Der Poplitarat
REPORTAGE: BENJAMIN VON STUCKRAD-BARRE AUF PR-TOUR
Johannes B. Kerner begrüßt den Schriftsteller Benjamin
von Stuckrad-Barre "ganz herzlich" zur Aufzeichnung im
Studio Hamburg. Stuckrad-Barres leicht nach vorn
gebeugte Haltung und sein kopfnickender freundlicher
Gruß ins Studiopublikum ähneln einem zerstreuten
Professor. Das kommt auf den ersten Blick etwas
unnatürlich rüber bei einem gutaussehenden 27-jährigen
„Hugo“-Anzugträger. Auch die Kerner-Musik, dieser
heitere Bigbandjingle, und dieser Gast passen nicht so
recht zusammen.
Im Studio tummeln sich neben Rentnern aus Lüneburg
auch „Stucki“-Fans. Eines der Mädchen möchte sich
Bücher von ihrem Star signieren lassen. „Worüber
schreiben Sie?“, fragt Kerner. Stuckrad-Barre zögert
kurz. „Über alles“, erwidert er und findet schnell den
Dreh zu seinem neuen Buch „Deutsches Theater“. Kerner
interessiert sich aber mehr für Stuckrad-Barres
Kindheit als vierter Spross einer Bremer
Pastorenfamilie. Und weil Kerner heute aus aktuellem
Anlass noch ein altes Interview mit der Knef zeigt,
hat der eloquente „Popliterat“ (Kerner) leider recht
schnell zuendegepopt.
RTL-Nachrichtensprecher Peter Klöppel (ihm zu Ehren
trägt Stuckrad-Barre heute eine Krawatte)kommt dazu,
jetzt spielt stuckrad-Barre Talkshow-Chaot, fällt
Klöppels sentimentalen Erinnerungen an den 11.
September ins Wort oder guckt bei dessen Erzählungen
gelangweilt weg. Er scheint ein Faible für die eigenen
Hände zu haben, die er sich ab und zu genauer ansieht.
Kann aber auch an Klöppel liegen.
Die Aufzeichnung ist zu Ende, und die Bücher des
Mädchens verbleiben ohne BvS-B-Signatur – weil
Stuckrad-Barre fluchtartig aus dem Studio rennt,
diesmal weniger gekrümmt, und lässt sich schnell von
einem Audi A8 mit Kerner-Logo in den Stadtteil
Eimsbüttel chauffieren. Termine, Termine.
Drei Stunden und zwei Termine später beim
Jugendhörfunksender „N-Joy“: Mit einem langsam
ausgesprochenen „Benjamin von Stuckrad“ (ohne -Barre)
stellt er sich höflichst bei der Moderatorin vor. „Wie
war´s bei Kerner?“, fragt er, bevor es On Air geht. Er
resümiert, dass Kerners Fragen an Katja Kessler, die
Klatschtante von ´Bild´, einen Tag zuvor wesentlich
glücklicher gewählt waren. "Wäre ich bloß nicht zu Kerner gegangen", trauert er vor sich hin.
Stuckrad-Barre ölt mit einem Schluck Kaffee seine
Stimmbänder und spult dann wieder ganz entspannt
wohlformulierte Antworten ab, bevor er den Hörern ein
Kapitel aus „Deutsches Theater“ vorliest. Das tut er
sehr leidenschaftlich, wie immer. Jetzt aber schnell,
schließlich warten noch Redakteure der „Lübecker
Nachrichten“ und der Zug in seine Wahl-Heimat Berlin
fährt in 45 Minuten. „Ich muss den Zug kriegen, muss
noch was fertig schreiben heute Abend“, sagt
Stuckrad-Barre und eilt im Lodenmantel, zwei Koffern
und Zeitungen unterm Arm aus dem Funkhaus.
Vollgeregnet steigen wir ins Taxi. Warum auch immer, plötzlich ist Dieter Bohlen das Thema. "Dieter Bohlen ist soo eine Zumutung. Rein ästhetisch", sagt Stuckrad-Barre ernst. Und: "Die von Dieter Bohlen verwalteten und repräsentierten Werte haben keine einzige Schnittmenge mit den meinen."
Die meisten Ampeln
sind rot. „Bitte nehmen sie die Ampel noch“, sagt
Stuckrad-Barre höflich und gleichzeitig dominant zum
Taxifahrer, doch es nützt nichts: Der Zug ist schon
abgefahren.
Im Bahnhof erzählt Stuckrad-Barre sushimampfend, wie
alles begann, so soloalbumtechnisch. „Ich sollte für den Verlag eine
Biographie über die Fantastischen Vier schreiben. Dann
merkte ich, dass ich die nicht schreiben will und
hatte Rohformen dieses Buchs in der Hand und habe
gesagt: druckt doch das. Die meinten dann, ja
Freundchen, wenn du da noch ´n bisschen was dran
machst..“
Direkt hinter der Sushi-Bar ist ein Schlemmer-Stand
von „Gosch“. Genau, das ist die Sylter
Fischimbisskette, für die der Autor drei Tage gejobbt
hat, um später in Wallraff-Marnier über die
Machenschaften im Fischbrötchenbusiness zu berichten.
Darum verwundert es wenig, dass uns eine Verkäuferin
beim Fotografieren verscheucht.
„Gosch war eine extreme Bühnensituation“, erinnert
sich Stuckrad-Barre, „weil die Hinterbühne, also die
Küche, nicht zu erkennen ist für den Gast. Er sieht
nur die Aufführung. Das, was auf dem Teller ist. Sonst
würde er das nicht essen - wahrscheinlich. Aber
ehrlich gesagt war Gosch auch ein intertextueller
kleiner Schwank für meinen Freund Christian Kracht,
der in seinem Buch ´Faserland´ Sylt vorkommen lässt.“
Auf dem Weg zum Bahnsteig setzt es Schulterklopfer.
„Geiles Interview mit Kempowski, war sehr schön“, sagt
jemand im Vorbeigehen. Stuckrad-Barre bedankt sich
höflich, aber „das Erkanntwerden macht mich paranoid“,
sagt er, „in Berlin-Mitte ausgehen ist die Hölle.“
Dann kommt ein bärtiger Mann auf uns zu, der nicht
besonders klasse riecht, Stuckrad-Barre nicht kennt
und ihm ein zerknittertes Formular entgegenstreckt:
„Ich komme aus Dänemark und kann mich ausweisen“, sagt
er, weil er „noch 10 Euro und 50 Cent für die
Heimreise“ braucht. Stuckrad-Barre gibt dem Mann, der
seine Notlage ausgesprochen höflich erläutert hatte,
20 Euro. „Ein guter Vortrag“, lobt der Spender, „er
sah zwar aus wie ein Junkie, aber egal.“
Der Zug kommt. Stuckrad-Barre lässt sich ein paar
Zigaretten schenken und steigt ein. „Danke, dann
setzte ich mich ins Raucherabteil.“ Um zirka 22 Uhr
wird er in Berlin ankommen, aber die Johannes B.
Kerner-Show möchte er sich dann nicht mehr ansehen.