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Der Plan
Lucius Barron, frischgebackener Assistenzarzt in der Abteilung für psychosomatisch Erkrankte des Raumkreuzers Artemis, war an diesem Morgen mit seinen Gedanken nicht ganz bei der Sache, und so unterlief ihm beim Auffüllen der Injektionsarmbänder ein Fehler, der fatale Folgen haben sollte.
„Der Papst ein prätentiöser Popanz? Der freie Wille existiert nicht? Gott hätte keinen Plan? Mensch, ich hätte nicht übel Lust, Sie auf der Stelle exekutieren zu lassen!“
„Darf ich die Herren um etwas Mäßigung ersuchen?“ Der Pflegerobot beugte sich über den Tisch. „Ein klein wenig moderater im Ton, ja? Mr. McGargoyle könnte aufwachen. Das möchten wir doch alle nicht.“
„Absentieren Sie sich, Sie stören!“
„Genau.“
Nachdem der Droid sich entfernt hatte, sahen die beiden Streithähne hinüber zur gegenüberliegenden Seite des Saals, wo Boris McGargoyle reglos vor seinem Puzzle hockte. Seine Augen waren geschlossen. Wären da nicht die winzigen Bewegungen seiner Augenbrauen gewesen, das gelegentliche Zittern seiner rechten Hand und das Pochen seiner Halsschlagader…
Drei Wochen waren vergangen, seit man ihn als einzigen Überlebenden des Turan Research Teams auf dem fünften Mond von Verus unter höchst rätselhaften Umständen geborgen hatte.
Die Instrumente der Artemis hatten das Vorhandensein von diversen Bodenschätzen angezeigt, und McGargoyle hatte den Auftrag erhalten, eine kleine Gruppe von Geologen zu begleiten und ihnen bei der Errichtung eines Laborcontainers behilflich zu sein. Bereits nach kurzer Zeit stießen die Männer auf reichhaltige Chromonitvorkommen, einem Mineral, das bei der Energiezufuhr der Schwerkraftgeneratoren eine wichtige Rolle spielte.
Am dritten Tag der Exkursion war die Verbindung plötzlich abgebrochen. Die Bildschirme blieben schwarz und aus den Lautsprechern der Funkzentrale drang nur mehr ein Rauschen. Das umgehend entsandte Rettungsteam hatte den Container völlig verwüstet vorgefunden. Von den Wissenschaftlern fehlte jede Spur. McGargoyle, der sich in einer der Werkzeugkisten versteckt hatte, befand sich in einem jämmerlichen Zustand. Er war außerstande gewesen, sich mitzuteilen und Fragen nach dem Verbleib seiner Kameraden zu beantworten. Die Krämpfe, die seinen Körper in Intervallen von wenigen Minuten heimsuchten, ließen erst nach, als man ihm starke Spasmolytika verabreicht hatte.
Während ein halbes Dutzend Gleiter den Mond mehrere Tage umkreist hatten, ohne eine Spur der Prospektoren zu finden, war McGargoyle in der Quarantänestation untersucht worden. In seinem Magen fand man winzige Krümel chromonithaltigen Gesteins, sein Blut wies eine ungewöhnliche Sättigung mit Natrium auf und in den Poren seiner Kopfhaut steckten mikroskopisch kleine Splitter aus Sklerotin, einem Strukturprotein, wie es im Exoskelett von Insekten vorkommt. Nach vierzehn Tage auf der Station befanden die Ärzte, daß er kein Sicherheitsrisiko darstellte, und er wurde in die psychosomatische Abteilung verlegt.
„Ich kann mir nicht helfen, dieser Mensch verursacht bei mir ein geradezu körperlich spürbares Unbehagen.“
„Das geht allen so, mein lieber Wellington. Ich finde es unverantwortlich, jemanden wie ihn, der nun wahrlich einer tickenden Zeitbombe gleichzusetzen ist, hier unterzubringen.“
„Wenn Ihr sogenannter lieber Gott wirklich omnipotent ist, dann wird er den Kerl doch wohl im Griff haben, oder? Und überhaupt – wieso hat Er ihn eigentlich erst erschaffen, wo Er doch wissen mußte, worauf das hinauslaufen würde? War das auch Teil des großen ominösen Plans?“
„Selbstverständlich. Aber wie ich schon erwähnte, werden wir …“
„… es nie erfahren, geschenkt. Und was war das vorhin mit dem auf der Stelle exekutieren lassen?“
Wellington, den die Antwort des selbsternannten Kardinals nicht wirklich interessierte, starrte wütend auf die Zeitanzeige über dem Eingangsbereich. Gleich würde die Sedierung erfolgen…
Die Sensoren auf den unförmigen Injektionsarmbändern der im Saal befindlichen Patienten begannen zu blinken und wenige Sekunden später bohrten sich zeitgleich winzige Nadeln in ihre Armbeugen und pumpten genau dosierte Mengen diverser Beruhigungsmittel in ihr Blut.
Der Kardinal, eben noch entschlossen, den heftigen Disput wieder aufleben zu lassen, lächelte mild und faltete die Hände.
„In der Tat habe ich mich vielleicht etwas im Ton vergriffen. Ich bin sicher, Sie werden es mir nachsehen, Admiral. Wie wäre es mit einer Partie Schach?“ Wellington nickte wortlos und winkte einem der Droiden.
Das große Panoramafenster, welches die gesamte Breite des Saales einnahm und sich für die Zeit des Wendemanövers verdunkelt hatte, wurde allmählich wieder transparent und gab den Blick auf den von 18 Monden umkreisten Planeten Verus M1 frei. Der Kardinal und Wellington, die sich einen Tisch in unmittelbarer Nähe des Fensters gesichert hatten, sahen dem weißgekleideten Robot aufmerksam beim Aufstellen der Figuren zu.
„Haben die Herren noch einen Wunsch? Vielleicht etwas zu trinken?“
„Später vielleicht, danke…“ sagte Wellington und rieb sich erwartungsvoll die Hände. Als er den ersten Zug machen wollte, durchbrach ein Stöhnen die friedliche Stille der Krankenstation. Boris McGargoyle hatte sich erhoben. Die Augen weit aufgerissen, deutete er abwechselnd auf das Fenster und das Puzzle auf seinem Tisch. Er schwankte wie ein Betrunkener und versuchte etwas zu sagen. Alle Gesichter wandten sich ihm zu. Nur zu gut erinnerte man sich an seinen letzten Anfall, bei dem nicht nur zwei Droiden irreparable Schäden davongetragen hatten, sondern auch ein großer Teil des Mobiliars zerstört worden war. Stühle fielen um, als nahezu alle Patienten aufsprangen und sich zum Eingangsbereich begaben. Die fünf Pflegerobots bildeten einen Halbkreis um McGargoyle, dem beim Versuch, Worte aus seiner blockierten Kehle zu pressen, Speichel über das Kinn floß. Sein Gesicht färbte sich rot und auf seiner Stirn traten Adern hervor.
„Da haben wir’s“, sagte der Kardinal, der wie Wellington sitzengeblieben war. „Immer dasselbe… Ein defektes Armband, nehme ich an. Genau wie beim letzten Mal. Man darf gespannt sein, wie lange der Doktor heute braucht.“
Doktor Shutain befand sich zur gleichen Zeit in den Mannschaftsquartieren. Einer der Kadetten hatte sich bei der Wartung einer Photonenkanone verletzt und sie nahm das Ganze zum Anlass, dem Rudel Medizinstudenten, das ihr zugeteilt worden war, ein wenig praxisnahen Unterricht zu geben. Als der zweite Offizier sie von McGargoyles Anfall unterrichtete, zeigte sie sich wenig begeistert.
„Und was mache ich so lange mit meinen Frischlingen? Hören Sie, Cramer – kann das nicht jemand anderes machen? Übrigens habe ich Ihnen gleich gesagt, McGargoyle gehört da nicht hin. Der Mann gehört ins Strafkoma. Da kann er wenigstens keinen Schaden anrichten.“
„Die Gemüsefarm ist überfüllt, das wissen Sie genau, Doktor.“ Cramers Gesicht auf dem kleinen Monitor nahm einen leidenden Ausdruck an. „Außerdem weigert sich Ihr Chef, eine Überweisung zu unterschreiben. Er hält die Komaabteilung nach wie vor für unmenschlich. Nichts zu machen.“
„Also gut, ich mache mich auf den Weg. Sagen sie Barron, er soll den Betäubungsphaser bereitmachen.“
Als sie fünf Minuten später den Saal betrat, erwartete ihr Assistent sie mit einem schuldbewussten Ausdruck im Gesicht.
„Ich fürchte, ich bin schuld an dem ganzen Schlamassel“, flüsterte er ihr zu.
„Aha – inwiefern?“
„Mir ist wohl ein … äh … Fehler unterlaufen, als ich die Armbänder … also nicht alle, nur seins … aufgefüllt habe.“ Barron deutete mit dem Phaser auf McGargoyle. „Unglücklicherweise hat er statt des Beruhigungsmittels eine … äh …“
„Nun reden Sie schon, sie Unglückswurm! Was hat er bekommen?“
„Theobromin 4, Dr. Shutain.“
„Kein Irrtum möglich?“
„Nein, ich habe sein Armband gescannt. Ganz sicher.“
„Das kann heiter werden. Was ist mit den Robots?“
„Er hat sie umgehauen wie nichts und sich dann diesen Patienten geschnappt.“
Sie sah das angsterfüllte Gesicht des Mannes. McGargoyle hatte seinen Arm um ihn gelegt und schien ihm etwas ins Ohr zu flüstern.
„Helfen Sie mir, Barron. Wer ist das nochmal?“
„Er heißt Robson, Doktor. Ein einfacher Funker – hält sich für Kardinal Richelieu. Der Mann am Tisch daneben ist Bob Norrington. Er hat die Software für das Wellnessdeck entwickelt. Jetzt nennt er sich Konteradmiral Wellington. Die beiden sind befreundet.“
„Also gut – dann wollen wir mal. Kommen Sie.“ Sie nahm Barron den Phaser aus der Hand und ging langsam auf McGargoyle zu. Aus den Augenwinkeln sah sie die übrigen Patienten, die sich neben dem Ausgang zusammendrängten und vermutlich hocherfreut über diese Abwechslung waren, sowie die verrenkten Körper der Robots, die zuckend am Boden lagen. Ihre Servomotoren summten leise vor sich hin.
McGargoyle sah ihr aufmerksam entgegen. Seine Augen funkelten und seine Mundwinkel zogen sich zu einem Lächeln auseinander. Etwas an seiner Körperhaltung veranlasste Dr. Shutain stehenzubleiben.
„Mr. McGargoyle.“
„Doktor Shutain. Dr. Barron.“ Er redet, dachte sie. Die ersten Worte, seit sie ihn in dieser Kiste entdeckt haben. Seine Stimme allerdings… Sie sah Barron an, während ihr ein kalter Schauer den Rücken hinunterlief. Ihr Assistent war bleich geworden.
„Ich hoffe, Sie haben nicht vor, das Ding da zu benutzen, Doktor“, zischte McGargoyle und nahm seinen Arm von Robsons Schulter. Seine Stimme klang, als übte irgendetwas Druck auf seinen Kehlkopf aus. „Und vielleicht erklären Sie mir mal, was ich hier bei diesen Verrückten verloren habe.“ Er räusperte sich und spie einen schwarzen Batzen aus, der, als er den Boden berührte, in winzige Körner zerfiel wie ein Brocken nassen Sandes. Fasziniert sah Shutain, daß die einzelnen Partikel wie Ameisen auseinanderstrebten und sich auf dem Fußboden verteilten.
„Was, zum Teufel…“ murmelte Barron und wich einen Schritt zurück.
„Schaffen Sie die Leute hier raus“, sagte Shutain leise, „und informieren Sie Cramer. Er soll so schnell wie möglich mit einem Exterminationsteam herkommen.“
„Soll ich den Captain benachrichtigen?“
„Später vielleicht. Nun machen Sie schon!“
„Ja, nun machen Sie schon, Barron!“ keuchte McGargoyle und lachte. Wieder räusperte er sich, doch bevor er ausspucken konnte, traf ihn der Strahl des Betäubungsphasers. Er schwankte und versuchte, Robson festzuhalten, doch seine Finger hatten keine Kraft mehr. Er stürzte zu Boden. Der ‘Kardinal‘ eilte erleichtert zum Ausgang. Niemand bemerkte die beiden dunklen Punkte auf seinem linken Schuh.
Doktor Shutain beugte sich über den paralysierten Körper McGargoyles, dessen Lippen sich erstaunlicherweise immer noch bewegten. Sie führte das auf die Wirkung des Theobromins zurück.
Sicherheitshalber legte sie ihre Hand auf die Schulter des Mannes und schüttelte ihn leicht. Keine Reaktion. Ihr Blick glitt über den Boden, registrierte die schwarzen Körnchen, die sich immer noch scheinbar planlos bewegten. Einige hatten das Panoramafenster erreicht und krochen daran empor. Ein Wartungsboot glitt langsam vorbei und verdeckte für einen kurzen Moment den rötlich schimmernden Planeten. Sie konnte die Silhouette des Piloten erkennen, der ihr kurz zuwinkte. Als sie den Arm hob, um seinen Gruß zu erwidern, bemerkte sie ein Glitzern auf der Scheibe, genau an der Stelle, wo einige der insektengleichen Punkte zu einem fingernagelgroßen Klumpen verschmolzen waren. Sie sah genauer hin und bemerkte entsetzt die winzigen Risse, die sich in dem dreissig Zentimeter dicken Volparanglas gebildet hatten. Die Körnchen schienen nicht nur an Größe zugenommen zu haben, sie teilten sich anscheinend und waren dabei, in das Glas einzudringen. Vergeblich versuchte sie, mit dem Griff des Phasers den Klumpen von der Scheibe zu wischen.
Verdammt, wo bleibt Cramer! dachte sie. Ihre Gedanken überschlugen sich. Volparan besaß die Härte und Festigkeit von Diamanten und war imstande, den Beschuß eines Plasmastrahlers ohne sichtbare Folgen zu überstehen. Mehr als einmal hatte sie erlebt, dass selbst der Aufprall von kleinen Meteoriten keinerlei Kratzer auf seiner Oberfläche hinterlassen hatte. Und diese winzigen Krümel …
Ihre Hände begannen zu jucken. Sie ließ den Phaser fallen und versuchte, die kleinen Körnchen auf ihren Handflächen wegzuwischen. Dabei lösten sich Teile der Haut ab. Gelbe Flüssigkeit trat aus und tropfte zu Boden.
Als Barron, Cramer und das Exterminationsteam wenige Minuten später den Saal betraten, waren Doktor Shutain und McGargoyle verschwunden. Fassungslos blickten die Männer auf die mit unzähligen schwarzen Punkten übersäten Wände. Im gleichen Moment verzeichneten die Messinstrumente auf der Brücke gravierende Veränderungen in der Oberflächenspannung des Schiffs. Die Schleusen zu den betroffenen Bereichen wurden umgehend geschlossen.
Von all dem bekam der ‘Kardinal‘ in seiner Kabine nichts mit. Das, was von ihm noch übrig war, versickerte langsam in seiner Matratze und verbreitete einen penetranten Geruch nach Weihrauch.