch das Türchens zu sehen, der Rest von ihm steckte in der anderen Hälfte des Schranks. Der Postbote brauchte einige Momente, um seiner unkontrolliert hereinbrechenden Befürchtungen Herr zu werden und das Bild des Schlafenden klar und deutlich wahrzunehmen. Der Mann, dessen Brustkorb sich nur ganz leicht hob und senkte, sah nicht aus wie jemand, von dem eine Gefahr ausging. Diese Einschätzung konnte ein fataler Irrtum sein, sagte sich der Postbote, doch er selbst glaubte sich in der überlegenen Position. Das Gesicht des Mannes war großflächig, aber nicht grob, so als wäre er von Kindesbeinen an übermäßig schnell gewachsen, dabei aber nur wenig gealtert. Seine ganze Mimik, zusätzlich entspannt durch den Schlaf, bot keinen Angriffspunkt für irgendwelche Assoziationen, es schien gerade so, als hätte er überhaupt keine charakterlichen Eigenheiten, aber das nicht auf eine unangenehme Weise. Eine Strähne seines Haars war ihm auf die breite Stirn gefallen, und der Postbote war einen unaufmerksamen Moment lang versucht, sie ihm aus dem Gesicht zu streichen.
Eine Minute verging, zwei Minuten, drei Minuten. Behutsam schloss der Postbote das Schränkchen wieder, ohne dabei den Mann zu wecken. Sobald die Küchenzeile wieder ihre geschlossene, unscheinbare Front präsentierte, war sich der Postbote nicht mehr ganz im Klaren darüber, was gerade passiert war und was er eigentlich gesehen hatte. Ohne sich noch einmal umzusehen, verließ er die Küche, durchquerte den Flur und bemerkte, gerade als er aus der Tür ins Freie treten wollte, einen kleinen Gegenstand, der auf der Schwelle lag. Es war eine Blume. Eine weiße Hyazinthe. Der Postbote hob sie vom Boden auf, betrachte sie und roch an ihr. Er nickte in Richtung der Küche, weil er die Blume als ein Geschenk verstand, und ging dann seines Weges.
Der Brief indessen, nach deren Adressat er sich im Folgenden vergeblich zu informieren suchte, blieb unzugestellt. Niemand in der Straße kannte eine Adresse mit der entsprechenden Nummer. Nach dem Haus mit dem schlafenden Mann wagte der Postbote niemanden zu fragen. Je mehr er darüber nachdachte, desto weniger schien ihm die Begegnung frei von eigenen Irrtümer und Missinterpretationen abgelaufen zu sein, fast glaubte er, fantasiert zu haben. Bald darauf, als er schon meinte, den Brief als unzustellbar ins Archiv geben zu müssen, kam ihm in den Sinn, was er lange schon unwissentlich in sich hin und her gewendet hatte: Der einzige Bewohner der Straße, den er noch nicht nach der Adresse gefragt hatte, war der schlafende Mann. Genau derjenige, den er ursprünglich hatte fragen wollen.
Gleich am nächsten Tag, zu etwa derselben Uhrzeit wie beim ersten Mal, klopfte der Postbote an die Tür des niedrigen, unscheinbaren Hauses, dessen Fenster, wie er jetzt bemerkte, allesamt mit dünnem Tuch verhangen waren. Wie er es erwartet hatte, antwortete ihm auch diesmal niemand, sodass er - schneller als beim ersten Mal - eintrat und die Tür hinter sich ins Schloss zog.
Die Ruhe und Wärme des Hauses schwappte wie eine Welle über ihn und hüllte ihn ein. Dieses Mal gab er sich von Anfang an dem Gefühl hin, sich in dieser Fremdartigkeit kaum fremd zu fühlen. Beim Abschreiten der Türen warf er hier und dort einen Blick durch ihren Spalt und stellte jedes Mal mit zunehmender Bestätigung seiner Vermutung fest, dass die Zimmer verlassen waren. Nur einmal war er sich nicht sicher.
In der Tür zur Küche blieb er stehen und musterte den Raum in jeder Einzelheit. Unbewusst knetete er dabei auf dem Couvert in seiner Hand herum. War es nicht das Werk eines Verrückten, hier her zu kommen, fragte er sich, hier her zurück zu kommen? Vergebens wartete er auf ein Zeichen aus der Küchenzeile, so etwas wie das Rascheln einer Maus, oder etwas Ähnliches. Alles blieb still, die Küche ruhte in ihrer eigenen, drückenden Wärme. Den Brief wie als Zeichen vor die Brust gehalten, ging er am Tisch vorbei und näherte sich genau jenem Türchen in der Reihe, in der er am Tag zuvor den schlafenden Mann gesehen zu haben meinte. Der Messingknopf, auf den er wie beim ersten Mal nur zwei Finger zu legen wagte, war körperwarm, und mit einem Gefühl der höchsten Verunsicherung öffnete er die Tür.
Der Schrank war leer.
In einer Ecke lagen etwas nachlässig gefaltet die dünnen Decken, auf denen der Mann gelegen hatte. Ansonsten war keine Spur von ihm geblieben. Schlagartig wandte sich der Postbote um, um den Raum hinter seinem Rücken überblicken zu können. Das Gefühl, in eine Falle geraten zu sein, war plötzlich in allen Tapeten und Böden und sprang ihm entgegen. Er stemmte sich mit dem Rücken gegen eines der Türchen und hielt den Brief schützend vor sich. Bald darauf war die Beklemmung weit genug abgeklungen, dass er seine Gedanken ordnen konnte. Wenn jemand in diesem Haus Angst haben müsse, so war es der Mann, der im Schrank geschlafen hatte. Er hatte die Türen offen stehen lassen, allesamt, und hatte sich ohne jeden Schutz vor Eindringlingen schlafen gelegt. Womöglich hatte er sich inzwischen in einen anderen Raum zurück gezogen, vielleicht im Obergeschoss, und sich darin verbarrikadiert. Immerhin war er es, der ihre erste Begegnung im Schlaf zugebracht hatte und von seinem Gegenüber nicht viel mehr behalten haben konnte, als einige wenige, unbewusste Ahnungen.
Mit einem Ruck richtete sich der Postbote auf und überprüfte den Sitz seines Kragens. Die Sache, so schien es ihm, war hiermit beendet. In einer Eile, die es bisher in diesem Haus noch nicht gegeben hatte, durchmaß er die Küche, stieß die Tür mit einer Wucht auf, dass sie mit Krach gegen die Wand schwang und der Putz vorm Sturz rieselte. Erst beim letzten Schritt in der Diele, als schon die Haustür in Reichweite war, fiel dem Postboten auf, was ihn beim Eintreten stutzen gemacht hatte. Bei einer der Kommoden im Zimmer zu seiner Linken, war ein Türchen nicht ganz geschlossen. Im Dunkel dahinter war nichts zu erkennen, doch der Postbote, der nun fast fordernd in den Raum trat, meinte zu wissen, was er dahinter finden würde. Noch einmal wedelte er mit dem Brief, bevor er an das Schränkchen trat und sich niederkniete. Durch den Spalt konnte er ansatzweise die Formen eines Gesichtes erkennen, dessen Augen geschlossen waren und dessen Mund spannungslos in den Wangen hing. Der Anblick war ebenso seltsam wie beim ersten Mal, denn er gehörte nicht dort hin, doch weitaus weniger verstörend. So sehr sich der Postbote auch zusammen nahm und sich wieder und wieder seiner unmittelbaren Nähe zur Haustür vergewisserte, er brachte es nicht fertig, auch nur ein Wort an den Schlafenden zu richten. Er hielt ihm den Brief hin, sodass er die Adresse darauf gut hätte lesen können, wenn er nur die Augen geöffnet hätte. Doch unbeeindruckt lag der Mann im Schlaf.
Zähneknirschend kam der Postbote zu dem Schluss, dass er hier nichts würde ausrichten können, er konnte ihn einfach nicht wecken, irgendeine innere Ahnung verwehrte es ihm, die nur noch stärker wurde, je mehr er mit Blicken auf das verschlossene Gesicht eindrang.
Diesen Brief wird niemand mehr bekommen, sagte er sich und nickte selbst dazu. Mit den Gedanken schon in den Gängen des Postarchivs, einige zähe Erklärungen formulierend, machte er sich auf den Weg nach draußen. Eine weiße Hyazinthe, auf der Schwelle der Haustür drapiert, stoppte seinen Aufbruch. Er griff danach und wendete zugleich den Blick zum Zimmer des Schlafenden zurück. Mit einer schnellen Bewegung und vollkommen geräuschlos, schloss sich dort das Türchen der Kommode.
Erfasst von einer unbezwingbaren Neugier, stieß der Postbote die Haustür auf, um die Verbindung zur Außenwelt zu erweitern, und eilte in das Zimmer des Schlafenden. Er streckte die Hand nach dem Griff des Türchens und riss es auf. Nichts. Der Schrank war leer. Er öffnete auch das angrenzende Türchen und fand hier nur die zusammen geknüllten Reste der Bettstatt. Mit der flachen Hand tastete er hastig den Boden der Kommode ab, klopfte hier und da auf das Holz, und hörte auf das entstehende Geräusch. In immer größerer Hast öffnete er auch die restlichen Türchen des Möbels und fand hinter jeder nur wieder einen von allen Borden und Fächern befreiten Innenraum vor, grade groß genug um einem zusammengekauerten Menschen Platz zu bieten.
Da klappte hinter ihm, in einer anderen Ecke des Zimmers, ein anderes Türchen zu, das Klicken war deutlich zu hören. In seiner Hast stolperte der Postbote, bevor er das von ihm vermutete Schränkchen erreichen konnte. Mit beiden Händen riss er je eine Tür auf und blickte auf ein weiteres, verlassenes Lager hinab. Nun fiel ihm jedoch ein Detail ins Auge, das er in der Kommode nicht bemerkt hatte. In die Rückwand des Schrankes, die bei genauerer Betrachtung nicht ganz bis nach hinten an die Zimmerwand reichte, war ein quadratisches Türchen eingelassen, im Durchmesser kaum breiter als ein menschlicher Kopf. Es war so genau eingearbeitet, dass der Spalt im Holz noch weniger zu erkennen war, als die dünnsten Linien der Maserung. Mit den Fingern fuhr der Postbote die Linie entlang und suchte nach irgendeiner Unregelmäßigkeit darin, mit der man die Klappe hätte öffnen können. Mit leichtem Druck konnte er sie nach innen schieben, worauf sie, scheinbar durch einen Federmechanismus gespannt, nach außen hin aufschwang.
Ein vom hereinfallenden Licht erhelltes Quadrat des gleichen Holzes wurde im Innern sichtbar, offensichtlich die eigentliche Rückwand des Schrankes, die zusammen mit der falschen Wand einen Spalt von zwanzig bis dreißig Zentimetern Tiefe Platz ließ. Nicht ohne einen gewissen, instinktiven Widerwillen beugte sich der Postbote ein wenig in den Schrank hinein, um besser sehen zu können. Eine Hand steckte er in das geheime Türchen hinein und betastete das Holz dahinter. Der verborgene Raum schien sich nach allen Seiten hin auszudehnen und die ganze Breite und Höhe des Schrankes auszufüllen. Mehr war im Moment nicht festzustellen. Den Kopf durch die Klappe zu stecken, um nachzusehen, das lag für ihn ganz und gar außerhalb des Denkbaren. Von außen klopfte er die Seiten des Schrankes ab, als erwarte er irgendeine Antwort aus dem Innern, doch es blieb still. Und auch seine letzten, verzweifelten Versuche, das Möbelstück in Schwingung zu versetzten und es vielleicht sogar zum Umkippen zu bringen, blieben erfolglos.
Der Postbote hatte keine Anzeichen dafür entdecken können, und schon gar keine Erklärung dafür, aber er war sich sicher, dass der vormals schlafende Mann, auch dieses Möbelstück auf irgendeinem unklaren Wege bereits verlassen hatte.
Er steckte die Hyazinthe und den Brief in die Tasche und verließ das Haus, ohne noch auf irgendein Geräusch zu hören, dass womöglich aus einem der anderen Zimmer kam.
Doch das Haus ließ ihn nicht los. Und auf rätselhafte Weise, wie es nur in den frühen, schlaflosen Morgenstunden geschehen konnte, wurde er sich klar darüber, dass es sich bei genau jenem Mann, den er als einzigen in der Straße noch nicht hatte befragen können, genau um jenen Einzigen handeln musste, der ihm die ersehnte Auskunft geben könnte. Die Hyazinthen hatte der Postbote gemeinsam in ein hohes, schmales Glas gestellt, das vor dem Ostfenster stand, und das mitsamt den Blumen, jedes Mal, wenn früh am Tag die erste Sonne darauf fiel, leuchtete wie eine Einladung.
Als er auf seinen täglichen Routen nur oft genug am Haus vorbeigekommen war, wusste er, dass er es nicht länger aushalten würde, den Brief auch nur noch einen Tag bei sich zu behalten. Wenn er ihn nicht würde zustellen können, dann sollte er wenigstens im Gewahrsam des einzig wissenden Anwohners zurück bleiben. Er würde ihn dem Schlafenden unter die Decke schieben, welche er zu einem Kopfkissen zusammengerollt hatte, diese Geste würde unmissverständlich seine guten Absichten vermitteln. Mehr könnte er nicht tun, um seiner Pflicht nachzukommen.
Als er bei nächster Gelegenheit das Haus besuchte, in der Überzeugung, dass dies das letzte Mal wäre, nahm er sich beim Durchschreiten der Türen besonders viel Zeit, um die Zimmer zu studieren und diese Eindrücke möglichst getreu zu bewahren. Sofort fiel ihm in dem Raum rechts vor der Küche die nur angelehnte Klappe einer schwarz-braunen Kommode auf, die vor allen anderen Möbelstücken einen besonders antiken und kostbaren Eindruck auf ihn machte. In der Art wie man einen Abschied beginnt, betrat er flinken Schrittes den Raum und wollte schon die Hand zum Gruße ausstrecken, bis er sich wieder der besonderen Umstände bewusst war. Er kniete vor der geöffneten Klappe nieder, warf einen Blick auf den friedlich Schlafenden und holte den sorgsam gefalteten Brief aus der Tasche hervor. Mit einem Finger fuhr er die Zeilen der Adresse entlang, wie zur Erklärung und schob dann das Couvert mit aller Vorsicht unter die zusammen gerollte Decke am Kopfende. Eine Minute lang wartete er ab, ob der Mann irgendeine Reaktion darauf zeigen würde, und als er sicher war, seinen Schlaf nicht gestört zu haben, machte sich der Postbote auf den Weg nach draußen. Auf der Schwelle lag, wie erwartet, eine weiße Lilie, die er mit Selbstverständnis an sich nahm. Er steckte sie in die Tasche, doch beließ die Hand darauf.
Da kam ihm eine Idee.
In der Position, wie er sie vorgefunden hatte - wie er sie immer vorgefunden hatte - legte er sie zurück auf den Boden und ging in die Diele zurück. Im Zimmer, in dem er den Brief zurück gelassen hatte, fand er die noch eben geöffnete Kommode verschlossen vor. Ohne darin nachzusehen, ging er in den Flur zurück und lauschte. Im gegenüberliegenden Raum raschelte es, doch er rührte sich nicht. Seine Vermutung schien sich zu bewahrheiten. Mit der Faust schlug er gegen die Wand und das Geräusch verstummte. Er wusste, dass der Mann erwacht war, vielleicht sogar nur den Schlaf vorgetäuscht hatte, und immer, wenn man das Haus verließ, wieder in Bewegung kam. Mehr noch: Der Mann musste sogar, während man noch im Hause war, unbemerkt seine Position verändert haben, um die Hyazinthe rechtzeitig auf der Türschwelle platzieren zu können. Er benutzte dazu die doppelten Wände der Möbel, die auch untereinander irgendwie miteinander verbunden sein mussten, vielleicht durch Hohlräume unter dem Parkett. In jedem Falle musste er trotz seiner kräftigen Statur sehr gelenkig sein – vielleicht ein Akrobat - um die engen Winkel und Spalten überhaupt überwinden zu können. Warum aber zeigte er sich nur schlafend, und dass scheinbar bereitwillig, wenn Besuch kam, wohin gegen er jede seiner Bewegungen peinlichst ihm Verborgenen auszuführen gedachte?
Erneut raschelte es aus irgendeinem Raum, dann dass unverkennbare Klicken eines der Türchen. Der Postbote schritt den Korridor ab und pochte hier und da willkürlich gegen die Wände. Die Unruhe im Haus nahm hörbar zu, sie wanderte von Raum zu Raum, drang durch Wände, Decken und Böden, manchmal einer geraden Linie folgend, manchmal wie im Zickzackmuster. Einmal meinte der Postbote gar, die Bewegungen des Körpers direkt unter sich im Boden zu hören. Er stampfte mit dem Stiefel auf den Boden, und wie ein aufgescheuchtes Tier, entfernte sich das Geraschel. In seiner Verfolgung, während der er so tief in das Gebäude eindrang, wie noch nie zuvor, stellte er fest, dass so gut wie jeder der Räume komplett von einem der Korridore umschlossen war, von denen immer jeweils zwei Türen hinein und hinaus führten. Das ist das Nest eines Maulwurfs, dachte er mit einiger Arroganz, mit Flucht- und Irrwegen darin. Umso vehementer folgte er den Geräuschen durchs Haus und schaffte es zwischendurch tatsächlich, den Flüchtigen einzuholen und direkt in seiner Nähe Lärm zu machen, worauf der Gejagte einen Haken im Gebälk schlug und in anderer Richtung davon kroch.
So trieb der Postbote es noch einige Zeit, bis er sich vollkommen davon überzeugt hatte, dass nicht er selbst es war, der Grund zur Sorge hatte. Mit jedem Hieb und jedem Tritt wurde er sicherer und fordernder in seiner Vorgehensweise, und letztlich war es ihm, als verrichtete er irgendeinen lang aufgeschobenen, lästigen Dienst. Am Ende langweilte ihn das ewige Entfleuchen des Unsichtbaren, der darüber nie müde zu werden schien, und er öffnete in einem Anfall blinder Wut einen der besonders großen Schränke und zerrte alle Decken heraus, die er zu fassen bekam.
Als er vollkommen außer Atem die bunt gemusterten Knäuel vor seinen Füßen betrachtete, spürte er sein Gewissen. Er verabscheute einen Mann, der niemandem ein Leid getan hatte. Das musste aufhören.
Er ging durch einen der Flure zurück, hielt sich dabei solange an der linken Wand, bis er in die Diele zurück gelangte. Aus dem Raum neben der Küche holte er den Brief zurück, der scheinbar unberührt an Ort und Stelle in der Kommode zurück geblieben war und zerriss ihn im Hinausgehen.
„Den bekommt niemand mehr“, rief er über die Schulter zurück und zerstreute die Fetzen in alle Winde. Auf der Schwelle lag die Hyazinthe, nun etwas aufrecht gegen den Türrahmen gelehnt. Der Postbote wusste, dass er sie so nicht zurück gelassen hatte, und ging achtlos an ihr vorüber.

Die Jahre vergingen, und mit ihnen die Erinnerungen an den schlafenden Mann. Ihm Alter ergraut und mittellos, schlich der ehemalige Postbote die Straße entlang und ohne dergleichen zu ahnen oder verstehen zu können, blieb sein Blick an der weißen Hyazinthe haften, die nur einen Steinwurf entfernt von außen an der Tür eben jenes Hauses lehnte. Trüben Sinnes schlurfte er ihr entgegen, fast blind wie er war, und streckte die Finger nach ihrer sternförmig strahlenden Blüte aus. Mit einer Hand stützte er sich beim Bücken gegen die Tür, worauf diese sich widerstandslos öffnete. Die Blume mit den Fingern betastend, entzückt wie ein kleines Kind, betrat er die Diele und meinte, ein lang vergessenes Geheimnis endlich lüften zu können. Die ärmliche Ausstattung, die Symmetrie der Türen und der Zimmer, die dazwischen abzweigenden Fluchten, all das schien ihm gleichzeitig so vertraut und so undurchschaubar, dass sein Herz vor Freude schmerzte. Irgendetwas war in diesen Räumen geschehen, versuchte er sich zu erinnern, oder nicht geschehen, dass noch immer auf ihn wartete. Sein Dienst war noch nicht getan.
Er folgte auf gut Glück einem der Korridore und gelangte, als ihm schon die Beine müde wurden, an eine hölzerne, geländerlose Treppe, die ihm, obwohl er sich an nichts erinnern konnte, besonders befremdlich erschien. Nie im Leben hatte er ihre Stufen betreten, so viel stand fest. Vielleicht hatte es sie damals gar nicht gegeben, denn er wusste beim besten Willen nicht, was im Obergeschoss war. Auf allen Vieren, denn anderes erlaubten ihm seine schwindenden Kräfte nicht mehr, nahm er Stufe um Stufe, und fand sich schon bald im Vorzimmer eines Raumes wieder, dessen Tür nur angelehnt war. Ihm war nicht ganz klar, was ihm daran Sorge bereitete, denn immerhin war nichts Ungewöhnliches daran, dass ein Zimmer nur über eine Tür verfügte. Er steckte sich die Hyazinthe in die Brustasche, um beide Hände frei zu haben und humpelte voran. Mit letzter Kraft schob er die Tür auf, die mit einem schabenden Geräusch über einen dicken Teppich hinweg fuhr, und warf einen Blick hinein.
In der Mitte des Raumes, von ihm abgewandt, saß an einem schweren Eichenholzsekretär, eine massige, dunkel gekleidete Männergestalt, welche er sofort als jenen Mann identifizierte, den er Jahrzehnte zuvor durchs ganze Haus gehetzt hatte. Er wirkte müde und resigniert, aber nicht kraftlos.
Dieser Anblick hatte mehr Eigenschaften eines Gemäldes an sich, als die einer räumlichen Szenerie, über allem lag ein intimer, verletzlicher Schleier, und es wurde dem alten Postboten schlagartig bewusst, dass dort nichts und niemand eine Störung vertrüge. Von den Ellenbogen des Mannes, mit den Ärmel seines Jacketts verwoben, zogen sich feine Bahnen durchscheinenden Tafts bis zu den Spalten im Parkett, links und rechts des Sekretärs. Es hatte den Anschein, als wäre er dadurch an den Boden gefesselt, was jedoch absurd erschien, betrachtete man die Zerbrechlichkeit des Stoffes.
Ein großer Schmerz lag in diesem Anblick, ein lebenslanges Leid, wie ein stummer Schrei, der dem Mann im geneigten Kopfe stecken geblieben war, und der nun auch dem alten Postboten die Kehle hinauf zu kriechen schien.
Er fiel auf die Knie, vor Verzweiflung, nicht vor Schwäche, und klammerte sich an der Hyazinthe fest, die er ja nun, so viele Jahre später, doch noch aufgelesen hatte. Es zählte, dass er sich am Ende doch noch besonnen hatte, flüsterten seine gesprungenen Lippen. Aber der Mann am Sekretär hörte nicht auf ihn. Einen Finger langsam erhebend, wie das Messer zum Stich, deutete er auf einen Schrank in der Ecke. Das dünne Gewirk an seinem erhobenen Ellenbogen war aufs Äußerste gespannt, und durchsichtig wie Milchglas geworden. Der alte Postbote, der ihn nicht verstehen wollte, wendete den Blick ab und sprach weiter von der späten Einsicht, die er nun erlangt hatte, und davon, wie er die ersten beiden Hyazinthen - in Dankbarkeit entgegen genommen - solange am Leben erhalten hatte, wie es nur möglich gewesen war, und dass er sie gepflegt hatte, wie er noch nie ein lebendes Wesen zuvor gepflegt hatte.
Drohend begann der Zeigefinger des Mannes zu zittern, so, als spränge er jeden Moment auf und würde es mit eigenen Händen zu Ende bringen. Der alte Postbote ließ erschöpft den Kopf hängen. Die Blume sank ihm zerdrückt und geknickt aus den knochigen Fingern. Im Kriechgang, ein Ohr auf den Teppich gelegt, schob er sich vorwärts zum bedeuteten Schrank in der Ecke. Er leckte die Tränen, die ihm von einem Augen ins andere, und dann zu Boden rannen, begierig aus dem Stoff, als erwartete er einen langen Durst. Dann, als er die lange Strecke zurück gelegt hatte und mit dem Scheitel gegen die angelehnte Schranktür stieß, hielt er inne. Obwohl er sich mit allen Sinnen bereit gemacht hatte, in sein Verhängnis zu gehen, war die Angst doch zu groß. Sein Blick wurde trüb vor Tränen und er glaubte, wenn er es nur bis zum Alleräußersten triebe, dann müsste doch irgendwo noch etwas Gutes in ihm zu finden sein.
Eine Stimme wie ein Donnerschlag erfüllte den Raum und brachte das ganze Haus zum Zittern.
„Geh!“
Der alte Postmann war frei von allen Bedenken, von aller Hoffnung. Sein Gesicht war trocken, und er war stumm geworden. Mit der Zunge zog er die Schranktür auf und kroch hinein. Ganz wie ein Embryo rollte er sich zusammen, bog seine knirschende Wirbelsäule über alle Schmerzen hinaus zusammen, und er musste die Zehen einklappen, um auch ganz hinein zu passen. Von außen drückte eine kräftige Hand die Tür zu, und ein schwerer Schlüssel wurde im Schloss gedreht.
Nach einiger Zeit erkannte der Postbote im Dunkeln vor sich ein Häufchen zerfetzten Papiers, welches er mit etwas Anstrengung als die Reste des von ihm, ein halbes Leben zuvor, zerstörten Briefes erkannte. Nach Minuten, Stunden oder Tagen, in denen ihm immer wieder vor Erschöpfung die Augen zu fielen, konnte er im Dunkeln die ersten Buchstaben des Briefes entziffern. Bald waren es ganze Wörter und Sätze. Immer wenn er einen der Fetzen vollständig entziffert und den Inhalt auswendig gelernt hatte, kaute und schluckte er das Stückchen herunter. Am Ende, nach einer schier unüberschaubaren Zeit, als er schon nicht mehr wusste, wer er war oder wo, die unerträgliche Enge zu einer endlosen Weite geworden war, und seine Gedanken nur noch um die Zeilen des Briefes kreisten, und sein Bewusstsein aus gar nichts anderem mehr zu bestehen schien, drehte er sich in windenden Bewegungen der Rückwand des Schrankes zu. Mit der Zunge tastete er nach der winzig kleinen Fuge der geheimen Klappe darin, und mit leichtem Druck darauf öffnete sie sich durch ihre gespannte Feder.
Mit einem schiefen Lächeln auf den Lippen, die Zeilen des Briefes noch einmal durchdenkend, ließ er sich in den Spalt dahinter sinken und verschwand.

 

Ahoj Richy

Du erzählst hier von der Begegnung eines Postboten mit einer menschlichen Erscheinung, die in einem alten verlassenen Haus auf ungewöhnliche Weise zu leben scheint.
Ein unzustellbarer Brief und eine weisse Lilie spielen anscheinend eine wichtige Rolle.
Der Postbote begeht einen Regeverstoss, in dem er einen unzustellbaren Brief zerreist. Gegen Ende der Geschichte holt den nun erinnerungslosen und gealterten Postboten seine Vergangenheit ein und er wird vom "Hausherrn" gezwungen, die Rolle des armen Sünders einzunehmen, den zerrissenen Brief zu lesen und zu "verinnerlichen", bis er schlussendlich durch eine Ritze pffffffft ...

Auch wenn die Thematik durchaus ihren Reiz hat, verschenkst du meiner Meinung nach das Potential durch Überlänge und Spannungsarmut, ich wähnte mich zeitweise in einer Warteschlaufe - please hold the line - und hoffte, irgend eine neue Wendung brächte die Geschichte weiter. Doch plötzlich war der Brief zerrissen, der Postote gealtert und das sehr vage gehaltene Ende liess mich relativ ratlos zurück.

Leider bleibt mir der Sinn des Textes verschlossen, wie ist die weisse Lilie zu deuten? Sie gilt ja als Symbol für Reinheit und Schönheit, allerdings auch als Zeichen für den Tod. Dein Prot kämpft mit dem Sinn der Postzustellung der scheinbar verloren gegangenen Adresse (Unschuld?), und wie es damit nun weiter gehen soll. Am Ende nimmt er das Geheimnis um den ominösen Brief mit ins Grab.

Ich weiss nicht, ob dir das jetzt was bringt, aber ich wollte diesen Text, der mich zeitweise sogar ein bisschen gefangen genommen hat, einfach nicht unkommentiert zurücklassen.

Gruss dot

 

Letzte Empfehlungen

Neue Texte

Zurück
Anfang Bottom