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Der Plan
Er sah auf die Uhr.
Es wurde Zeit.
Ein kalter Luftschwall fiel ins Zimmer, als er das Fenster öffnete, um das Teleskop auszurichten. Fast von allein fand das Objektiv die Stelle am gegenüberliegenden Hang, wo der Abkürzungsweg zwischen den Bäumen verschwand. Routiniert stellte er den Focus scharf, bis er meinte, die auf dem Weg liegenden Zapfen greifen zu können.
Jetzt konnte sie kommen.
Was sie wohl tragen würde?
Es war ein sonniger Novembertag, die Luft klar und frostig. Gute Sicht. Bestimmt wieder ihre graue Kunstpelzjacke mit der großen Kapuze, wie gestern. Und „Moonboots“. Er hasste diese unförmigen Dinger, wozu hatte die Natur den Frauen schöne Beinen geschenkt? Doch nicht, damit sie in Yeti-Stiefeln versteckt wurden! Aber das würde er ihr schnell austreiben, bei ihm gab es so etwas nicht.
Sie war spät dran heute.
Ein Schwarm Spatzen erschien in seinem Blickfeld und stürzte sich für ein Bad in den trockenen Staub der Fahrrillen. Der Anblick besänftigte ihn ein wenig.
Es war ja wirklich kalt und sie sollte doch nicht krank werden. Außerdem, er wusste ja, dass sie schöne Beine besaß, hatte in den langen Sommermonaten jeden unbedeckten Zentimeter ihres Körper studiert. Jede Pore ihres Gesicht war ihm vertraut. Selbst das Muttermal auf ihrem Brustansatz, das sie immer mit Abdeckstift versteckte, hatte ihm sein Teleskop überlebensgroß gezeigt.
Auch wenn er sie noch nie berührt hatte, nicht einmal in ihre Nähe gelangt war, gab es für ihn nur noch wenig Verborgenes an ihr. So vollständig hatte er ihre Erscheinung in sich aufgesogen, er brauchte nur die Augen schließen, um sie leibhaftig vor sich sehen.
Und das war gut so. Wie sonst hätte er seinen Plan so detailliert entwickeln können, nur in seinem Kopf, ohne eine einzige verräterische Notiz? Nächtelang hatte er hellwach im Bett gelegen. Während seine Frau arglos neben ihm schnarchte, lief hinter seinen geschlossenen Augen die Entführung wie ein Film ab. In immer neuen Varianten hatte er die Szenen durchlebt, sich bemüht, alle Eventualitäten zu bedenken.
Vor sechs Monaten war sie ihm das erste Mal aufgefallen. Er hatte den Nachthimmel beobachtet, war irgendwann darüber eingeschlafen und erst am Vormittag wieder aufgewacht. Ein zufälliger Stoß richtete das Rohr auf den Waldrand. Im Moment als er hinein sah, wischte eine Gestalt durch das unscharfe Bild. Noch schlaftrunken war es ihm nicht gelungen, sie wieder einzufangen.
Nicht an diesem Tag.
Damit er beschäftigt sei, hatte seine Frau gemeint, als sie ihm einige Monate zuvor ein Paket in den Schoß legte. Es war mitten im Januar, weder hatte er Geburtstag, noch gab es sonst einen besonderen Anlass für ein Geschenk. Sie zuckte nur die Achseln und meinte, er solle es endlich aufmachen.
Zum Vorschein kamen ein Himmelsatlas und dieses Fernrohr. Er war gerührt gewesen und beschämt. Auch ohne genaue Vorstellung was ein Heimteleskop kostete, hielt er sicher mindestens tausend Euro in den Händen. Ungeheuer viel Geld bei ihrem Verdienst als Kassiererin im Supermarkt. Geld, das sie eigentlich dringend zum Leben brauchten, seine Stütze reichte kaum für Miete und Telefon.
Überstunden.
Hatte sie behauptet und versucht, wie eine Sphinx zu lächeln. Für einen Augenblick war es wie früher gewesen.
Er schüttelte unwillig den Kopf, um die Gedanken an seine Frau zu vertreiben.
Die Sperlinge waren inzwischen weiter geflogen. Jetzt war sie schon eine Viertelstunde zu spät.
Diese Zeitvarianz musste er unbedingt noch berücksichtigen.
Sein Plan war inzwischen beinahe perfekt. Aber eben nur beinahe. Immer gab es noch ein Detail zu beachten, einen möglichen Zwischenfall zu kalkulieren. Natürlich konnte er nicht alle Zufälle vorhersehen. Aber bis zu einer gewissen Wahrscheinlichkeit wollte er sie kennen und mit ihnen umgehen können.
Und was er schon alles bedacht hatte! Dutzende Male hatte er den Plan verwerfen und wieder völlig neu entwickeln müssen, weil er etwas Wichtiges übersehen hatte. Aber jetzt war er fast soweit. Unzählige Briefings für kritische Situationen warteten in seinem Kopf, dass er sie abrief. Der Basisplan war solide und dabei flexibel genug, um Unwägbarkeiten zu begegnen.
Wie lächerlich unreif ihm seine ersten Überlegungen heute im Rückblick vorkamen!
Mit dem Wagen hinter dem Holzstapel an der Lichtung verstecken, wenn sie kommt, raus springen, Tränengas, rein in den Kofferraum und ab zu einem ruhigen Plätzchen, wo er seinen Spaß mit ihr haben konnte.
So primitiv und plump!
Damals hatte ihn mehr beschäftigt, was er mit ihr anstellen würde, wenn sie in seiner Gewalt wäre. Seine Fantasie hatte vor bizarren Einfällen nur so gesprudelt, das entschuldigte die unausgegorene Entführung, wie er fand.
Natürlich malte er sich auch heute noch gelegentlich aus, wie er ihr den Kopf kahl scheren wird oder sie zwingt, wie ein Tier aus dem Napf zu fressen. Aber eigentlich eher zur Entspannung, wenn er sich in den Verzweigungen seines Planes erschöpft hatte oder als Ansporn, wenn ein unüberwindliches Problem ihn zur Verzweiflung brachte.
Die Hauptsache war erst eine gelungene Gefangennahme, ohne sie ernstlich zu verletzen oder womöglich dabei erwischt zu werden.
Seine Augen begannen zu tränen. Ohne hinzusehen griff er nach der Schachtel mit den Papiertüchern auf dem Beistelltisch und tupfte sich die Augenwinkel trocken. Er wagte nicht, den Blick vom Okular zu nehmen. Wenn sie in dem Moment vorbeikam, musste er ihr mit dem Fadenkreuz hinterher jagen und würde wertvolle Sekunden für die Beobachtung verlieren. Kostbare Zeit, sie brauchte selten länger als drei Minuten für die Überquerung der Lichtung.
Nur einmal, es war im August gewesen, schenkte sie ihm auf dem Nachhauseweg fast eine volle Stunde.
Sie war nicht allein an diesem Tag. Ein Mann begleitete sie, sie setzten sich in das frisch gemähte Gras ein Stück unterhalb des Weges. Es war ein ernstes Gespräch, das sie führten. Ihre Stirn war gerunzelt und sie sah besorgt und traurig aus. Nach einer Weile fing sie an zu weinen. Heftig stieß sie ihren Begleiter von sich, als er sie in den Arm nehmen wollte, sprang auf und rannte fort.
Es verwunderte ihn später selbst, wie wenig es ihn interessiert hatte, welche Rolle dieser Mann in ihrem Leben spielen mochte. Er hatte einfach nur die Gelegenheit genutzt, sie so intensiv zu betrachten, wie es ihm zuvor noch nie möglich gewesen war. Später, in dieser und den folgenden Nächten, kreisten seine Gedanken um die Frage, was zu tun sei, wenn sie am Tage X nicht allein wäre. Ihm war nichts weiter eingefallen, als sich in dem Fall zu verstecken und den Überfall zu verschieben. Aber das war in Ordnung für ihn, ein guter Stratege akzeptierte, wenn etwas unmöglich ist.
Da war sie.
Konzentriert führte er das Fernrohr nach. Sie ging sehr schnell, rannte zwischendurch ein kurzes Stück, bis die Steigung sie atemlos machte. Ihre Kapuze hatte sie zurück geworfen, so dass er ihr gerötetes Gesicht sehen konnte. Der Wind hatte ein paar Haarsträhnen auf die schweißglänzende Stirn geklebt.
„Operation beginnt“, murmelte er, als sie den Holzstapel erreichte.
Er sah sich neben den aufgetürmten Stämmen hervortreten, eine ganz in schwarz vermummte Gestalt, die wie aus dem Nichts vor ihr auftaucht. Der Wind steht günstig, treibt das Pfefferspray direkt in das ungeschützte Gesicht seines Opfers. Seine schwarze Skimaske und die Schutzbrille verhindern zuverlässig, dass ein falscher Windstoß seine Kampfkraft beeinträchtigen kann. Als sie ihre Hände hochreißt, streift er mit einer blitzschnellen Bewegung die große Drahtschlinge mit dem Sack aus stabiler Fallschirmseide über sie. Sie krümmt sich darin, stößt mit Ellenbogen und Händen, versucht erfolglos das zähe Material zu zerreißen.
Sie schreit.
Er wusste, der brennende Schmerz in ihrem Gesicht und die Angst zu erblinden würden sie schreien lassen, solange sie genug Luft bekam. Mit einem kräftigen Ruck zieht er die Schlinge um ihre Knie zusammen. Sie stürzt, tritt blindlings um sich, als er sich auf sie wirft.
Schweiß lief ihm von der Stirn in die Augen, er musste blinzeln und verlor sie. Bis er sie wieder fand, hatte sie bereits die Schonung erreicht und verschwand hinter den dichten Zweigen der jungen Fichten. Er hielt das Teleskop noch eine Weile auf die Stelle gerichtet. Vielleicht war ihr in der ganzen Eile etwas aus der Tasche gefallen. Sie mochte noch einmal zurück kommen, weil sie es möglicherweise rechtzeitig bemerkte und der verlorene Gegenstand wichtig war. Ein Schlüsselbund oder die Geldbörse.
Als er sicher war, dass sie nicht mehr umkehren würde, schwenkte er zurück zu dem Holzlager, wo er den Faden wieder auf nahm.
Sie strampelt mit den Beinen, windet sich unter seinem Körpergewicht. Ihr Widerstand wird jetzt koordinierter, sie zieht die gefesselten Knie hoch, will seine Weichteile treffen. Zwecklos, er trägt einen Hodenschutz.
Sogar daran hatte er gedacht. Er gönnte sich eine kleine Welle Stolz auf seine vorausschauende Planung, ehe er sich wieder auf das Set in seinem Kopf konzentrierte.
Vergeblich versucht sie ihn abzuschütteln. Seine in schwarzes Leder gehüllten Hände halten ihren wild hin und her schlagenden Kopf. Es ist wichtig, dass sie zuhört, versteht. Sie schreit jetzt nicht mehr, kämpft keuchend um jeden Atemzug in dem engen Sack.
„Sei still, wenn Du überleben willst!“
Nein, das war nicht gut.
„Schweig, sonst bist Du tot!“
Auch nicht. Seit Tagen rang er um die richtigen Worte.
Sie mussten sie im Innersten treffen, ihr unmissverständlich die Ausweglosigkeit ihrer Lage deutlich machen.
Ihren Willen lähmen.
Zuerst hatte er gar nichts sagen und sie einfach mit einer Injektion betäuben wollen. Doch das stellte ihn vor die Wahl, sie entweder zum Auto zu tragen oder mit dem Wagen am Tatort abzuholen. Beide Varianten hatte er aus schwerwiegenden Gründen schon vor Wochen verworfen.
Angestrengt suchte er nach einer passenden Formulierung, drehte die Worte, tauschte sie gegen andere Begriffe.
„Ruhig, wenn Du leben willst!“
Das klang schon ganz ordentlich. Trotzdem war er noch nicht überzeugt, es fehlte irgendwie der Thrill oder wie man es nennen sollte.
Sein verspannter Rücken protestierte schmerzhaft, als er sich zurück lehnte. Mit geschlossenen Augen tastete er nach dem feuchten Tuch, das er immer parat liegen hatte und breitete es über den Lidern aus, die wie Sandpapier auf seinen überreizten Augäpfeln kratzten.
Eine Zeit lang dachte er gar nichts, genoss die sanften Strahlen der tief stehenden Novembersonne, die ihn angenehm unter seiner Decke wärmten.
Er müsste es vor dem Spiegel ausprobieren.
Die Idee beschleunigte seinen Puls. Damit trat sein Plan, der bisher nichts als ein Hirngespinst war, endlich in die Wirklichkeit! Mit größter Vorsicht würde er von nun an vorgehen müssen, durfte sich bei seinen Vorbereitungen keinesfalls verraten. Schritt für Schritt wollte er sich der realen Premiere nähern, sicher geleitet von der perfekten Planung in seinem Kopf.
Eine berauschende Vorstellung. Er konnte es tun! Wirklich und wahrhaftig!
Nichts an seiner reglosen Haltung verriet den Aufruhr in ihm, als er noch einmal den Film ablaufen ließ. Die kritische Szene übersprang er einfach.
Er führt sie mitten durch das Dickicht der Fichtenschonung zu dem versteckten Wagen. Es geht nur mühsam voran, ständig stolpert sie und er muss sie halten, damit sie nicht stürzt. Sie wehrt sich nicht länger, hat genug damit zu tun, Luft zu bekommen. Wimmernd erträgt sie es, wenn die Schläge der Zweige gegen den Sack das Feuer in ihrem Gesicht wieder anfachen.
Gut, dass es nicht zu sehen ist.
Ihn ekelte bei der Vorstellung dieser rotfleckigen, verquollenen, mit einer ekelhaften Mixtur aus Rotz, Tränen und Makeup beschmierten Fratze, die sich hinter dem Stoff verbirgt. Glücklicherweise war ihm der Einfall mit dem Wassertank gekommen. Nicht nur, dass sie darin hilflos gefangen ist und die Methode sie prinzipiell am Schreien hindert, das Wasser beseitigt auch noch weitgehend diese abstoßenden Spuren des Angriffs.
Genial, wie er fand.
Am Wagen angekommen, öffnet er die Hecktüren des alten Transporters, den er nur für diesen Zweck kaufen wird. Er stößt sie hinein, sie stolpert über den Rand des wassergefüllten Behälters, fällt hinein. Panisch versucht sie wieder hoch zu kommen, rutscht immer wieder aus. Er steigt ebenfalls in den Wagen und schließt sorgfältig die Türen hinter sich, ehe er das bereit gelegte Messer nimmt.
Bei dem Gezappel würde er sehr aufpassen müssen, wenn er das Loch in den Sack schnitt. So richtig glücklich war er mit der Methode noch nicht. Egal, weiter. Jetzt musste er wieder zu ihr sprechen. Verdammt, warum fiel es ihm nur so schwer, die richtigen Worte zu finden?
„Nimm das Mundstück!“ herrscht er sie an und drückt ihr das Ende des Schlauches ins Gesicht. Mit zitternden Fingern stopft sie sich das Gummi in den Mund. Er drückt sie mit dem Fuß unter Wasser und schiebt den Deckel über sie, setzt sich darauf. Die Verzweiflung gibt ihr noch einmal Kraft, sie stemmt sich dagegen, sinnlos. Entschlossen lässt er die Spannschlösser einrasten.
Er meinte, das endgültige Klacken der Spanner zu hören. Er triumphierte. Er hatte es geschafft, sie gehörte ihm!
Der Rest würde ein Kinderspiel sein: Nachdem er sie in das vorbereitete Versteck gebracht hat, wird er sofort den Wagen verschrotten. Keine Spur darf zu ihm führen.
Er hörte, wie hinter ihm die Tür geöffnet wurde.
„ Mein Gott, ist das kalt hier.“
Er zog das Tuch von den Augen und blinzelte in die Abendsonne, vor der die Silhouette seiner Frau eilig das Fenster schloss.
„Hast Du etwa den ganzen Tag hier bei offenem Fenster gesessen? Du wirst dich erkälten!“ Sie zog die Gardinen zu, bevor sie sich umwandte.
„Die Sonne hat so schön geschienen, außerdem habe ich doch meine Decke.“ Im Gegenlicht konnte er ihren Ausdruck nicht erkennen. Erwusste auch so, dass sie ihn besorgt ansah. Vielleicht konnte sie ihn nicht mehr anders, als ihn sorgenvoll ansehen. Trotzdem blieb sie, hielt zu ihm.
Und er, was tat er? Er war ein Monster.
„Du hättest wenigstens die Heizung ausdrehen können.“
Ihr sanfter Tadel traf ihn wie ein Keulenschlag. Er taugte zu nichts. War sogar zu blöd, die Heizung auszumachen, während er sich an perversen und gewalttätigen Plänen aufgeilte! Er war ein Tier. Nein schlimmer, Tiere taten so etwas nicht.
Der Ekel schmeckte bitter in seinem trockenen Mund, als sie die Bremsen löste und ihn aus dem Zimmer schob