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Der Pionier
Überarbeitete Fassung vom 20.03.2004
Kevin blickte ehrfürchtig auf das achthundert Meter hohe Gerüst, welches die Rakete umschloß. Als hätte Gott eine rote Nadel in den grünen Hügel gesteckt. Doch es waren Menschen, welche dieses Wunder zuwege gebracht hatten. Und nur, um es schon bald von einem noch größeren Wunder zu übertreffen: Der Aussaat der menschlichen Rasse über die Grenzen des Planeten hinaus.
Und Kevin würde Teil dieses Wunders sein. Trotz seiner deutschen Abstammung hatte er es geschafft, in das EU-Raumfahrt-Programm aufgenommen zu werden, und würde somit der erste Deutsche auf dem Mars werden – eine große Ehre für ihn und sein Land, das sich vom Zusammenbruch der Wirtschaft vor siebzig Jahren nie wieder erholt hatte.
Die Monorail-Endstation befand sich augenscheinlich in einer verfallenen Burgruine unweit des Gerüstes, doch als das Shuttle lautlos andockte und sich die Türen mit verhaltenem Zischen öffneten, fand Kevin einen hell erleuchteten Duroplast-Bahnsteig vor, sowie einen Fahrstuhl in die Tiefe. Craigievar-Terminus war ein unterirdischer Komplex, unter einem schottischen Tower-House errichtet aufgrund der EU-Richtlinie 78.901: Denkmalschutz kann nur benutzten Objekten gewährt werden. Zwar hatte sich die Weltwirtschaft längst wieder stabilisiert, aber einmal etablierte Richtlinien wieder abzuschaffen...
Kevin verdankte seine Anwesenheit an diesem Ort ebenfalls einer uralten Richtlinie: Öffentliche Ausschreibungen mußten in allen EU-Ländern veröffentlicht und Bewerber anonymisiert geprüft werden. Ein Mensch hätte seine Bewerbungsunterlagen ungelesen im Wolf entsorgt. Deutschland galt offiziell als Entwicklungsland und mit einem Umlaut im Namen war man in England und Frankreich nichts weiter als ein Exot. Einzig die geographische Lage hatte die alte Republik bislang trotz der miserablen Ecotech-Kennzahlen von einem Ausschluß aus der EU bewahrt. Seit der England-Dänemark-Tunnel und die Alpenbahnen fertiggestellt worden waren, war auch die Bedeutung als Transitland gesunken, aber es bestand die Gefahr, daß man sich bei einem Wegfall der EU-Bindung an den Erzfeind USA wandte, der liebend gerne Billionen Dollar investiert hätte, um wieder einen Stiefel ins Herz von Europa bekommen zu können.
„Do you speak English?“ fragte die Frau hinter dem Schalter Kevin, als dieser am ersten Checkpoint ankam. Sie trug die blau-weiße Uniform der ESA, dazu kontrastierend einen orangefarbenen Bürstenhaarschnitt und drei Ringe in der Unterlippe.
Kevin stutzte ob dieser Frage, schließlich war Englisch oder Französisch eine Grundvoraussetzung, sich überhaupt bei der ESA bewerben zu können. Die Frau indes mißdeutete sein Zögern und hakte gleich nach: „Parlez-vouz francais?“
Nachdem Kevin in beiden Sprachen bestätigt hatte, daß er diese beherrschte, fand die weitere Unterhaltung in Französisch statt.
„Bitte identifizieren Sie sich.“
Kevin legte seinen Zeigefinger auf die dafür vorgesehene Fläche, eine Sekunde später leuchtete eine grüne Diode auf.
„Sie sind spät dran“, sagte die Frau. „Bitte zu Schleuse 8 vor das medizinische Wartezimmer.“
Obwohl er allein im Wartezimmer war, dauerte es über eine Stunde, bis man ihn aufrief. Solange stöberte er in den ausliegenden Magazinen. Das transparente Display war das modernste seiner Art, kein Vergleich zu den 2D-Lesegeräten in Noveau, aber auch die Interfaces in Paris waren nicht so scharf und kontrastreich. Vermutlich die neue Lens-Adapt-Technologie, welche die Metrik von Linse und Glaskörper analysierte. Auf diese Weise war es selbst extrem Kurzsichtigen möglich, ohne Brille beste Bildqualität zu genießen. Kevin selbst brauchte natürlich keine Brille, sonst wäre er nicht bis hierher gekommen. Auch nicht, wenn er seinen Visus dem Routine-Augenlaser bei der Einschulung verdankt hätte. Genetische Fehlerfreiheit war für das Marsprojekt essentiell.
Seine Eltern, die mehr schlecht als recht vom Bergtourismus in den Alpen lebten, waren ja so stolz auf ihren Sohn gewesen, der die Aufnahmeprüfung für Noveau bestanden hatte.
Noveau: Das letzte ehrgeizige Projekt Deutschlands. Gegründet 2032 an der Nordseeküste hatte diese neue Stadt den Weg aus dem Dunkel einläuten sollen. Ein Ort der Wissenschaft und Technik. Auf den ersten Blick eine großartige Idee, die aber daran scheiterte, daß dort niemand wohnen wollte. Auch der Versuch, jeden mit einem IQ über 150 zwangsanzusiedeln war nicht effizient gewesen. Heute war Noveau zwar die modernste Stadt Deutschlands, aber was hieß das schon. Die Infrastruktur konnte noch nicht einmal mit Warschau konkurrieren, von Paris und London ganz zu schweigen.
Die medizinische Untersuchung ergab wie erwartet keine pathologischen Befunde. Dies schloß auch einen Virenscan ein. Ein banaler Schnupfen konnte im Weltraum bereits zu einer Katastrophe führen.
Die Laborassistentin, die die Diagnoseapparate bediente, lächelte ohne Unterbrechung, sprach aber kein Wort. Auch Kevin verzichtete darauf, sie anzusprechen. Die Maori-Tätowierungen in ihrem Gesicht, die in den letzten Jahren wieder zunehmend in Mode kamen, waren ihm verhaßt. Er fand, sie ließen Menschen wie Teufel aussehen.
Drei Stunden waren seit seiner Ankunft vergangen, und Kevin fühlte sich ein wenig orientierungslos. Er hatte sich seine Reisevorbereitungen anders vorgestellt.
Ein Flurbot führte ihn in eine Suite, wo über dem Tisch ein Display angebracht war. Es schaltete sich selbsttätig ein, die Holographie einer weiteren ESA-Frau lächelte Kevin entgegen. Sie war hübsch, Kevin lächelte instinktiv zurück.
„Ich begrüße Sie an Bord“, sagte die Frau mit ungewöhnlich tiefer Stimme. „Ich bin John Cornell, ihr persönlicher Betreuer. Der Abflug findet in einer Stunde statt. Wie geht es Ihnen?“
„Danke, gut“, erwiderte Kevin, der nicht mehr lächelte. „Ich bin nur etwas verwundert, so wenig... Leute hier zu treffen.“
Die Frau namens John lachte. „Wenn Sie damit schon Probleme haben, wie wollen Sie die dreißig Monate in einem kleinen Raumschiff ertragen?“
„Keine Probleme. Ich bin nur verwundert.“
„Ich hätte ihnen ursprünglich Gesellschaft leisten sollen, aber ich habe einen kleinen Infekt, und Sie kennen ja die Bestimmungen.“
„Ja, natürlich.“
„Sie können in einer halben Stunde an Bord gehen, und sich dort dann mit den anderen Mitgliedern der Mannschaft vertraut machen. Möchten Sie in der Zwischenzeit etwas letzte irdische Unterhaltung?“
„Was können Sie mir denn anbieten?“
„Praktisch alles, bis auf Essen, Trinken und illegale Drogen.“
Kevin überlegte. „Ich glaube, ich möchte nur noch ein letztes Mal mit meinen Eltern sprechen.“
„Ein ungewöhnlicher Wunsch. Aber ich werde versuchen, Sie zu verbinden.“
Die Verbindung herzustellen dauerte etwa eine Viertelstunde. Da es in Garmisch keine 3D-Interfaces gab, erschienen Kevins Vater und Mutter nur als flaches, verrauschtes Bild über dem Tisch. Sie hatten Tränen in den Augen und wünschten Kevin alles Gute. Auch Kevin, der sonst nicht rührselig war, fühlte einen seltsamen Kloß im Hals.
Irgendwann schließlich wurde es Zeit.
Die rote Nadel kam immer näher, bis sie das Blickfeld ausfüllte. In ihrem porösen Inneren schimmerte der blau-weiß gestrichene Flugkörper.
Kevin warf vom Glastunnel aus einen letzten Blick auf den blauen Himmel und das grüne Gras der Erde. Die kommenden drei Jahre würde er in engen fensterlosen Zimmern ohne Schwerkraft verbringen. Doch er freute sich auf die Zeit danach. Er träumte von roten Bergen und gewaltigen Maschinen, für die er verantwortlich sein würde. Kaum zu glauben, daß in Spanien zeitgleich noch zwanzig weitere, noch viel größere Raketen starteten, die Geräte, Material und Biomasse zum Aufbau der Kolonie transportieren sollten.
Schon als kleines Kind hatte Kevin davon geträumt, zu den Sternen zu fahren, und er war sich dessen bewußt, wie dankbar er seinem Schicksal sein mußte, daß ihm dieser Traum in Erfüllung gehen sollte.
Als der Fahrstuhl nach oben fuhr, wurde Kevin für einen kurzen Moment schwindelig, und er fühlte sein Herz im Hals klopfen.
„Ich bin Jean Girard“, sagte der kahlköpfige Mann am Eingang und reichte Kevin die Hand. „Kapitän der Seed II.“
„Kevin Günzberg, Navigator und Cheftechniker.“
„Lassen Sie uns ganz oben Platz nehmen, Kevin. Wir müssen uns verdammt beeilen, wir sind sehr spät dran. Wo waren Sie so lange?“
„Die haben mich vor der medizinischen Untersuchung so lange warten lassen“, sagte Kevin.
„Na ja, Hauptsache Sie haben es bis hierher geschafft.“ Girard lachte nervös und hustete anschließend in die Faust.
„Sie haben hoffentlich keine Grippe“, versuchte Kevin zu witzeln.
Die Antwort bestand nur aus einem schiefen Grinsen.
Das Cockpit sah exakt so aus wie in den Simulationen, so daß Kevin sich sofort zurechtfand und neben Girard Platz nahm. Viel zu tun gab es aber nicht, der Start wurde von der Bodenstation aus gesteuert.
Es wurde ernst, der Countdown stand bei einer Minute und zwanzig Sekunden. Girard begann zu husten.
„Geht es Ihnen nicht gut?“ fragte Kevin irritiert.
„Das wäre weit untertrieben, mein Junge“, erwiderte dieser. „Mein Arzt hat gesagt, ich habe nur noch zwei Monate zu leben.“
„Das ist nicht witzig, Captain.“
„Finde ich auch nicht. Aber das ist nun mal nicht zu ändern. Wenigstens wird meine Lebensversicherung meinen Kindern ein sorgenfreies Leben ermöglichen. – Was haben Sie dir eigentlich angeboten?“
„Angeboten?“ Kevin wurde nervös. „Ich verstehe nicht.“
„Du weißt schon. Dafür, daß du hier mitmachst. Irgendwas müssen Sie dir doch angeboten haben. Keine Angst, es kann uns keiner hören. Das ist hier die Endstation.“
„Das Geld, was ich verdiene, wird meine Familie bekommen“, sagte Kevin. „Aber dafür mache ich es nicht. Ich mache es, weil ich dabei sein will, wenn der Mars kolonisiert wird.“
Girard blickte ihn mit undefinierbarem Gesichtsausdruck an, das zugleich Entsetzen, Unverständnis und Bedauern widerspiegelte.
„Du glaubst wirklich, wir...“ er brach abrupt ab und sah weg.
„Was ist?“ wollte Kevin wissen.
„Nichts, gar nichts.“ Girard fingerte aus einem Fach an der Armatur eine Tablette hervor und schluckte sie.
„Was machen Sie da?“ rief Kevin. „Was ist hier los?“
„Nichts, gar nichts“, wiederholte Girard. „Konzentrieren wir uns auf den Start.“
„Hallo, Bodenkontrolle!“ rief Kevin. „Start abbrechen, es gibt ein Problem!“
„Ich glaube nicht, daß die uns hören“, meinte Girard. „Lehn dich zurück. – Willst du auch eine Tablette? Kann ich sehr empfehlen. Macht alles leichter.“
„Verflucht!“ Kevin griff nach dem Sicherheitsgurt, doch der ließ sich nicht mehr öffnen. Panik befiel ihn. Und dann begann Girard heftig zu husten und hörte auch nicht mehr auf, als ihm bereits ein dünner Blutfaden aus dem Mundwinkel rann.
Das Geräusch der zündenden Düsen übertönte schließlich alles.
Kevin wurde mit 6 G in den Sitz gedrückt und war bewegungsunfähig, bis die Rakete ihre vorläufig letzte Stufe abgeworfen hatte.
Captain Girard saß regungslos mit offenen Augen in seinem Sitz.
„Bodenkontrolle bitte kommen! Bodenkontrolle!“ schrie Kevin in sein Mikro, doch die Leitung schien vollkommen tot zu sein. Nicht einmal ein Rauschen war zu hören.
Jetzt endlich öffnete sich der Sicherheitsgurt. Kevin sah zuerst nach Girard, doch der war tot.
Irgendetwas hier lief schrecklich schief. Er mußte versuchen, das Funkgerät zu reparieren, sofern sich der Schaden im Innenbereich der Kapsel befand.
Er mußte aber auch die Mannschaft benachrichtigen. Was zuerst?
Funkgerät.
Hinter der Klappe, hinter der das Werkzeug sein sollte, war allerdings gar nichts. Ein leeres Fach, verdreckt obendrein. – Alle Fächer auf der Brücke waren leer!
Kevin mußte improvisieren. Er nahm Girards Abzeichen, brach es in zwei Hälften und schraubte damit einen Teil der Armaturen ab. Dahinter war...
Nichts.
Keine Elektronik, keine Kabel, nur gähnende Leere.
Es konnte sich hierbei nur um einen Alptraum handeln. Kevin öffnete die Tür nach hinten, um der Mannschaft Bescheid zu sagen. Keine sehr schöne Begrüßung würde das werden.
Der Mannschaftsraum allerdings war genauso leer wie alles andere. Es fehlten sogar die Innenverkleidung der Wände und die Sitze.
Kevin war mit der Leiche allein im Weltraum, ohne Steuerung, ohne Funkgerät, und wahrscheinlich auch ohne Lebenserhaltungssystem.
Das ergab keinen Sinn. Das ergab einfach keinen...
Kevin merkte, daß das Atmen immer schwerer wurde. Das wies darauf hin, daß wohl der Rumpf auch nicht korrekt abgedichtet worden war.
Der Traum vom Mars war zu Ende.
Eintrag 2088-0023-456782-092 der allgemeinen Enzyklopädie menschlichen Wissens:
Die Katastrophe vom 12. Mai 2088, bei der die ESA ein interplanetares Shuttle samt 12 Personen Besatzung verlor, war Gegenstand zahlloser Untersuchungen und Spekulationen. 2090 drehte Lutger Herinör, ein damals populärer Regisseur, einen Film über dieses Thema: „Die letzte Fahrt der Seed II“.
Laut offizieller Darstellung hatte der Navigator und Cheftechniker Kevin Günzberg nach dem Start eine Kursänderung eingegeben, wodurch das Raumfahrzeug vom Kurs abkam und sich in den Tiefen des Weltraums verlor.
Subversive Elemente streuten das Gerücht, daß das Raumschiff nur ein Dummy war, das niemals dazu gedacht war, den Mars anzufliegen. Es sollte ein Unfall vorgetäuscht werden, um unerwünschte Deutsche Gene von den neuen Marskolonien fernzuhalten. Frankreich dementierte dies überzeugend mit dem Argument, daß sich auch der hochrangige französische Offizier Yves Girard und zehn Elite-Astronauten unter den Verschollenen befanden.
Die EU-Marskolonien fielen nach dem 4. Weltkrieg im Jahre 2138 an die USA.