Der Pianist
Keine Idee. Nicht einmal ein nennenswerter Gedanke. Nur diese leere Seite, die mit jedem Blick, nach jeder angeschlagenen Taste und nach jeder infantilen Melodie, erwartungsvoll auf ein Lied zu warten scheint. Er spielt drauf los, in der Hoffnung, dass sich ein Klang von selbst entwickelt, dass sich, wie sonst auch, Töne, Stück für Stück aneinanderreihen und letzten Endes lebendig werden. Nichts. Nichts außer musikalischen Plattitüden, die zu ewiger Mittelmäßigkeit verurteilen.
Ein Schluck Wein soll es richten, ihn lockern und ihm als Muse dienen. Einem Schluck folgt der nächste, diesem ein Glas und zwei Flaschen später schläft er auf dem kleinen Sofa, vor dem laufenden Fernseher, während des Blickkontakts mit dem Klavier ein.
Eine Melodie, DIE Melodie. Wunderschön und in perfekter Harmonie erklingt, während zwei Schwäne, der eine schwarz, der andere weiß sich tanzend, in einem endlosen See umkreisen, ein Lied in Perfektion. Ein Lied, in dem jede Note schnell und sanft in die Nächste greift,eine Melodie durch die sich alle Emotionen des Menschen in Trost und Freude teilen. Der See wird zum Berg und darüber die Schwäne, die ohne einen einzigen Flügelschlag in der Luft stehen und mit umschlungenen Hälsen kreisen. Es ist ihre Melodie, die Melodie der Schwäne.
Der Schlaf verlässt ihn, Bewusstsein regt sich. Der Pianist streckt verschlafen die Glieder und wandert, unsanft verkatert in Richtung Küche, wo Kaffee und Kopfschmerztablette in greifbarer Nähe sind.
Die Melodie. Dieser Traum. Mit der, noch halbvollen Tasse läuft er mit schnellen Schritten ins Wohnzimmer, stolpert dabei fast über eine aufgeschlagene Ecke des dicken Orientteppichs und setzt sich ans Klavier. Seine Finger liegen regungslos auf den weißen Tasten. Nichts. Schon wieder regt sich nichts. Keine einzige Note findet den Weg in sein Gedächtnis, dabei ist er sich sicher, dass diese, schönste aller Melodien jeden Moment über seine Hände in die Welt finden.
Drei Stunden vergehen. Das Resultat ist noch immer eine leere Seite.
Jede Einzelheit des Traums ist ihm bewusst; die Schwäne, der See, der Berg und dieses Gefühl von einer mütterlichen Umarmung, die dieses Lied ihm gegönnt hatte. Nur das Lied selbst, bleibt ihm vorenthalten.
„Es darf nicht verloren sein, ich kann es beinahe hören. Ich weiß, dass es da irgendwo ist!“ dabei tippt er sich - mit ungewollter Stärke - mit dem Zeigefinger gegen die Schläfe. „Schwäne! Ich muss Schwäne sehen, dann muss es mir einfach wieder einfallen!“.
Der Pianist stürmt, noch im weinbefleckten Bademantel aus der Tür, ins Auto und fährt zu einem nahe gelegenen Teich, von dem er wusste, dass dieser ein paar Schwäne beherbergt.
Dort sitzt er, und beobachtet aufmerksam einen Schwan, der einsam seine Kreise zieht und geht erst, als die Sonne untergeht. Die Inspiration hatte ihn gemieden.
Enttäuscht legt er sich auf das Sofa, sieht fern und widmet sich dem Wein, erst ein Schluck, dann einen zweiten, dann ein Glas, welchem eine ganze Flaschen folgt.
Eine Melodie, DIE Melodie erklingt. Wieder sind es die beiden Schwäne, die aneinander hängend, in Ewigkeit tanzend, durch jedes Bühnenbild der Natur schweben. Eine friedvolle Ruhe, weit abseits jeder unangenehmen Stille umgibt ihn und jedes nennenswerte Glücksgefühl trägt ihn den Schwänen entgegen.
Nicht das geringste Bisschen davon bleibt, als ihn die Sonnenstrahlen wecken, nur die Bilder der großen Vögel.
Er sitzt hellwach mit den Ellenbogen auf den Tasten des Klaviers und dem Gesicht in den Händen vergraben, flüstert: „Das kann doch nicht sein. Wieso will es mir nicht gelingen? Es muss doch eine Möglichkeit geben, mich daran zu erinnern.“.
„ZWEI Schwäne!“ schießt es ihm durch den Kopf. Das musste der Grund sein, dass er sich beim Anblick des Schwans im Teich, am Tag zuvor nicht an die Melodie erinnern konnte. Erneut stürmt er aus der Wohnung, auf der Suche nach einem Schwanenpärchen und findet es nach einer vierstündigen Autofahrt, an einer kleinen Sandbucht eines kleineren Flusses. Sie tummeln sich hinter zwei Meter hohem Schilf, welcher es dem Pianisten ermöglicht die Tiere aus sicherer und unentdeckter Distanz zu beäugen.
Tief in der Nacht kommt er, sichtlich geknickt zu Hause an, wo nur eine leere Seite auf sein wiederkommen wartet. Er beschließt alles genau so zu machen, wie in den beiden Nächten zuvor, in der Hoffnung, erneut zu träumen und dieses Lied hoffentlich in Erinnerung zu behalten. Zwei Flaschen Wein, laufender Fernseher und dabei immer wieder den Blick auf das Klavier richten.
Und wieder tanzen die Schwäne. Über Täler und Flüsse, Wüsten und alle Meere gleiten die beiden schwerelos, begleitet von dieser einen Melodie, dieser akustischen Kulisse Edens.
Und wieder bleibt am nächsten Tag nicht mehr, als das Wissen darüber, von dem Lied und den Schwänen geträumt zu haben. Er steht nicht auf, will und kann dieser Melodie nicht den Rücken kehren. Der Pianist versucht ohne den Tag begonnen zu haben wieder zu schlafen, versucht wieder zu träumen und aus dem Traum heraus, alle Noten dieses Lieds in die Welt mitzubringen. Aber der Schlaf meidet ihn ebenso hartnäckig, wie jedwede Inspiration.
Widerwillig steht er auf und geht ins Bad, welches er seit zwei Tagen nicht mehr betreten hatte, was er inzwischen an sich selbst überdeutlich riechen konnte. Bei der Suche nach seiner Zahnbürste springt ihm eine Schachtel Schlaftabletten ins Auge. Unbegrenzter Schlaf. Ohne seine morgendlichen Waschungen begonnen zu haben, legt er sich wieder aufs Sofa, eine Tablette, ein paar Gläser Wein, Fernseher und den Blick auf das Klavier.
Schwäne, harmonische Klänge und liebende Wärme.
Nichts davon überlebt das Erwachen. Es ist tief in der Nacht, der Magen des Pianisten knurrt vor Mangel und sein Kopf schmerzt.
Ein Tablette, eine Flasche Wein, der Fernseher läuft noch immer und Blick auf das Klavier.
Schwäne, Tanz und Musik vereinen sich erneut in einer fantastischen Symphonie aller Sinne, die nur noch übertroffen wird von vollständigem Glück.
Die Realität lässt nichts davon übrig, entreißt dem Pianisten all das, wonach er sich so sehr sehnt: Diese eine gottverdammte Melodie.
Eine Schlaftablette, eine Flasche Wein, der laufende Fernseher und Blick aufs Klavier. Doch sein Körper kann und will nicht mehr schlafen, er war nur höchstens eine Stunde wach in den letzten 20 Stunden. Es dürstet ihn nach Wasser und Nahrung.
Zwei weitere Schlaftabletten, eine weitere Flasche Wein.
Keine Schwäne fliegen, kein Lied erklingt und nur Taubheit erfüllt die Seele, begleitet von einem langsamer werdenden Puls.