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Der Plan
Der Plan
Kirsten war unsicher, ob sie an alles gedacht hatte, um ihren Plan in die Tat umzusetzen. Sie spürte ihre Hände feucht werden. Schon wieder musste sie austreten. Ihre Armbanduhr zeigte 17:00 Uhr. Gegen 17:30 Uhr käme er zu ihr, hatte er gesagt. Kirsten wischte ihre feuchten Hände an ihrer Jagdhose ab.
17:15 Uhr. Ein Anruf auf ihrem Handy, er.
– Hallo, Kirsten. Bin leider jetzt erst losgekommen. Wird also eine Stunde später werden, bis ich zu dir komme.
– Ja, ist gut.
Kirsten schluckte. Sie hatte ein flaues Gefühl im Magen. Noch eine Stunde abwarten. Er sollte an diesem Abend sterben. Den Tod hatte er verdient. Vor aller Augen und auch noch auf Instagram hatte er sie bloßgestellt, gedemütigt. In der gemeinsam aufgebauten Beratungsgesellschaft hatte er sie nach über 15 Jahren ersetzt durch eine junge Schlampe. Und kalt, so kalt war er gewesen. Auch das vor zwei Jahren geborene Kind hätte nichts mehr retten können. Aber sie so bloßzustellen? Lange hatte sie auf seine Entschuldigung gewartet. Nicht eine Äußerung hatte er gemacht – nichts. Vorgeführt hatte er sie vor aller Welt. Ihr Magen verkrampfte sich. Gab es einen Fehler in ihrem Plan?
Er würde zu ihr kommen, um sich einen kapitalen Bock anzuschauen, den sie erlegt hätte. Sie würde ihm sagen, dass der Bock aufgebrochen in der Wildkammer hinge. Dahin würde er mit ihr gehen.
Nachdem sie beide in der Wildkammer wären, würde sie ihn mit ihrem .44 Magnum erschießen. Der Schuss würde niemanden alarmieren. Der nächste Nachbar lebte mehr als 3 Kilometer entfernt; die Wildkammer war solide gebaut. Blut ließe sich von den weiß gefliesten Wänden abspülen. Die Kugel müsste sie finden. Das hätte sie bedacht und mannhoch Sandsäcke gestapelt. Ihm würde dies nicht auffallen, weil er sich für Einzelheiten ihres Jagdhandwerks nie interessiert hatte. Er würde tot zusammenbrechen.
Nachdem sie ihn erlegt hätte, würde sie ihn mit den an der Decke befestigten Flaschenzügen, wie einen Bock, an den Füßen aufhängen. Dann kämen Aufbrechen und Versorgen. Sie würde, bei seinem Geschlecht beginnend, die Bauchdecke öffnen. Dann würde sie die inneren Organe und das Zwerchfell Richtung Kopf entnehmen. Den Kopf würde sie vom Rumpf trennen. Die Gliedmaße müsste sie so zurichten, dass sie nachher leicht zu entsorgen wären. Die heute nicht mehr entsorgbaren Leichenteile würde sie in der Kühlkammer aufbewahren, um sie nach und nach los zu werden. Irgendwo hatte sie gelesen, dass die Seele sich durch eine Feuerbestattung leicht vom Körper lösen würde; diesen Gefallen wollte sie ihm tun.
Ohne zu wissen, wozu sie es auch brauchen würde, hatte sie sich eine neben ihrer Wildkammer eine Keramikwerkstatt eingerichtet. Geld hatte bei ihnen nie eine Rolle gespielt. Brennöfen für Keramik heizten auf über 1000° Celsius hoch, ähnlich den Öfen in Krematorien. Sie hatte einen großen Brennofen erworben, einen Kammerofen, mit dem man Glas, Porzellan und Steinzeug brennen konnte. Der Ofen war sehr modern und geräuscharm. Brennöfen in Krematorien heizten bis etwa 1.000° Celsius. Übrig blieben Knochen und Asche. Sie müsste beim Aufbrechen und Versorgen an die Ofenmaße denken.
Noch am Tatabend würde sie sein Auto und sein Handy 190 km westwärts über die holländische Grenze nach Leeuwarden fahren. Um wieder nach Hause zu gelangen, hatte sie einen Mietwagen dort parkieren lassen, der von einem ihrer Freunde gemietet worden war. Mit diesem Mietwagen wollte sie noch nachts zurückfahren nach Oldenburg. Von Oldenburg aus würde sie ein Taxi nach Hause nehmen können.
Was aber, wenn etwas dazwischenkäme? Wenn sie nicht mehr nachts nach Hause käme? Wenn jemand, ungeplant, die noch nicht entsorgten Leichenteile entdecken würde? Oder wenn sie einen Autounfall auf der Fahrt nach Leeuwarden oder zurück hätte?
Verflixt! Sie hatte keinen Plan B. Sollte sie den Plan stoppen? Sie könnte sagen, dass ihre Mutter sie angerufen habe und um Hilfe gebeten hätte. Sie hätte deshalb schnell abreisen müssen. Er würde keinen Verdacht schöpfen, hatte er doch jahrelang unter der Unberechenbarkeit seiner Schwiegermutter gelitten. Was sollte sie tun?
18 Uhr. Schon wieder ging ihr Handy. Er wieder.
- Du, entschuldige, aber ich stehe im Stau. Ich brauche bestimmt noch eine weitere halbe Stunde.
- Ist gut.
Es gab verschiedene Schritte in ihrem Plan, bei denen ihr jemand auf die Schliche kommen konnte.
18:15 Uhr zeigte ihr Handy. Sie mochte ihr altes Forsthaus in der Nähe von Oldenburg, wo sie sich eingerichtet hatte. Hier gab es alles, was sie sich zu einem kommoden Leben jemals gewünscht hatte. Ihr Forsthaus lag mitten in ihrem Jagdrevier, dass sie von ihrem Vater geerbt hatte. Mit 600 Hektar war es eines der großen Forstgüter in der Gegend um Oldenburg. Ein übersichtlicher Ziergarten war abgezäunt worden. Die Holzwirtschaft und das Jagdhandwerk hatte Kirsten von klein auf vom Vater gelernt. Im Stall nebenan standen ihre zwei Pferde. Ihr Wertpapierdepot und ein paar Mietshäuser im nahen Oldenburg machten sie finanziell unabhängig. Lohnte es sich, dass alles zu riskieren? Und konnte sie ihn überhaupt erschießen, den Mann, den sie früher mit jeder Faser ihres Lebens geliebt hat? War sie selbst am Ende die eigentliche Schwachstelle? War sie feige? Kirsten musste sich jetzt entscheiden, ob sie ihren Plan umsetzen oder fallen lassen wollte.
Wenn Sie heute nicht handelte, würde sie ihn vermutlich niemals töten können. War es vielleicht besser so? Was würde der Mord mit ihrem eigenen Seelenleben anstellen? Würde sie nach ihrem eigenen Tod im Bardo hängen bleiben, in der grauenhaften Zwischenwelt zwischen Leben und Tod, als Folge ihres Karmas?
Kirsten griff zu ihrem Handy.
- Du kannst umkehren. Entschuldige, aber ich muss zu meiner Mutter. Sie hat gerade angerufen. Ihr geht es schlecht.
- Okay. Gute Fahrt!
- Dir auch.
Während der folgenden Nacht blieb sich Kirsten im Unklaren, ob es Feigheit war oder Lust am guten Leben, was sie bewogen hatte, von ihrem Plan Abstand zu nehmen. Es spielte keine Rolle mehr.
Nachdem er umgedreht hatte, auf seiner Heimfahrt nach Hannover, war er versehentlich auf einen Lkw aufgefahren. Sein Porsche hatte sich unter das Heck des Lkw gebohrt. Als die herbeigerufene Feuerwehr ihn geborgen hatte, war er schon lange tot gewesen.