- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 6
Der Pfannkuchenprinz
Diese Geschichte beginnt mit dem Tod. Oder, besser gesagt, auf seinem Schiff. Der Himmel war den Vormittag über bewölkt gewesen, aber nun lugte ein schelmisches Stück Sonnenkruste verstohlen hinter dem blaugrauen Wolkengebilde hervor und brach den frigiden Himmel entzwei wie Elvis Hüftschwung die biederen fünfziger Jahre.
,,Wunderschön“, sagte San, schloss die Augen und wiegte ihren drolligen Kopf mehrmals von einer auf die andere Seite, als wollte sie das Licht einfangen.
Ich nickte unbemerkt und schaute zu wie sie, die schwer bestiefelten Zehen gespitzt, ihre zierlichen Arme auf die Rehling legte, den Kopf darin vergrub und ihr flaches Näschen wie eine Hündin am wollenen Ärmel ihrer übergroßen Strickjacke rieb. Der Wind strich ihr die Haare aus der Stirn. Keiner von uns beiden war für eine Bestattung passend angezogen; wir hielten den Tod für keinen Menschen, dem so etwas auffiel. Ich trug Jeans und ein altes Kapuzensweatshirt, dazu eine Wollmütze und Skater-Turnschuhe, obwohl ich noch schlechter skate als ich Zigaretten drehe. San sah genauso aus wie früher, wie die Tochter von Björk und Kurt Cobain. Auch ihr zarter Körperbau, das wilde Haar und die großen Augen wirkten noch immer mädchenhaft. Doch wie ein Schatten, der je nach Lichteinfall kürzer oder länger wurde, hatten sich Reife und Erfahrung an ihre Glieder und Stimme geheftet. Auf mich wirkte sie seriös und elegant, weder ein weißer Kittel noch eine schwarze Robe hätten sie entstellen können. Doch ihr wahrer Beruf, nämlich Musiktherapeutin, stand ihr noch besser.
Ich trat neben sie an die Rehling und starrte aufs Meer. Ein vages Gefühl von Wiederkehr ergriff mich.
,,Erinnerst du dich an den Tag, an dem ich plötzlich aus der Klasse lief und den ganzen Tag nicht wiederkam?“ fragte San plötzlich und sah blinzelnd zu mir auf. Dann schloss sie die Augen wieder.
,,Das war ein Tag bevor ich mit euch beiden das erste Mal sprach.“
Ich erinnerte mich natürlich.
,,Ihr habt die Zettel die im Unterricht ausgeteilt wurden und die Hausaufgaben für mich eingesteckt. Einfach so. Und ihr habt nicht mal gefragt wohin ich verschwunden bin.“
Auch das wusste ich natürlich.
,,Er stand da, groß und sympathisch, und sprach mit dieser tiefen, melodiösen Stimme. Er tappte ein wenig unbeholfen mit den Füßen. Ich dachte an einen Tanzbär.“ Sie lächelte.
,,Und du warst sein Schatten. Schweigsam und unergründlich, mit diesem seltsam schönen Gesicht. Es hat mich immer ein wenig an ein experimentelles Kunstwerk erinnert.“
Ich wurde ein wenig rot. Ich vermeide den Blick in den Spiegel, beim Rasieren ist mein Blick starr auf den Bart gerichtet.
,,Einzelteile, die scheinbar nicht zusammengehören, habe ich gedacht. Doch so komponiert, dass sie plötzlich einen Sinn ergeben. Und es gab viel darin zu entdecken. Bei jedem Lichteinfall sahst du anders aus. Das hat mich fasziniert. Ich hätte zu gern den Künstler getroffen und ihn gefragt, was ihn inspiriert hat.“
Hilflos wartete ich, dass sie fortfuhr.
,,Ihr wart anders als die anderen. Das ist mir vorher nie aufgefallen, oder ich wollte es nicht wahrhaben. Wenn du selbst anders bist, verschwimmt der ganze Rest zu einem großen, vielzüngigen Ungeheuer, das dich aus hundert leeren Augen anstarrt. Und leere Worthülsen rattern wie aus einem Maschinengewehr und prasseln zu Tausenden auf den Boden, sodass man sein eigenes Wort nicht mehr versteht. Ich hatte mich fast an diese Leere gewöhnt, die scheinbar jeder dem ich begegnete in sich trug. Und auch mich ergriff sie. So bunt ich mich auch kleidete und mein Haar zerzauste, ich konnte mich, wenn ich mich in einem Schaufenster spiegelte, nicht erkennen. Nur eine Hülle, die nicht wirklich zu mir gehörte. Eine Maschine, in der ein Geist gefangen war. Ihr zwei wart meine Retter. Ihr zwei und die vielen Freunde, die wir gemeinsam kennenlernten.“
Ich runzelte die Stirn. ,,Du meinst Bob Dylan, Neil Young und Leonard Cohen?“
,,Und Johnny Cash, Tom Waits und Elliott Smith “
Sie lächelte liebevoll.
,,Nicht zu vergessen David Bowie, Björk und Elvis Costello.“
,,Oder Radiohead, Nine Inch Nails und Nirvana“.
,,Nick Drake!“ rief sie.
,,Nick Cave And The Bad Seeds“.
,,Cream! Deep Purple! Jimi Hendrix! Can!“
Ich wechselte die Spur
,,,Tolstoy. Brecht. Dostojewski“.
,,Hermann Hesse...“ schwelgte sie.
,,Ich habe neulich mal wieder den ,,Steppenwolf“ zur Hand genommen.“ Ich wog die Härte meiner Worte ab. ,,Ich hatte ihn besser in Erinnerung. Las sich wie ziemlicher Mist.“
,,Mit Siebzehn war er deine Bibel. Hermann Hesse gehört zur Pubertät wie zu frühe Samenergüsse.“
,,Und Gras“, warf ich ein.
,,Und Alkohol“.
,,Und Liebeskummer“.
Wir verstummten. Ein dunkler Vorhang hatte sich über die letzten Worte gelegt. Sans Gesicht schien zu einem wunderschön verarbeiteten Stück Eis zu gefrieren.
,,Wieso bist du an jenem Tag, auf den der Tag folgen sollte an dem wir Freunde wurden, aus der Klasse gelaufen und bist den ganzen Tag nicht wiedergekommen?“
,,Ich hatte den Herd angelassen“, sagte San.
,,Meine Mutter war für zwei Wochen auf einem Seminar und ließ mich allein zu Haus. Da war ich gerade zwölf.“ Sie grinste ein wenig verträumt. ,,Jeden Abend habe ich mir Spaghetti gemacht, und jedes Mal eine andere Soße ausprobiert. Kräuter, Bolognese, Arrabiata, Carbonara... einige gelangen mir sogar ziemlich gut. Ich liebte das verschwörerisch klingende Brutzeln von Butter in der Pfanne und den bodenständigen, einladenden Geruch der dünstenden Zwiebeln, liebte es, die Karotten und Champignons streng und akkurat in gleichgroße Stücke zu schneiden, um sie dann erbarmungslos dem wilden, kochend spritzendem Öl zu überlassen, das sie ihrer Struktur beraubte und ihre Essenz auf alle Zutaten verteilte...“ Sie leckte sich die Lippen.
,,Und morgens vor der Schule widmete ich mich den Eiern. Spiegelei, Rührei, Omelett, ständig verfeinerte und verbesserte ich sie. Der Höherpunkt war der Pfannkuchen, der König aller Frühstücke.“
Stillschweigend gab ich ihr Recht. Ich sah ihn vor mir, wie er mit einer Krone aus fein verarbeiteten Apfelschnitzen und einem Gewand aus Blaubeeren aufrecht gerollt und stolz über sein Reich, den Frühstückstisch herrschte. San rühmte ausgiebig seine charakterlichen Eigenschaften, ehe sie fortfuhr:
,,Doch eines morgens, der tägliche Pfannkuchen war längst Gewohnheit geworden, vergaß ich ihn auf dem Herd. Einfach so, wie eine karrieresüchtige Mutter, die telefonierend ins Taxi steigt und ihr Kind in der Flughafenhalle stehen lässt.“
Ich stellte mir einen Pfannkuchen in einer Flughafenhalle vor.
,,Zu meiner Verteidigung kann ich höchsten anführen, dass ich am selben Morgen meine erste Periode bekam. Sie hat mich weder bestürzt noch verunsichert, denn ich hatte schon davon gelesen und meine Patentante darüber ausgefragt. Im Badezimmerschränkchen fand ich sogar ein paar Tampons. Man kann also kaum von einem Ausnahmezustand sprechen. Trotzdem erregte es mich, es war als wäre ich über Nacht um zwei Köpfe gewachsen. Als ich mich ein wenig beruhigt hatte, sah ich auf die Uhr, zog mich an und hetzte los, ohne an den armen Pfannkuchenprinzen in der Küche zu denken.“
Ich versicherte ihr, dass dies ohne Zweifel mildernde Umstände wären. In der Nacht, in der ich mein erstes Sperma verschoss, hatte ich gewiss auch nicht an Pfannkuchen gedacht. San fuhr fort.
,,In der zweiten Stunde ist es mir dann eingefallen, mitten im Geometrieunterricht. Die Lehrerin zeichnete mit dem großen Winkelmesser einen wunderschönen Kreis an die Tafel, rund wie ein Pfannkuchen. Ich weiß noch, wie ich die Augen aufriss, mir der Atem stockte und mein Herz so schnell anfing zu schlagen als wollte es mein Brustbein zerschmettern. Da saß ich nun, in einem Klassenzimmer voller Kinder, die mich nicht verstanden, und vor einer gestrengen, grauzopfigen Lehrerin, die mich glaube ich für einen Punk oder so was hielt, und sah meine Wohnung in einem Flammeninferno untergehen, und mittendrin den sich in Todesqualen windenden Pfannkuchenprinzen.“
Eine Möwe kreischte irgendwo. Der Sonnenbär versuchte immer noch vergeblich sich hinter einer Wolke zu verstecken, doch sein strahlender Pelz leuchtete nun an allen Seiten hervor, und das gehässige Wasser reflektierte sein Licht mit unverhohlenem Vergnügen.
,,Zuerst blieb ich sitzen. Was hätte ich tun sollen? Mich melden und die Lehrerin bitten, mich gehen zu lassen, weil mein Heim gerade niederbrennt? Vielleicht hätte ich das tun sollen, aber ich konnte nicht. Die Vorstellung der perplexen Blicke und des voyeuristischen Getuschels lähmte jeden Muskel in meinem Körper. Und dann war da auch noch das Blut, das sich in meinen Tampon sog, das sich in meiner Fantasie als ein riesiger roter Fleck auf meinem Kleid ausbreitete und immer weiter floss, bis ich vollkommen leer und weiß wie ein Gespenst mit einem nassen Klatschen zu Boden fiel. In meiner Vorstellung applaudieren die anderen Kinder, doch die Lehrerin hatte an meinem Sturz etwas auszusetzen. Meine Schultern wären nicht ganz gerade gewesen, und das Kleid biss sich ganz fürchterlich mit der satten, ehrlichen Farbe des Blutes.
Doch ich musste gehen. Denn während ich dasaß und versuchte, meinen Atem zu beruhigen, gellte ein furchtbarer, undefinierbarer Schrei durch die Klasse. Die anderen Kinder nahmen durchaus Notiz davon und blickten verstohlen aus dem Fenster, doch keiner konnte den Urheber des Schreis identifizieren. Und es war auch nicht nötig, denn ich erkannte ihn. Es war der Pfannkuchenprinz, den ich selbstsüchtiges Frauenzimmer den Flammen überlassen hatte, die jetzt ungebändigt und gnadenlos über ihn herfielen, seine Zellstruktur zerstörten und ihn lebendig brieten Also packte ich meine Tasche und rannte los, ohne nach Erlaubnis zu fragen, ohne mich noch einmal umzudrehen.“
Sans Arme glitten von der Rehling. Dann griff sie nach meinem Arm, hakte sich unter und schmiegte ihren Kopf an meine Schulter. Ich verspürte ein leichtes kribbeln in meinem Bauch, als hätte dort jemand eine winzige Dose Tic-Tacs geöffnet und ihren Inhalt zu Boden rieseln lassen. Ihre Augen ruhten noch immer auf dem Horizont. Ihre Lippen wurden schmal.
,,An diesem Tag schien auch wunderschön die Sonne, wie heute. Ein Frühlingstag im Februar, der sich in der Zeit verschätzt hatte. Der aus dem Schlaf gefahren war und dachte, er wäre zu spät dran, nur um auf der schneebedeckten Straße zu erkennen, dass sein Wecker noch lange nicht geklingelt hat. Das sind die Wunderschönsten. Ich konnte ihn betrachten, während ich im Bus nach Hause saß und am ganzen Leib zitterte. Ich wünschte, ich hätte nach Hause rennen können, doch es war zur weit, sogar der Bus brauchte eine halbe Stunde. Ich wollte schwitzen und keuchen, das Adrenalin abbauen das in meine Blutbahn gepumpt wurde und sich dort staute, ich wollte rennen, einfach nur rennen. Doch es hatte keinen Sinn. Der Bus hielt erbarmungslos an jeder Haltestelle. Menschen stiegen ein, Menschen stiegen aus, als ob sie in ihrem Leben noch nie etwas anderes getan hätten, als wollten sie den Bus am Fahren hindern. Ich sah mich nach jemandem um, der ebenfalls verzweifelt und panisch wirkte, dessen Leben ebenfalls drohte von einem Höllenfeuer ausgelöscht zu werden. Ich kann mich nicht mehr an die Gesichter der einzelnen Menschen erinnern, doch ich weiß noch genau, wie fremd ich mich ihnen gegenüber gefühlt habe. Wir saßen zwar im selben Bus, doch der war nur eine Kreuzung, wir fuhren in unterschiedlichen Welten. Sie in die ruhige, beschauliche Welt ihres Alltags, ich bis Endstation Hölle. ,Und es ist nur deine Schuld’, musste ich immer wieder denken. Meine Schuld dehnte die Zeit wie eine Ziehharmonika. Und dazu strahlte die Sonne so wunderschön. Manchmal hat Rest der Welt keinen Sinn für dich. Das war nicht das letzte Mal, dass ich in diesem Bus saß “
Sie zog ganz leicht an meinem Arm und blickte zu mir auf.
,,Verstehst du was ich meine?“
Ich verstand. Eine Glocke schlug dreimal.
,, Es ist Zeit“, sagte ich
Sie nickte. Die Flagge sank auf Halbmast. Der Kapitän trat heraus und öffnete sein Buch. Nach ein paar Minuten schüttelte sich Sans Körper vor Tränen. Als sie begann ihre Faust mit voller Kraft gegen den Kopf zu schlagen, trat ich von hinten an sie heran und schloss sie so fest in die Arme, dass sie bewegungsunfähig wurde. Sie wehrte sich heftig, aber kurz. Dann lockerte ich etwas den Griff und ließ sie ihren Kopf in meine Brust vergraben. Ich spürte ihre Wärme und roch ihren Duft, während sie Tränen auf mein Sweatshirt vergoss. Ich selbst habe schon vor langer Zeit verlernt zu weinen, drum tat sie es für mich mit. Eine stählerne Faust schloss sich um mein Herz, ließ für einen Moment locker und packte wieder zu. Trauer, Erregung und Schuld wurden wie eine Gebetsrolle in meinem Inneren immer und immer wieder abgespult. Und trotzdem war ich wo ich sein wollte.
,,Gute Nacht, Pfannkuchenprinz“, dachte ich bei mir.