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Der Pfeifer-Hannes. Ein prosaisches Puppenspiel.

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24.02.2017
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Der Pfeifer-Hannes. Ein prosaisches Puppenspiel.

Vor Jahren einmal schlenderte der junge Studiosus Moser pfeifend durch den Park des kleinen Städtchens G. Es war gerade Herbstzeit, Blätter roter und gelber Farbe wehten lustig umher und tanzten ihren Reigen im Winde. Wie er so spazieren ging, da bemerkte er einen alten Mann, der, sich wild mit einem Spazierstocke von der Stelle stoßend, als ob er sogleich davon springen wolle, laut klagte und lamentierte, dass alles verloren sei. „Guter Herr!“ rief ihm der Moser entgegen, „Ihr stolpert ja bald über euren Rockzipfel, wohin so eilig?“ – „Keine Zeit. Keine Zeit. Mein lieber Sohn will heiraten und steht bereits vor dem Traualtar, doch die Braut ist nicht dort!“ – „Das ist gewiss ein großes Unglück.“ Erwiderte der Studiosus. „Doch wenn ihr nicht Acht gebt, dann liegt ihr gleich dort hinten in der Hecke.“ – „Großes Unglück! Großes Unglück!“ jammerte der Alte und ignorierte den Studiosus, der kopfschüttelnd dem Alten hinterher sah. Moser indes konnte sich ein Lachen nicht verwehren und so schlenderte er weiter durch den Park. Noch während er lief, drehte er sich erneut zu dem Alten herum, doch dieser war bereits entschwunden. Wie Moser nun seines Weges ging, kam er bald zur alten Kirche des Städtchens G. Von innen konnte er es singen hören. Da fiel ihm unweigerlich die Brautgesellschaft ein, die der Alte verlassen hatte. Er lief um die Kirche herum und fand sich bald an einem kleinen Mäuerchen, von welchem es jedoch einige Meter in die Tiefe ging. Die Kinder machten sich jäh einen Spaß daraus, ihre Ammen und Mütter beim Sonntagsspaziergange zu erschrecken, indem sie auf das Mäuerchen krochen und ihre Zirkusspielchen vollführten. Die Frauen riefen darauf ganz entsetzt und befahlen die Kinder herunter, was diese dann missmutig auch taten. Darauf konnte jedes Kind gewiss sein, von der Mutter oder Amme die Geschichte vom Pfeifer-Hannes erzählt zu bekommen; ganz gleich, ob es die Geschichte erst am vergangenen Sonntage gehört hatte. Doch du, lieber Leser, fragst dich gewiss, was es mit eben jenem Pfeifer-Hannes auf sich hat, so du selbst nicht aus G. stammst und die Geschichte selbst von deiner Mutter erzählt bekommen hast. Der Pfeifer-Hannes war ein junger Kerl, der sein Brot damit verdiente, die Menschen, wo er sie fand, zu unterhalten. Lustig spielte er die Laute, tanzte, vollführte kleine Kunststückchen und, wofür er am bekanntesten war, er pfiff. Er pfiff mit solcher Leidenschaft und Inbrunst, dass alle, die sein Pfeifen vernahmen, eine tiefe Freude im Herzen empfanden. Wo er wohnte oder schlief, ob er aus G. stammte oder woher er kam, wer seine Eltern waren oder ob er überhaupt Verwandtschaft besaß, vermochte indes keiner zu sagen, und wenn man ihn fragte, so gab er nur zur Antwort, dass er beim Spiele der Nachtigall und dem Scheine des Mondes zu ruhen pflegte. Darauf sang er dann ein Lied oder begann zu pfeifen. Wenn die Kinder ihn pfeifen hörten, dann baten sie die Mutter inständig, zum Pfeifer-Hannes gehen zu dürfen. Wenn es Abend wurde und die Menschen sich in ihre Häuser zurückzogen, dann konnten sie von fern noch sein Pfeifen hören, bis es irgendwann verstummte. Der Pfeifer-Hannes zog in der gesamten Stadt herum und doch war sein Lieblingsplatz die Mauer vor der Kirche. Auf ihr tanzte und sang er und wenn niemand bei ihm war, so saß er darauf, pfiff und bald darauf kamen die Kinder herbeigelaufen. Es kam nun einmal der Tag, es war ein Sonntag, als die Menschen erwachten und hinaus auf die Straße gingen. Alles war still. Die Kinder wunderten sich, dass kein Pfeifen zu hören war. Die Mütter sagten ihren Kindern, dass der Pfeifer-Hannes heute Feier-Tag mache, doch im Innersten glaubten sie wohl, dass er einfach fortgegangen war. So eilten sie dann trotzdem zur Mauer bei der Kirche. Kein Pfeifer-Hannes saß darauf aber sein Hut lag auf der Mauer. Die Kinder gingen zu der Mauer und setzten sich schmollend. Alle standen sie um den Hut herum und spekulierten, was es wohl damit auf sich haben mochte. Einige glaubten gar, er habe sich im Hute versteckt und würde gleich herausspringen. Da fuhr ein gellender Schrei durch die Menge. Ein Kind war auf die Mauer geklettert und hatte hinuntergesehen. In der Tiefe lag, der Kopf zerschellt und die Gliedmaßen verrenkt, der Pfeifer-Hannes. Blut lief die Rinnsäle an der Seite der Straße entlang und Ratten nagten an dem toten Körper.
Seit jenem verhängnisvollen Tage war nicht wenig Aufhebens um den mysteriösen Tod des Pfeifer-Hannes gemacht worden. Eltern fürchteten um ihre Kinder, ließen sie nicht mehr alleine auf die Straßen. Alle waren sie sich sicher, dass der Pfeifer-Hannes nicht durch eigenes Verschulden hinuntergestürzt war, sondern, dass es sich um einen Mordanschlag gehandelt haben müsse. Der städtische Rat beratschlagte um das weitere Vorgehen und beauftragte einen Spezialisten, der extra aus Bamberg angereist kam, um der Sache auf den Grund zu gehen. Ja, die Hysterie steigerte sich so weit, dass keiner mehr dem anderen traute und ein jeder jeden verdächtigte, ein Mordbrenner zu sein. Doch der Spezialist aus Bamberg fand keine Spur und so kam er zu dem Schlusse, dass der Pfeifer-Hannes wohl aus einer Dummheit das Gleichgewicht verloren haben müsse und in die Tiefe hinabgestürzt sei. Viele Jahre, Jahrzehnte vergingen und für immer blieb die Mauer eine ständige Erinnerung daran, was übermütigen Tunichtguten passieren kann, wenn sie nicht Acht geben. Manche behaupteten gar, es noch immer an manchen Tagen pfeifen hören zu können, was jedoch als Spukgeschichte abgetan wurde. Das Gerücht, dass der Pfeifer-Hannes ermordet worden sei, hielt sich indes nur in den Köpfen der skeptischsten und phantastischsten Bewohner des Städtchens G. Zu ihnen jedoch zählte auch der Studiosus Moser, der, noch immer an jener Stelle stehend, an der vor so vielen Jahren der Hut des Pfeifer-Hannes lag, in Gedanken versunken die spitzen Dächer der Häuser von G. besah. Seine Augen folgten dem Rauch, der aus den Schornsteinen heraufstieg, und verloren sich im wolkenbehangenen Himmel. Ein Regentropfen fiel ihm auf die lange Nase und holte ihn aus dem bunten Reiche seiner Phantasie zurück auf die Erde. „Ei, eilig weiter.“ Rief er. Strammen Schrittes schritt er an der Mauer vorbei, eine Treppe hinab, die geradewegs zu der Stelle führte, an der vor so vielen Jahren der zerschlagene Körper des Pfeifer-Hannes gelegen hatte. Es regnete nun recht stark, doch etwas bewog den Studiosus, kurz innezuhalten und hinaufzuschauen. Es war, als wollte die Sonne durch die Wolken brechen, doch vermochte sie es nicht, was dazu führte, dass ein heller Fleck in den Wolken von diesem verzweifelten Kampfe zeugte. Der Studiosus besah dieses Spektakel, welches ihn derart gefangen nahm, dass er erst nicht bemerkte, dass ein schwarzer Schatten an der Mauer stand. Aufgrund des hellen Lichts konnte er die Person nicht genau erkennen, sah jedoch, dass sie ihren Arm nach ihm ausstreckte. „Heda! Gebt acht, dass ihr nicht stürzt!“ schrie der Studiosus Moser nach oben, doch die Gestalt schien ihn nicht zu hören. Da sah er, dass ein Gegenstand herabgeworfen wurde. Schnell brachte er sich in Sicherheit, doch bald bemerkte er, dass der Gegenstand recht langsam zur Erde hinabsank. Neben ihm landete alsbald ein bunter Hut. „Toller Schnack!“ entfuhr es ihm, den Blick erneut nach oben wendend. Ihm war, als hörte er ein leises pfeifen. Die Gestalt indes war verschwunden. Moser ging zu dem Hute, sich mehrfach nach oben umsehend, damit nicht doch noch etwas Schwereres nach ihm geworfen würde. Langsam hob er den Hut auf und besah ihn recht genau. „Irgendein toller Kerl erlaubt sich einen Scherz mit mir und versucht, mein Gemüt aus der Verfassung zu bringen.“ Dachte er bei sich. Da erst kam es ihm, dass ja seinerzeit nur der Hut des unglücklichen Pfeifer-Hannes auf der Mauer gefunden worden war. „Toller Schnack!“ murmelte er erneut. Dann setzte er sich den Hut auf den nassen Kopf und ging davon.
Die Erlebnisse des Tages ließen den Studiosus Moser noch lange Zeit in seiner Stube herumgehen, bevor ihn ein Anfall von Müdigkeit dann doch in sein Bett zwang. Unentwegt kreisten die Fragen in seinem Kopfe. Wer war der unbekannte Fremde gewesen, der den Hut zu ihm hinabgeworfen? Wieso tat er dies? Wieso einen Hut? War dies eine zwar geschmacklose doch furchteinflößende Anspielung auf den tragischen Tod des Pfeifer-Hannes gewesen? Seine Gedanken wollten nicht schweigen und so schlief er erst nach einer Weile unruhig ein. Sein Geist glitt unsanft hinüber in das Reich der Träume, in dem die Königin Phantasie zu regieren pflegt. Dunkel war es um den Studiosus geworden, die Fragen, welche er vor dem Einschlafen im Kopfe hatte, kreisten noch immer um ihn und ließen ihn im Geiste in den Park zurückwandern. Da stand er, nicht fern von der Stelle, an der er den Alten getroffen hatte. Er sah sich um, doch konnte keine Menschenseele entdecken. Die Vögel zwitscherten fein und ein Bach rauschte in der Ferne. Da vernahm Moser noch etwas, aus einem Gebüsche neben ihm kam ein Schluchzen. Langsam ging er darauf zu und schob die Zweige beiseite. Zu seinem Erstaunen entdeckte er ein hübsches Mädchen, ganz in weiß gekleidet. Sie lehnte weinend an einem Baumstamme. „Weshalb weinst du?“ fragte Moser. „Ich weine“ antwortete ihm das Mädchen mit einer lieblichen Stimme. „Ich weine, weil ich meinem Bräutigam davongelaufen bin.“ – „Nun, wenn es dich so traurig stimmt, so laufe doch wieder zu ihm zurück.“ – „Das kann ich nicht.“ Sagte sie schluchzend. – „Weshalb kannst du das nicht?“ fragte Moser verwundert. – „Weil das mein Unglück bedeuten würde.“ – „Wie ging das zu?“ – „Ach, mein guter Herr.“ Weinte das Mädchen. „Ich bin wohl das unglücklichste Geschöpf auf Erden, dabei war ich bis zur letzten Nacht noch so glücklich, wie eine Frau, die im Begriffe ist zu heiraten, eben sein kann.“ – „Was geschah aber letzte Nacht?“ fragte der Studiosus, der sich auf den Boden gesetzt hatte. – „Nun, es ist nicht lange her, da kam ein feiner junger Mann bei uns zuhause vorbei und fragte, ob er mich ausführen dürfe. Die Mutter und der Vater freuten sich sehr, denn der junge Mann war aus gutem Hause. Nicht lange danach machte er mir einen Antrag und ich war voll des Glücks. Die Hochzeit wurde geplant und ich war mir sicher, mit diesem Manne das Glück meines Lebens gemacht zu haben. Da ich aber von Hause aus den Sternen zugetan bin, ging ich gestern Nacht zu der Alten, die am Rande von G. ihr Häuschen hat, um mir von ihr die Sterne lesen und meine Erwartungen bestätigen zu lassen. ‚Weise Frau‘ sprach ich zu ihr ‚bitte lest mir die Sterne und sagt mir, ob ich mit meinem Gatten das Glück finden werde, dass ich mir so lange gewünscht!‘ Die Alte lachte hämisch und legte ein Brett mit den zwölf Tierkreisen auf den Tisch. Dann begann sie, kleine Steine auf dem Brett zu verteilen, jeweils bei den Tierkreiszeichen, die gerade am Himmel zu sehen waren, nämlich Waage, Scorpion und Schütze. Dann fragte sie mich, in welchem Monat ich zur Welt gekommen. Ich antwortete ihr, doch sie schüttelte den Kopf. ‚Ei, das tut sich nicht gut an.‘ – ‚Was soll das aber heißen?‘ fragte ich. – ‚Die Sterne haben einen anderen Plan für dich bestimmt. Du wirst einem Jünglinge begegnen, mit dem du glücklich sein wirst.‘ Ich weinte bittere Tränen und wollte gerade das Haus verlassen, da griff mich die Alte am Arme und flüsterte mir ins Ohr: ‚Es ist noch etwas. Heiratest du deinen Bräutigam, so wirst du zwar unglücklich sein, doch du wirst mit ihm zusammenbleiben bis ans Ende deiner Tage, wirst Kinder mit ihm haben und ausreichend Geld. Entscheidest du dich jedoch für den Jüngling, so wirst du zwar glücklich, doch schrecklich wird dein Ende sein. Arm werdet ihr sein, die Familie wird euch verstoßen und du findest einen frühen Tod.‘ Mit diesen Worten in den Ohren verließ ich die Alte. Die ganze Nacht lag ich wach, nachsinnend, was ich tun sollte.“ – „Du entschiedst dich also, das Glück und das Verderben zu wählen.“ Sagte Moser betroffen. – „Hört weiter.“ Forderte ihn das Mädchen auf. „Ich kam nach langem Nachdenken zu dem Entschluss, lieber unglücklich zu sein und dafür ein gutes Eheweib zu werden. Der Gedanke, meine Eltern zu erzürnen stimmte mich traurig, und daher war ich mir ganz sicher, dass ich die Hochzeit antreten würde. Heute Morgen jedoch, als ich im Park spazieren ging, um mich ein wenig zu erholen – ich hatte ja nicht geschlafen – begegnete ich einem jungen Manne. Sofort kam mir der Gedanke, dass dies der Jüngling sein musste, den mir die Sterne bestimmt hatten und so versuchte ich, ihm aus dem Wege zu gehen, um der Versuchung zu entgehen. Ich lief, so schnell ich konnte, durch den Park, doch er schien mir immer voraus zu sein. Kaum war ich um ein Eck gebogen, da lehnte er an einem Baume oder schlenderte mit dem Spazierstocke umher. Ich schaffte es, seinen Blicken auszuweichen und so stürzte ich mich in meiner Verzweiflung hier hinter den Busch. Ich weiß nicht, für wie lange ich mich schon hier versteckt halte.“ – „So ist das!“ entfuhr es Moser, der ihrer Erzählung mit Spannung gelauscht hatte. „Du wirst bereits gesucht, eile, zur Trauung zu kommen, dann entgehst du deinem verderblichen Schicksale!“ – „Und wenn ich dem Jünglinge auf dem Wege begegne? Wenn ich mich so unsterblich verliebe, dass ich meine Vorsätze vergesse und in mein Unglück laufe?“ – „Ich werde dich begleiten und dich schützen.“ Sagte Moser, der inzwischen aufgestanden war, ihr die Hand hinhaltend. „Ihr seid nett.“ Sagte sie verlegen. Zusammen gingen sie durch den Park und unterhielten sich. Beide lachten sie miteinander und schon bald war die Angst vor dem Jünglinge vertrieben. Der Weg schien nicht enden zu wollen und so kam es, dass sie sich auf einem kleinen Brückchen, welches über einen feinen Bach ging, nach ihm umsah, wobei sich ihre Blicke begegneten. Zunächst tat sie, als wäre nichts gewesen, doch bald hakte sie sich bei ihm ein, als sie so dahingingen, bis sie sich schließlich, inniglich küssend, auf die Erde sinken ließen.
Schweißgebadet wachte Moser auf, der Traum hatte seine Verfassung zerrüttet. Doch jedes aufkommende Gefühl von Unsicherheit drängte er augenblicklich zurück, denn er sagte sich immer wieder, dass es lediglich seine Phantasie sei, die aus der merkwürdigen Geschichte mit der Braut am Mittage diese unheimliche Geschichte gesponnen habe. Als Moser sich wieder einigermaßen gefangen hatte, entschloss er – da die Sonne gerade am Aufgehen war – einen Spaziergang zu machen, um den Kopf etwas frei zu bekommen. Seine Beine trugen ihn durch G., das erst allmählich aus dem Schlafe erwachte. Während des Spazierganges hatte er beständig das Bild des Mädchens im Kopfe, welches ihn nicht mehr loszulassen schien. Bald fand er sich in jenem Parke wieder, der am gestrigen Tage der Auslöser für die seltsamen Ereignisse gewesen. Gedankenverloren setzte er sich auf eine nahe Bank und blickte auf die Wipfel der Bäume, die allmählich an Farbe verloren und sich auf den kommenden Winter vorbereiteten. Er konnte nicht sagen, wie lange er dasaß, Jahrzehnte schienen zu vergehen. Eine Violine riss ihn aus seiner mechanischen Verfassung. Den Kopf umwendend, sah er einen Zug voller schwarzgekleideter Menschen auf ihn zukommen. Sie liefen geradewegs an ihm vorbei. Er erkannte, dass es sich um einen Leichenzug handeln musste. Langsam stand er von der Parkbank auf, da wurde ein offener Sarg an ihm vorbeigetragen. Sein Herz stand still! In dem Sarg liegend, erblickte er das Mädchen aus seinem Traume. Er sank auf die Parkbank zurück. Wie konnte das sein? Diese Frage drang sich ihm wieder und wieder auf, doch er konnte es sich nicht beantworten. Bebend sprang er von der Bank auf und rannte los. Er kümmerte sich nicht darum, was die Leute von ihm dachten, dabei schienen sie ihn gar nicht zu bemerken. Als schon die letzten Häuser von G. dicht vor ihm waren, begann es erneut zu regnen. Es stürmte regelrecht, sodass er gezwungen war, in einem der Häuser Zuflucht zu suchen. Wild klopfte er an eine der Türen, doch niemand öffnete ihm. Noch einmal klopfte er laut an die Türe, welche ihm dann auch geöffnet wurde. Eine alte Frau, sich unter einem Tuch vor dem Regen schützend, streckte den Kopf hinaus. „Ei, was willst du?“ fragte sie mit heiserer Stimme. Ihr Blick wirkte indes vielmehr, als habe sie einen Geist gesehen. – „Ich suche einen Unterschlupf vor dem Unwetter.“ – „Nun denn“ murmelte sie „komm herein.“ Er lief mit ihr eine lange Treppe hinauf und kurz darauf fand sich Moser in einem großen Raume wieder, an dessen Wänden Teppiche mit allerlei seltsamen Mustern hingen. Unzählige Kerzen beleuchteten den Raum und in der Mitte, neben einem kleinen Tische, mit zwei Stühlen bestückt, stand ein Planetarium. Fasziniert besah Moser die Apparatur mit ihren unzähligen Zahnrädchen, die, alle in einem harmonischen Spiele begriffen, die Planeten sanft bei ihrem Wege um die Sonne führten. Erst als die Alte ihn am Arme griff und auf einen der Stühle am Tische buxierte, konnte er den Blick von jener Maschine abwenden. Die Alte setzte sich ihm gegenüber und blickte ihm tief in die Augen. Sie schien geradewegs durch ihn hindurchzusehen, was ihn derart verstörte, dass er wieder den Blick auf das Planetarium richtete. „Du spürst eine innige Verbindung mit dem Universum?“ fragte die Alte verschmitzt. Moser blickte sie nicht an, doch antwortete: „Ja.“ – „Möchtest du erfahren, was die Gestirne dir über dein Schicksal berichten können?“ Geistesabwesend antwortete er: „Ja, ich will.“
Aus einer beistehenden Truhe zog die Alte das Brett mit den zwölf Tierkreiszeichen und ein Säckchen, aus dem sie kurz darauf eine handvoll Kieselsteine herauszog und diese auf dem Brett verteilte. „Die Sterne drängen schon lange darauf, dir dein Schicksal zu verkünden. Kannst du dir denken, was sie dir sagen wollen?“ – „Ich weiß nicht.“ – „Du hast eine lange bestehende Schuld zu bezahlen. Dir ist jemand bestimmt, doch hier wirst du sie nicht finden. Es gibt nur einen Ort, an dem du Gewissheit erlangen wirst und du weißt auch, wo er ist.“
Moser hörte ihr mit halbem Ohre zu, doch noch immer hing sein Blick an dem Planetarium. Es schien mit einer Uhr verbunden zu sein, doch als der Zeiger derselben auf die zwölf wanderte, begannen sich die Planeten wild umherzudrehen. Die Erde zog bald hierhin, bald dorthin und auch die anderen Planeten standen alsbald in allen erdenklichen Konstellationen. Moser wurde der Anblick unerträglich und so sprang er von seinem Stuhle auf und lief zur Türe. Die Alte rief ihm hinterher: „Stürze nicht in deiner Erregung! Die Treppe ist gar steil.“ – Moser blickte sie leichenblass und mit Schweiß auf der Stirn an, da fiel sein Blick wieder auf das Planetarium, die Planeten standen alle in einer Reihe zu der Sonne und waren auf ihn gerichtet, wie ein Speer.
Obwohl erst Mittage, legte sich Moser, sobald er daheim angekommen, auf sein Bett und schlief augenblicklich ein. Erst im Traume konnte er die Ruhe finden, die er im Leben so sehr suchte. Voller Erregung wartete er darauf, das zauberhafte Mädchen wieder zu sehen, denn in seinem Traume lebte sie fort.
Bald schon fand er sich Arm in Arm mit dem wunderschönen Mädchen, gerade in der Stadt umhergehend. Sie hatte ein liebliches Kleid an und Blumen in ihren Haaren. Sie gingen durch die Straßen, wobei ihm auffiel, dass die Leute sie argwöhnisch beäugten. Dennoch kümmerte er sich wenig darum, er hatte ja sie. Als sie an die Kirche kamen, flüsterte sie zu ihm: „Wie bitter ist es, dass wir nicht heiraten können? Meine Eltern würden das niemals zulassen.“ Sie gingen noch ein Stückchen weiter zu der Mauer, da kniete sich Moser vor sie hin, hielt ihre Hand und sprach: „Oh meine Liebe, wenn du mir nur das Versprechen gibst, mich ewig zu lieben, so brauche ich keine Zeremonie, brauche ich die Welt nicht. Ich will dir ewig treu sein und für dich sorgen, wenn du nur bei mir bleibst.“ Sie sah ihn mit einem Ausdruck des Erstaunens an, dann jedoch zog sie ihn wieder herauf und küsste ihn. Es wurde dunkel um Moser, doch schon bald fand er sich in einer kleinen Hütte wieder. Das Mädchen kochte gerade eine Suppe über der Feuerstelle und er stand am Fenster. Durch das Fenster konnte er die Dächer von G. aus der Ferne sehen. „Wir haben zwar wenig, doch uns haben wir noch.“ Sagte sie, halb kichernd, halb weinend. Er nahm sie in den Arm und sprach: „Weine nicht. Ein weiser Mann sagte einmal, es sei schon Glück, wenn man die Arme und Füße nach Gutdünken erheben kann.“ Worauf sie beide zu lachen begannen. Indem sie sich umarmten, fiel draußen das Laub von den Bäumen und der Schnee begann zu rieseln. Bald war es eiskalt geworden in der kleinen Hütte und ein Husten des Mädchens ließ ihn aufblicken. Er fuhr zusammen, denn er erkannte seine Liebe nicht mehr. Halb verhungert hing sie in seinen Armen und auch er war bis auf die Knochen abgemagert. „Wirst du mich ewig lieben?“ fragte sie mit schwacher Stimme. – „Ja, das werde ich!“ sagte er weinend. Er umklammerte sie noch fester, doch sie hatte bereits ihr Leben ausgehaucht. Bebend ging er in der Hütte auf und ab. „Wieso? Wir wussten um dein Schicksal und dennoch habe ich deinen Untergang bewirkt. Niemals werde ich mir das verzeihen.“ Zitternd setzte er sich in das Eck der Hütte und blickte zu der Toten. Sein Geist bebte und er fürchtete, wahnsinnig zu werden. Nichts half, kein Gedanke kam, an den er sich klammern konnte, kein Bild, dass ihm Halt gab. So saß er zwei Tage still da, bis er beinahe verhungert, verdurstet und erfroren war. Am dritten Tage keimte ein Funken neuen Lebens in ihm auf. Eine Melodie entsprang seinem Geiste und schwirrte in seinem Kopfe herum. Sie war das einzige, worauf er sich nun konzentrierte. Doch allein in seinem Kopfe war die Melodie zu leise und unbestimmt, er brauchte ein Instrument, um sie zum Leben zu erwecken. Da fiel ihm nichts anderes ein, als dies Lied zu pfeifen. Mit den ersten Tönen war es ihm, als stünde seine Liebe von den Toten in neuer Frische und Jugendblüte auf und tanze durch das Zimmer. Schnell erhob er sich, um zu ihr zu gehen, doch sobald er mit dem Pfeifen aufgehört, war sie entschwunden. So begann er erneut und tanzte bald pfeifend mit dem Mädchen durch das Zimmer. Neue Fröhlichkeit keimte in ihm und so ging er pfeifend in die Stadt. Er übergab einem Schmied alle seine Habseligkeiten unter der Bedingung, dass er die Tote aus der Hütte holen und sie ihren Eltern bringen würde. Nun, er gab nicht alles fort, er behielt eins ihrer Kleider, woraus er sich einen bunten Anzug nähte und einen bunten Hut. Bald war ihm langweilig und darum ging er in die Stadt, lustig pfeifend, denn dann war seine Liebste bei ihm. Den Kindern gefiel sein Pfeifen sehr und auch die Älteren hörten es gern. Er bekam von ihnen einige Groschen Lohn und einmal gab ihm der alte Meier eine Laute, auf der er dann eifrig spielte. Sein Lieblingsplatz war die Mauer hinter der Kirche, da er dort an jenen wunderbaren Tag erinnert wurde, an der seine Liebste ihm die Liebe geschworen hatte.
Mit einem Schlag erwachte Moser. War seine Phantasie nun mit ihm durchgegangen, fragte er sich. Verwirrt setzte er sich auf und sah aus dem Fenster seines Zimmers. Alles kam ihm auf einmal so leer vor und obgleich er eine Ewigkeit geschlafen haben musste, war es noch taghell draußen. Er entschloss sich, noch einmal einen Spaziergang zu machen, um über den Traum nachzudenken. Den Hut zog er wie selbstverständlich auf und verließ das Haus. Ein fernes Donnern kündigte einen Sturm an, doch schien es noch weit weg, sodass Moser beruhigt die Straßen entlanglief. Nur wenige Menschen waren bei diesem Wetter auf den Straßen unterwegs und die, denen er begegnete, ignorierten ihn. Die merkwürdige Verbindung zum Pfeifer-Hannes, die Moser in seinem Traume gespürt hatte, ließ ihn nicht mehr los. Welches Geschick breitete sich über ihm aus und lenkte seine Bahn? Wer war der unbekannte Fremde an der Mauer gewesen und weshalb hatte ihn die Begegnung mit dem Alten im Park so durcheinandergebracht? Bald trugen ihn die Schritte wieder zu der Kirche, in der er es singen hören konnte. Er ging unbeirrt weiter, kam zu der Mauer und musste an den Traum denken. Er dachte an das Mädchen, mit dem er hier Arm in Arm gestanden hatte und wie er ihr hier die Liebe geschworen hatte. Er ging zu der Mauer und setzte sich darauf, den Hut neben sich legend. Leise, nur für sich selbst, begann er zu pfeifen. Er pfiff jenes Lied, welches ihm im Traume aus der Bitterkeit geholfen hatte. Tatsächlich fühlte er eine tiefe Zufriedenheit. Wie aus dem Nichts stand jedoch ein Mann vor ihm. „Wer seid ihr?“ fragte Moser verwirrt. – „Ihr kennt mich nicht, doch ich kenne euch nur allzu gut!“ sagte dieser wütend. Moser verstand nicht, brachte allerdings keinen Ton heraus. „Ich bin der, dem ihr die Braut stahlt. Ich habe sie geliebt und nun ist sie tot! Daran seid alleine ihr schuld!“ Moser war gänzlich benommen, doch ehe er etwas erwidern konnte, packte ihn der Mann am Kragen und stieß ihn die Mauer herunter. Während des Falls schien die Zeit nicht zu vergehen. Es wurde dunkel und wieder hell um ihn herum und alles, woran er denken konnte, war das Mädchen. „Lotte“ brachte er noch heraus, dann wurde es dunkel um ihn.
Als er die Augen aufschlug fand er sich im strömenden Regen vor der Mauer, der Hut lag noch immer dort. „Träume ich noch?“ fragte er sich. Langsam ging er zu der Mauer, nahm den Hut, sprach: „Verfluchter Hut!“ und begann, leise zu pfeifen. Da trat das Bild des Mädchens erneut vor seine Augen und er fühlte sich leicht wie ein Blatt. Den Hut warf er hinunter, ohne die Augen von seiner Liebsten abzuwenden, die neben ihm an der Mauer stand, leise lispelnd: „Mein liebster Johannes“. Er nahm sie in den Arm und so gingen sie beide die Straßen entlang, bis sie die Tore von G. erreicht hatten. Doch hielten sie nicht inne, unentwegt liefen sie weiter, bis ihre Schatten im Zwielicht der beginnenden Dunkelheit verschwunden waren. Das geisterhafte Pfeifen allerdings hat man in G. nie wieder gehört.

 

Hallo Johannes Kreisler!

Es ist als Einstand hier nicht sehr empfehlenswert, kurz hintereinander mehrere Geschichten einzustellen, solange man sich in diesem Forum noch nicht viel eingebracht hat. Du musst dann immer gegen den Verdacht ankämpfen, dass du eher darauf aus bist, Kritik und Anregungen zu ernten, anstatt andere Geschichten zu kommentieren. Genau davon lebt aber diese Plattform hier.

Und wenn deine Geschichten dann auch noch als Einstiegswerk direkt so ellenlang sind, machst du dir den Start hier umso schwerer. Mein Rat - kommentiere andere Geschichten, zeig uns, dass du nicht nur nehmen willst, sondern auch gibst, dann wirst du hier eine Menge Freu(n)de haben und finden.

In diesem Sinne Herzlich Willkommen!
EISENMANN

 
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Hola Johannes Kreisler,

um gleich mit der Tür ins Haus zu fallen: Nach einem plaisierlichen Anfang beginnt der Text, so ungefähr in der Mitte, sich zu ziehen. Und zum Ende hin mit zunehmender Tendenz.
Ganz ehrlich gesagt, musste ich mich lustlos zum Ende durchkämpfen.
Das ist keineswegs böse gemeint, denn die Idee, die Aufmachung, der fast fehlerfreie Text – das sind doch Pluspunkte, die es zu erwähnen gilt!
Deine gewählte altmodische Art und Weise des Erzählens passt zur Handlung, nur hier habe ich ein Problem:

... er habe sich im Hute versteckt ...
Du wirst einem Jünglinge begegnen, ...
Anfangs ist das beim Lesen ganz neckisch, doch bei langem Text beginnt es, mich zu nerven. Wenn Du dieses Dativ-e reduzieren würdest, bekäme es dem Text(e):D sicherlich ganz gut.
Obwohl erst Mittage, legte sich Moser, ...
Das ist eindeutig zu viel des Guten.

... ein jeder jeden verdächtigte, ein Mordbrenner zu sein.
Ich finde, hier geht es ‚nur’ um Mord oder Totschlag – ein Mordbrenner hingegen ist ein Teufel, der sengt, brennt und mordet, ein Mitglied marodierender Soldateska.

„Toller Schnack!“ entfuhr es ihm, ...
Das versteht nicht jeder. ‚Schnack’ bedeutet eigentlich Geplauder. Schnickschnack ist auch bekannt – aber Du meinst vermutlich ‚Unsinn’ oder ‚Quatsch’?

„Ach, mein guter Herr.“ Weinte das Mädchen.
„Ach, mein guter Herr“, weinte das Mädchen. Dieser Fehler taucht häufig auf.

... die im Begriffe ist zu heiraten, eben sein kann.“ – „Was geschah aber letzte Nacht?“ K fragte der Studiosus, ...
Bindestrich weg, neue Zeile.


... bei uns zuhause vorbei und fragte, ob er mich ausführen dürfe. Die Mutter und der Vater freuten sich sehr, denn der junge Mann war aus gutem Hause.
Doppelung.

In dem Sarg liegend, erblickte er das Mädchen aus seinem Traume.
Nicht lachen!
Überhaupt gibt es zu viele Traumsequenzen in diesem zwar sehr langen, aber für so viel Geträumtes doch recht kurzen Text.

... auf einen der Stühle am Tische buxierte ...
bugsierte

Von hier an verliere ich das Interesse am Text. Es will und will nicht enden. Noch eine Marotte und noch eine unnötige Begebenheit. Eine (Kurz)-Geschichte dieser Länge muss in der Lage sein, die Spannung, das Interesse des Lesers zu halten. Hier empfinde ich aufkommende Langeweile; die altmodischen Verrenkungen sind nicht mehr originell, es schleppt sich, der Autor kommt nicht zum Ende, weil ihm immer noch etwas einfällt.
Die Szene mit einer weisen Frau kommt doppelt und irgendwann meine ich, das alles so oder so ähnlich schon weiter oben gelesen zu haben.

Vielleicht kennst Du ‚Kill Your Darlings’? Soll heißen, trenne Dich von manchem, was Deiner Kreativität entstammt, was deshalb als einmalig und unermesslich wertvoll erscheint.
MMn wäre dieser Text nur mit Vergnügen zu lesen, wenn Du bereit bist, ihn kräftig zu kürzen. Aber es ist Dein Werk.
Auch brauchte dieser Text-Koloss dringend Absätze. Gute Methode: laut lesen; dann macht es automatisch ‚klick’;).

Lieber Johannes Kreisler, eigenwillige Texte finde ich sympathisch. Mein persönlicher Leseeindruck ist unmaßgeblich. Deine Geschichte pfeift auf den Mainstream – Grund genug, sie zu mögen. Bisschen verschlanken, fehlende Kommas nachliefern, und fertig ist ein feines Ding.
Zu guter Letzt: Ich fürchte, nicht allzu viele Mitglieder werden den Nerv haben, Deinen Text in der jetzigen Ausführlichkeit zu lesen. Sollte deshalb die Resonanz schwach sein, lass Dich nicht entmutigen. Behalte mal das Tun und Lassen des Forums im Auge, kommentiere die anderen – und ehe Du Dich’s versiehst, bist Du mittendrin.

Ich wünsche Dir eine gute Zeit bei uns.
José

 

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