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Der Poetenkreis
„Liebe Freunde des ‚Kleinen Poetenkreises‘!“ Die Dame im grünen Kostüm zupfte an ihrer Perlenkette und beugte sich weiter zum Mikrofon. Sie lächelte ins übersichtliche Publikum.
„Es ist mir eine besondere Freude, Sie, liebe Gäste und euch, verehrte Künstler, hier zu unserem ersten Treffen begrüßen zu dürfen. Glücklicherweise hat uns der Kleintierjagdverein diesen kleinen Saal zur Verfügung gestellt. Herzlichen Dank noch einmal dafür an Ferdinand Schmieder.“ Sie klatschte dreimal lautlos in Richtung eines Mannes in waidmännischer Uniform, bevor sich der Beifall erhob. Ferdinand Schmieder nickte mit verkniffenem Gesicht in die Gegend und zwirbelte seinen grauen Schnauzbart.
Ein Mann lachte gekünstelt. „Ich musste ein Treffen mit einem meiner Verleger absagen.“ flüsterte er recht laut zu seinem Nachbarn. Der hob erstaunt die Augenbrauen.
„Du hast einen Verleger, Rüdiger?“
Rüdiger grinste breit.
Die Dame auf dem Podium lächelte und klammerte sich an das Mikrofon. „Als sich unser kleiner Poetenkreis zusammenfand vor zirka zehn Monaten, wussten wir noch nicht, dass wir es einmal auf so viele Mitglieder bringen werden. Mittlerweile sind wir ja schon acht. Und viele unserer Freunde hier hatten noch keine Ahnung davon, dass sie auch einmal mit einem ihrer Werke an die Öffentlichkeit gehen werden."
„Der Kerl liegt mir schon seit Wochen in den Ohren. Will Liebesgedichte von mir rausbringen.“, raunte Rüdiger.
„In einem Band mit anderen Dichtern oder ein eigenes Buch?“
„Nein. Der ist der Redakteur einer großen Zeitschrift .“
„Und nun bitte ich Udo We ... Doktor Udo Werkschneid, uns sein ausgewähltes Werk vorzutragen. Danach können wir darüber diskutieren.“
Die Dame verließ das Podium und ein schmächtiger Mann in steifem Lederjackett kletterte auf die Bühne.
Er räusperte sich, nestelte an seiner Krawatte und stellte das Mikrofon ein Stück höher und wieder herunter.
„Liebe Freunde. Wie ihr wisst, arbeite ich seit mehreren Wochen an meinem Zyklus ‚Das Sein als Gedicht - Gedichte des Seins‘.“
Rüdiger zog eine Augenbraue hoch. „Ich arbeite manchmal Monate an einem Werk. Eines meiner Gedichte liegt schon seit zwei Jahren unvollendet in einer Schublade. Wer hat eigentlich festgelegt, wer hier liest?“
„Das wurde wohl ausgelost, wenn ich das richtig in Erinnerung habe.“, flüsterte sein Nachbar.
„Also ich hab nicht mit gelost.“
Udo öffnete eine Kladde, in der mehrere Zettel steckten.
„Dieser Zyklus eröffnet dem Leser eine völlig neue Sicht auf die Natur. Genauso, wie es in der Mathematik gerade und ungerade, transzendente und irrationale Zahlen gibt, so lösen die Worte Gedanken aus und diese wiederum Gefühle. Mathematische Operationen als Metapher für Vorgänge in der Natur, für Handlungen der Natur an der Natur, Objekte und Subjekte der Natur als Metapher für das Sein.“
„Meine Güte“, lachte Rüdiger leise, „manche Leute gehen mit ihrem Titel sogar pinkeln.“ Er presste sich mit verschränkten Armen an die Rückenlehne.
Udo holte tief Luft und schniefte ins Mikrofon. Sein schwarzes Lederjackett knarrte, als er über die Seiten strich.
„Der Stein.“
Er lehnte sich zurück und blickte ins Leere. Dann erhob er wieder seine Stimme.
„Der Stein.
Der Stein liegt.
Er atmet nicht.
Der Stein.
Er wird nass.
Dann trocknet er wieder.
Der Stein.
Der Stein liegt.“
Udo klappte sein Schreibheft wieder zu und blickte in den Saal. Der Beifall erklang, zunächst zögerlich, dann etwas herzhafter.
„Darf man Anmerkungen machen?“ Eine Frau mit grauer Igelfrisur erhob sich.
„Bitte, Luise“, sagte Udo und nickte ihr mit geschlossenen Augen zu.
„Also ... mir gefällt das, dass du das Liegen des Steins verwendet hast als Sinnbild für den Stillstand. Ich meine“, sie griff sich an den Blusenkragen, „diese Metapher drückt in ihrer Klarheit die Stagnation in jedem Prozess aus, sei es nun zwischenmenschlich, gesellschaftlich oder wissenschaftlich.“
„Das war meine Absicht, obwohl ich den Schwerpunkt eindeutig in den zwischenmenschlichen Bereich gelegt habe.“ sagte Udo lächelnd.
„Doch, doch, ich hab das schon gesehen.“, beeilte sie sich. „Ich fand, nur, dass der gesellschaftliche Aspekt, der ja die Fortsetzung des Zwischenmenschlichen in den allgemeinen Bereich ist, dass gerade dieser so klar sichtbar wurde.“
„Das mag wohl sein, liebe Luise, dass es in deinen Gedanken so scheint.“
Ein Mann erhob sich.
„Du schaffst es, mit wenigen Worten eine ganze Spanne von Problemen zu umreißen, ohne dass sich gleich beim ersten Mal hören alles erschließt. Ich werde noch lange über dein Gedicht nachdenken, Herr Doktor. Da ist dir ein großer Wurf gelungen. Ein Steinwurf sozusagen, haha.“
Es wurde geschmunzelt, man klatschte noch einmal. Rüdiger räusperte sich hörbar.
„Also ich kenne mich schon ein bisschen in der Literatur aus, möchte ich hier mal in aller Bescheidenheit sagen. Aber ich weiß nicht genau, was jetzt die Aussage sein soll. Aber ich habe ja auch kein Abitur“, er lachte in die Runde. „Udo, bitte, sag einem armen dummen Dichter, der sich mit seinen verlegten Gedichten kaum über Wasser halten kann, was du genau meinst.“
„Ich seh gerade nicht, wer dort spricht“, näselte Udo und blickte in dem winzigen Raum herum. „Könntest du bitte aufstehen?“
Rüdiger zögerte einen Moment, dann stieß er sich schnaufend mit dem Rücken vom Stuhl ab und sprang auf.
„Ah, ähm ... Rainhard, wie war deine Frage bitte?“
„Rüdiger. Ich versteh nicht, was ein herumliegender Stein mit einer Beziehung zu tun hat. Aber wie schon gesagt, ich bin ja auch kein Doktor der Mathematik, mein Freund.“
Im Saal lachten einige verhalten.
Udo blickte finster auf sein Pult. Dann holte er tief Luft. „Das Liegen eines Dinges bedeutet Stillstand, wie Luise schon richtig erkannt hat. Der Zuhörer fragt sich, warum der Stein dort liegt. Und er fragt sich, seit wann er dort liegt. Die Zeitdauer ist nur vage angedeutet in den Zeilen ‚Er wird nass. Dann trocknet er wieder.‘ Das sind genau die Fragen, die man sich auch in einer Beziehung stellt.“
Rüdiger kicherte. „Also ich stell mir meist eigentlich nur die Frage, was mein Schatz unter dem Rock trägt und was es zum Essen gibt.“
Wieder erntete er einige Lacher.
„Aber mal im Ernst: Denkst du wirklich, dass ein Leser sich das fragt? In meinem Gedicht ‚Der Gashahn‘ hatte ich auch damals gedacht, dass dem Leser verständlich würde, dass es um das Kochen einer Forelle geht, die Lieblingsspeise des Protagonisten. Zumal ich ja auch den ‚Dichterpreis von Grunsberg‘ dafür erhielt und mit einem nicht so winzigen Foto in unserer Zeitung war. Aber als mir dann eine Leserin schrieb, sie hätte die ganze Zeit das Gefühl gehabt, dass der Koch an Selbstmord denkt, habe ich doch gestaunt. Gut, das war nun nur eine Leserin und wer weiß, in welcher Verfassung die war, aber trotzdem muss man sich als Schreiberling fragen, ob man auch von den anderen verstanden wird. Da ist man in der Pflicht als Autor.“
Udo atmete hörbar aus, seine Miene verdüsterte sich noch mehr.
„Das ist mir natürlich bewusst, welche Verantwortung ein Schreibender hat. Es ist so, dass ein Stein den Stillstand symbolisiert. Und es ist so, dass man sich in einer Beziehung fragt ‚warum‘. Oder sich bewusst wird, dass man schon sehr lange mit jemandem zusammen ist. Daher ist die Metapher schlüssig. Und man braucht nicht viel Bildung, um das zu sehen und zu verstehen. Es handelt sich hier um Minimalismus in seiner knappsten und effektivsten Form.“
Rüdiger setzte sich und verschränkte wieder die Arme. „Gerhard Brückenstrieb hat in seinen Gedichten auch minimalistisch gearbeitet, wie du vielleicht weißt. Aber so minimalistisch, dass er meinte, dass jemand bei einem Stein an eine Zweierbeziehung denkt, war er dann doch nicht. Und immerhin war er der Meister des Minimalismus im vorigen Jahrhundert.“
„Brückenstrieb war seiner Zeit weit voraus. Auch er wurde angefeindet wegen seiner Schreibweise. Für dieses Jahrhundert jedoch ist er veraltet. Die Zeit bringt neue Dichter und Denker.“ Jetzt grinste Udo vom Podium herab. „Vielleicht habt ihr gerade die Geburt einer neuen Form des Minimalismus miterlebt.“
Luise erhob sich. „Also ich möchte noch etwas dazu sagen, wenn ich darf.“
„Bitte, Luise.“
„Möglicherweise sollte man vielleicht unterscheiden zwischen männlicher und weiblicher Literatur. Ich meine ...“
„Ach, nein, Luise, das Thema hat doch schon so einen Bart.“ Rüdiger fuchtelte mit der Hand unter seinem Kinn herum. „Es mag sein, dass manche Frauen bestimmte Literatur nicht verstehen, zum Beispiel für mein Gedicht ‚Der Minirock‘ bin ich böse beschimpft worden als Sexist von ein paar verkappten Weibern, die seit Ewigkeiten keinen Mann mehr auf der Bettkante hatten, aber von den Männern habe ich nur zustimmende Zuschriften bekommen. Keine einzige ablehnende oder gar bösartige. Aber grundsätzlich bin ich gegen eine solche Einteilung. Metaphern sind allgemein gültig, unabhängig vom Geschlecht, Punkt.“
Luise setzte sich. Rüdiger wandte sich wieder an Udo.
„Minimalismus bedeutet, die Inhalte so zu verkürzen, dass nur noch die Grundaussage bleibt. Ich selbst bin kein Freund von minimalistischen Gedichten, da ich den ausladenden Stil sehr schätze und auch so schreibe. Und das ist nicht das verkehrteste, wie mir die Zustimmung und der Beifall der Leserschaft zeigt.“
Udo schnaufte. „Es ist nun mal mein Stil, das Wesentliche noch zu verknappen, dass sich dem Leser erst auf den zweiten Blick erschließt, welchen Inhalt ich mit meinem Werk transportiere.“
„Wenn es sich denn erschließt, mein Freund. Ich selber schätze den Minimalismus auch, bevorzuge doch zumeist den Stil, der dem Leser etwas mehr bieten kann. Ich zitier mal aus meinem Gedicht ‚Das Laken‘:
Stolz schwankend sich die üppig-füllige Blüte in dunklen Winden wendet,
der kahle kalte Mond strahlt auf einsame Pfade, die sich vorwärts schlängeln durch blanke Düsternis.
Weiß-bleich das kalte Laken sich erschlafft spannt über die Matratze.
Rostig-kalte Federn in ihr die Kraft bergen für Zeiten, die kamen, für Zeiten die gingen.
Sternenwinde brechen durchs Fenster ...“
„Wir sollten uns bei einer Lesung auf das Werk eines Künstlers konzentrieren“, bemerkte Udo und starrte böse zu Rüdiger herunter. „Ich finde auch, dass dies keine Dichtung im eigentlichen Sinne ist.“
Rüdiger kaute auf seiner Unterlippe. „Ach ja? Und wie willst du das festlegen? Du müsstest wissen, dass sich ein Gedicht nicht immer reimen muss.“
Einige lachten, während Udos Gesicht versteinerte.
„Im übrigen finde ich nicht, dass wir uns hier so dogmatisch verhalten sollten. Es muss unter Künstlern auch möglich sein, ein bisschen flexibel zu sein, und ich würde gern mein Gedicht weiter vortragen.“
„Und ich finde, dass wir uns bei einer Lesung auf einen Künstler beschränken sollten“, beharrte Udo.
„Wir sollten das nicht so eng sehen“, mischte sich ein anderer ein. „Mich würde das Gedicht ‚Der Minirock‘ interessieren.“
Vereinzeltes Gelächter war zu hören.
„Was denn?“, fragte der Mann mit gierigem Blick. „Es ist doch klar, dass solche Themen viel mehr Leser anziehen als unverständliche Metaphern.“
Rüdiger blickte triumphierend zu Udo hinauf, schnappte sich dann seine Tasche und kam auf das Podium. Udo schnappte nach Luft.
„Also man hat mir gesagt, dass ich heute der Vortragende bin. Ich finde es nicht gut, wenn Regeln erst aufgestellt und dann nicht eingehalten werden.“
Luise erhob sich abermals.
„Also, ich denke, Udo hat recht. Ich glaube, es ist besser, wenn wir uns immer auf einen Dichter konzentrieren, damit man sich eingehend mit seinem Werk befassen kann. Und Rüdiger hat eine ganz andere Schreibweise, das würde zu Vergleichen führen, was den Hörer verwirren könnte.“
„Also bitte, Luise.“ Udo bohrte seinen Blick in Luises erschrockenes Gesicht. „Ich muss den Vergleich mit diesem - ich will es mal vorsichtig formulieren - ausufernden Stil nun nicht fürchten!“
„Nein, nein, da hast du was falsch verstanden, ich ...“
„Du hast das genauso gesagt, Luise. Aber das ist jetzt unwichtig. Bitte schön. Wenn es denn sein soll, können auch Rüdiger und ich abwechselnd Gedichte vortragen.“
Rüdiger zuckte lächelnd mit den schmalen Schultern.
„Mir ist das völlig gleich!“
Die Leute blickten sich ratlos an.
„Also, dann hätte ich jetzt gern den ‚Minirock‘ gehört.“, wiederholte der Mann mit dem gierigen Blick.
„So sei es!“, rief Rüdiger. Er zog ein in Leder gebundenes Schreibbuch hervor und blätterte.
„Wäre es nicht interessanter, wenn man den beiden ein Thema stellen würde, zu dem sie innerhalb der nächsten zehn Minuten ein Gedicht schreiben? Dann könnte man besser vergleichen ...“, warf der Vorsitzende des Kleintierjagdvereins ein.
Udo und Rüdiger blickten verstört zu ihm herunter.
„Das ist ein interessanter Vorschlag!“, rief ein anderer. Die Zuhörerschaft murmelte zustimmend.
„Ich finde das keine gute Idee!“, rief Rüdiger. „Ich benötige manchmal Wochen ...“
„Angst?“, fragte Udo hämisch.
Rüdiger kniff die Augen zu zwei Schlitzen zusammen.
„Ich muss wohl den Vergleich mit dir nicht fürchten, mein lieber Freund.“, zischte er.
Ferdinand Schmieder, der Vorsitzende, zwirbelte seinen Bart. „Na, dann ist ja alles klar. Weiß jemand ein Thema?“
„Sex“, rief der Mann, der auf den „Minirock“ hatte verzichten müssen.
„Moment!“, rief Udo. „Wer sagt denn, dass ich oder Rüdiger nicht schon längst einmal zu diesem Thema ein Gedicht geschrieben haben, was nur noch nicht veröffentlicht wurde ... “
„Das wird bei mir schwer ... “, Rüdiger lächelte. „Von mir wurde schon so viel veröffentlicht.“
„Wir sollten also ein Thema nehmen, was so ungewöhnlich ist, dass es unwahrscheinlich ist, dass jemand schon mal ein Gedicht darüber geschrieben hat“, entschied der Vorsitzende. „Hat jemand einen Vorschlag?“
Schlagartig verstummten alle.
„Die Frau“, schlug der Mann mit dem gierigen Blick vor.
„Das ist doch nichts ungewöhnliches ... “, warf Udo ein.
„Das Tattoo.“
„Das gefällt mir“, meinte der Vorsitzende. „Ich denke nicht, dass ihr zwei darüber schon mal was geschrieben habt.“
Gemurmel füllte wieder den Raum.
„Also gut. Das Thema lautet ‚Das Tattoo‘.“, entschied der Vorsitzende kurzerhand. „Ich krieg nämlich langsam Durst.“
Udo und Rüdiger griffen sich ihre Kladden.
Nur das Kratzen der Stifte wisperte durch die bedeutungsschwangere Stille. Ab und zu unterbrachen die beiden Poeten ihre Schöpferphase, um ein weiteres Loch in die Luft zu starren. Ferdinand Schmieder, der Vorsitzende des Kleintierjagdvereins, verfolgte den Sekundenzeiger auf seiner silbernen Taschenuhr. Endlich war die Zeit um und er seinem kalten Bier ein Stück näher.
„Vorbei!“, rief er. „So, jetzt zeigt mal, was ihr so fabriziert habt!“
Udo strich noch schnell etwas aus, Rüdiger steckte seinen Bleistift wieder sorgfältig in sein Federmäppchen.
„Wer zuerst?“, fragte Ferdinand.
„Das ist mir ganz gleich“, meinte Rüdiger.
„Na gut, dann fang ich an“, sagte Udo schnell.
„Wir können auch ein Münze werfen!“, rief Rüdiger hastig. „Ich nehm Kopf.“
Ferdinand fummelte keuchend ein Geldstück aus seiner Hosentasche und warf es in die Luft.
„Zahl!“, ließ er die Dichter wissen.
Udo schob triumphierend seine Kladde in die Mitte des Pultes. Er wartete, bis Rüdiger sich auf den Bühnenrand gesetzt und seine Federmappe in seiner Tasche verstaut hatte. Dann strich er wieder in seiner Jacke knarrend über die Seiten und schickte einen Blick in die Unendlichkeit.
„Grenzwanderung.
Stahl und Chemie wandern über die Grenze.
Wunden.
Das Kratzen, das Laufen, das Erstarren.
Wund.
Ein Wunder, ein wundes Wunder blüht.
Stahl und Chemie wandern Wunden.
Über die Grenze.“
Unsicher blickte das Publikum zum Dichter hinauf. Er schloss Augen und Kladde und lächelte. Man klatschte zögerlich, während sich Rüdiger grinsend seine Fingernägel besah.
„Sehr schön, Herr Doktor.“, meinte Ferdinand. „Und nun Rüdiger!“
Rüdiger trat ans Mikrofon. Er hüstelte und schlug sein Schreibheft auf.
„Das Tattoo.
In bunt-üppiger Pracht die Körper poetisch glänzen.
Lieblich-schüchterne Amazone in Rosen erklingt.
Wiegend erstarrt der Pinsel nach meisterlichem Stich.
Die farbigen Seen wie fröhlich-frivole Sterne vollendet.
Die unschuldige Milch blutend sich im Winde wiegt.
Tapfere Schwerter in und auf der leckenden Haut.“
Er faltete die Hände und nickte ins Publikum.
„Sehr schön, Rüdiger“, seufzte Ferdinand. „Vielen Dank euch beiden.“ Ein wenig Beifall erklang.
„Und nun“, erhob der Vorsitzende wieder das Wort, „nun wollen wir schnell entscheiden. Wem hat das Gedicht von Udo besser gefallen?“
Ein paar Leute hoben die Hand.
„Wer findet das von Rüdiger besser?“
Wieder hoben einige den Arm. Ferdinand blickte sich um und entdeckte Luise, die sich hinter einem anderen Gast verstecken wollte.
„Luise, du arbeitest hier doch immer so fleißig mit, wessen Gedicht hat dir besser gefallen?“
„Äh ...“, Luise schluckte. „Ich ...“ Sie stand auf und zupfte an ihrem weißen Kragen. „Bei Udos Gedicht ... äh ... fand ich sehr gut, dass wieder der Beziehungsaspekt mit eingegangen ist, ebenso auch ein bisschen die gesellschaftliche Seite. Ich meine, dieser Bezug auf die wunde Grenze. Einerseits die Grenze eines Staates und andererseits die Grenze in einer Beziehung zwischen zwei Menschen. Und bei Rüdiger fand ich diese bildhafte, lyrische Sprache sehr schön, man kann dieses ... das Tattoo direkt vor sich sehen. “
„Aha“, machte Ferdinand. Udo blickte abfällig auf Luise und räusperte sich.
„Ich weiß nicht, was du da immer hineininterpretierst. Es ist wohl deutlich, dass die Metapher ‚Grenze‘ im naturellen Sinne gebraucht ist, die Grenze eines Lebewesens.“
Rüdiger hüstelte ein Lachen in seine Faust.
„Die Grenze eines Lebewesens? Lieber Freund, wie soll jemand da auf ein Tattoo kommen, wenn du von Stahl und Grenzen redest?“
Udo schickte einen giftigen Blick herüber.
„Es ist eindeutig, dass man die Grenze als Lebewesensgrenze versteht: Die Haut. Das Tätowiergerät, der Stahl, verwundet die Grenze, die Haut. Die Chemie dringt in die Grenze und verwundet sie. Das Kratzen, das Laufen des Blutes, das Erstarren - das ist der Prozess der Verletzung und der Schorfbildung.“
Rüdiger brach nun in hysterisches Gelächter aus.
„Mein lieber Doktor, das ist doch nicht dein Ernst. Du bringst hier die Worte von Grenze ein und erwartest, dass der Leser dies mit Haut assoziiert? In meinem Gedicht ‚Das Laken‘ spreche ich den Beischlaf zweier Menschen auch nicht direkt an, jedoch weiß die Mehrheit meiner Leser, was gemeint ist, es wird durch die Bilder klar ...“
„Ja, weil du immer über solche Themen schreibst. Jedes Mal geht es bei dir um diese Themen. Da muss man gar nicht darüber nachdenken. Und dein schwülstiger Stil geht dem Hörer eher auf die Nerven und die Themenwahl ebenso.“
„Und du bist prüde und neidisch, junger Freund. Das ist kein schöner Zug an einem, der ein Künstler sein will.“
„Und du hast nicht mal Abitur, wie willst du dann hochgeistige Literatur verstehen?“
„Schluss jetzt!“ Ferdinand Schmieder schlug mit der Faust auf einen kleinen Beistelltisch, dass die Blumenvase hopste.
„Ich schlage vor, wir gehen jetzt einen trinken. Das hält man ja nicht aus!“
Verdattert blickten Udo und Rüdiger herüber in Ferdinands grimmiges Gesicht.
„Für mich ist das alles Quark. Dieses Gelaber und diese verkorkste Sprache ...“
„Das ist ja wohl ...“ Udo schnappte nach Luft. „Wie kann jemand, der Kleintiervorsitzender ist, sich anmaßen ...“
„Ich geh jetzt ein Bier trinken.“ Schmieder erhob sich und ging zur Tür. „Ihr könnt euch ja weiter ankeifen.“
Zunächst zögerte man noch, dann folgte die Hörerschaft dem Kleintierjagdvereinsvorsitzenden in die angrenzende Kneipe. Nur Luise stand noch zwischen den Stühlen.
„Wollt ihr euch nicht die Hand reichen, wir sind doch alle Künstler“, flehte sie zum Podium hinauf. Die beiden Dichter blickten zu ihr hinab, als wäre sie eine weiße Made.
Udo straffte sich und zog die Augenbrauen bis zum Anschlag.
„Ich für meinen Teil bin hier fertig. Ein Künstler braucht ein würdiges Publikum, sonst liest er Perlen den Säuen vor.“
„Tse“, machte Rüdiger und schüttelte den Kopf.
Der Steinbesinger nahm seine Kladde, stieg vom Podium und knarrte in seiner Jacke davon.
„So warte doch!“, rief Luise. „Wir haben hier sowas schönes angefangen mit dem Poetenkreis ...“
Aber Udo war schon weg. Rüdiger sortierte in seiner Tasche herum.
„Tja, Luise, das war‘s dann wohl.“ Dann ging auch er hinaus.
Luise stand noch eine kleine Weile dort und unterdrückte die Tränen. Später schrieb sie Briefe an den Vorsitzenden des Kleintierjagdvereins, der sich weigerte, den Poetenkreis und sein überschaubares Publikum noch einmal in die Vereinsräume zu lassen, an Rüdiger, der ihr eine Postkarte mit der Aufschrift „Auch alte Mädchen wollen Männer“ schickte, und an den Doktor der Mathematik, der nicht antwortete. Ihre Bemühungen waren umsonst, der Poetenkreis ging mit einer einzigen Lesung in die Geschichte der bedeutungslosen Vorfälle ein.