Der Pfad im Wald
Ich spürte das trockene und jungfräuliche Laub mit jedem Schritt unter meinen Schuhsohlen nachgeben. Leicht und beschwingt wandelte ich diesen Waldweg entlang, vorbei an morschen Ästen, deren Bäume zu schwach wurden, um sie zu tragen. Ich kannte diesen Teil des Waldes noch nicht, und so war meine Freude um so grösser, da ich meine Neugier auf bislang unentdecktes Terrain endlich wieder befriedigen konnte. Endlich! Viel zu lange Zeit habe ich gerastet, habe mich vor der Erweiterung meines Horizontes gedrückt. Der Lohn für diese Erkenntnis war ein nur aus früheren Zeiten in meiner Erinnerung schlummernder Duft, den ich jetzt begierig aufsaugte. Es roch nach jener erfrischenden Mischung aus moderhafter Fäulnis, frischem Moos und sporigen Pilzen, die jeder wahre Wald seinen Odem nennen konnte. Vor mir erstreckte sich schier unendliche Undurchdringlichkeit, ein kleiner Bach hüpfte fröhlich parallel zum Weg neben mir her, leistete mir Gesellschaft und flüsterte mir hin und wieder sein plätscherndes Lied zu. Die Hitze des Tages konnte mir hier, unter dem schützenden Dach der Baumkronen hoch über mir, wenig anhaben. Es kamen zwar vereinzelte Sonnenstrahlen durch, die wie Scheinwerfer auf den Boden starrten und das Idyll, wenn man es zuliess, zu einem Lichtspiel machten, aber das Blätterdach sorgte für genau die richtige Dosierung und so war die Mischung aus Licht und Schatten ein perfektes Regelwerk für eine angenehme Temperatur.
Als ich nun mit Leichtigkeit tänzelnd meinen Weg fortsetzte, und der Pfad nicht die geringsten Anstalten machte, vorzeitig zu irgendeinem Ziel zu führen, musste ich dann doch feststellen, dass Waldluft hungrig macht, insbesondere wenn sie im Zusammenhang mit einer Wanderung genossen wird. So beschloss ich, eine kleine Weile Rast zu machen, und mir die belegten Brote schmecken zu lassen, die ich in weiser Voraussicht mitgenommen hatte. Dazu setzte ich mich auf einen Baumstumpf am Wegesrand, streckte meine Arme weit von mir und dehnte meinen Oberkörper etwas.
Gerade als ich mich daran machte, den Reissverschluss meines Rucksacks zu öffnen, fiel mir etwas im Augenwinkel auf. Ich gab einem Reflex nach und sah gänzlich hin, und zwar in die Richtung, aus der ich gekommen war. Das war Seltsam: Dort war ein krüppelig verformter und abgestorbener Baum, der mir ganz und gar nicht aufgefallen war, als ich dran vorbeilief. Seine toten Äste hingen in bizarrer Form, wie eine verdorrte Hand, die zu greifen schien, über dem Weg. Mir graute es, als ich daran dachte, dass ich eben noch unter dieser Hand durchgelaufen war, denn sie schien wie absichtlich dort zu lauern. Aber dieser Baum war nicht alles. Mein Blick tastete durch das Bild und entdeckte mehr und mehr Einzelheiten, die, wie es mir schien, definitiv nicht dort waren, als ich eben noch dort wandelte. Das Baumdach war nicht mehr von lichthafter Leichtigkeit. Es war dicht, geschlossen, und liess keinen einzigen Lichtstrahl durch. Es glich eher dem Himmel des Mittelschiffes einer düsteren Kathedrale und ein kühler Luftzug aus seiner Richtung bereitete mir Gänsehaut. Der Pfad war nicht mehr von luftigem Laub bedeckt, sondern war staubig, grau, und von toten Wurzeln durchpflügt. Die ganze Szenerie glich einem so düsteren und trostlosen Bild, und ich war im ersten Moment so geschockt, dass ich instinktiv meinen Blick abwendete und in die entgegengesetzte Richtung sah.
Dort war alles so idyllisch wie zuvor, was ich wirklich erstaunlich fand. Ich war jedenfalls froh, geplant zu haben, meinen Weg in diese Richtung fortzusetzen, denn ich war auf eine erhohlsame Wanderung aus, und nicht auf einen Trip durch so unwegsames und fast schon beängstigendes Gelände wie das, was seltsamerweise, aber offensichtlich hinter mir lag. Doch ich fühlte eine Art von Bedrohung in der Luft liegen, und so konnte ich mein Mahl nicht wirklich geniessen.
Als ich schliesslich mehr schnell als genüsslich das letzte Stück Brot heruntergeschlungen hatte, brach ich sofort wieder auf, um endlich wieder in erträglichere Gefilde zu gelangen und setzte meinen Weg fort. Und als ich wieder in Bewegung war, verflogen meine düsteren Ängste, ein warmer Windhauch streifte mein Gesicht, meine Lippen formten wieder ein Lächeln. So ging ich eine Weile weiter, wenn auch nicht ganz so unbeschwert und frei wie zuvor, aber immerhin gut gelaunt.
Der Pfad war lang. Ich habe zwar durchaus eine Tagesreise für den Ausflug eingeplant, aber ich hatte nicht erwartet, dass eben dieser Weg die meiste Zeit in Anspruch nahm, und jetzt nahm in mir die Befürchtung zu, dass ich womöglich irgendwann falsch abgebogen sein musste, den falschen Pfad gewählt hatte. Er musste doch irgendwann zu einem Ziel führen. Mit diesen Gedanken fiel mir auch auf, dass ich mich seit dem ich gegessen hatte, nicht ein einziges Mal umgedreht habe, und dann hörte ich etwas. Ein Knacksen, wie von einem zerbrechenden Zweig, auf den ein schweres Tier trat, in unmittelbarer Nähe, ein paar Meter hinter mir. Blitzschnell schoss mir der Gedanke an Gefahr in den Kopf. Ich zögerte und bemerkte die Furcht in mir. Die Angst, sich umzudrehen und nachzusehen war für einen Augenblick grösser als der Reflex, der mich eben dies hätte tun lassen müssen. Aber nur für einen Augenblick, dann schnellte ich herum. Mich erfüllte das pure Entsetzen, das wahrhaftige Grauen. Meine Augen blickten direkt in die Hölle.
Die Worte, die ich nun verfasse, mögen zwar beschreiben, doch sie können niemals das wahre Bild jener grauenvollen Szenerie wiedergeben, noch können sie meine Panik im Entferntesten übermitteln.
Die eben noch grünen Bäume waren wie von Feuer versengt und von verkohlter Schwärze überzogen. Wie letzte ungehörte Hilfeschreie streckten sich ihre Äste in bizarren Formen von ihnen weg und bildeten blattlose Gesten der Verzweiflung. Der Himmel, der zuvor noch in glitzernden blauen Bruchstücken durch das lichte Blätterdach blitzte, war nun gänzlich zu sehen, doch er war nicht blau. Eine fahle Wolkendecke von einer Mischung aus düsterem Grau und Blutrot bedeckte ihn und liess keinen Sonnenstrahl durch. Im Bett des ursprünglich reines Wasser tragenden Baches dümpelte brauner dickflüssiger Schlamm, der durchsetzt war von schweren blubbernden Blasen, die zischende Laute von sich gaben und einen schwefelartigen Gestank verbreiteten. Grauer Staub bedeckte den Boden dort, wo vor wenigen Sekunden noch frischer Humus und Laub lag. Und inmitten dieses Bild des Schreckens, ein paar Meter direkt vor mir, stand ein riesiger Dämon und starrte mich an. Bei seinem Anblick fühlte ich mein Herz für einige Augenblicke aussetzen, denn solch ein Wesen existierte bisher nur in meinen schlimmsten Albträumen. Er war von ledergegerbter brauner Haut überzogen, aus der Stacheln zu spriessen schienen und seine Brust bebte vor Wildheit schnaufend auf und ab. Seine Finger formten bizarr spitz zulaufende Spiesse, die die Fingernägel zu ersetzen schienen und sein Gesicht, das überdacht war von zwei krumm nach vorne stehenden Hörnern, war eine Teufelsfratze: Breite pulsierende Nüstern entstellten es, und sein Maul war gespickt von spitz gezackten Zähnen. Doch das Beängstigendste an ihm waren die glutroten Augen. Sein Blick frass sich mir ins tiefste Innre und mir war es, als durchbohrte er damit meine Seele.
Ich stand da wie gefesselt. Es war als ob mein Körper seine gesamt Kraft aufbrachte, um mich diese Furcht empfinden zu lassen, unfähig auch nur die geringste Bewegung zu vollziehen. Doch dann hörte ich die Stimme dieser Ausgeburt der Hölle. Es war viel mehr wie ein Schrei, eine Art Brüllen, ohrenzerfetzend und grauenvoll, und dann sah ich ihn sich zum Angriff ducken, wie eine Raubkatze, die sich bereit macht, sich auf ihr Opfer zu stürzen. Augenblicklich fanden meine Glieder wieder zu ihrer Bewegungsfähigkeit zurück und ich stolperte einige Schritte zurück, ehe ich herumschnellte und rannte, den Waldweg weiter entlang rannte, der sich vor mir weiterhin als unvergleichliches Idyll erstreckte. Ich lief so schnell ich konnte auf saftig grüne Bäume und herrliche Sonnenstrahlen zu, doch das beachtete ich nur beiläufig. Meine Furcht bemerkte nur die trampelnden und grunzenden Laute hinter mir. Und zu diesen mich verfolgenden Geräuschen mengte sich ein brennendes Knistern, wie von einem Lagerfeuer, nur viel stärker und lauter. In meinem Augenwinkel bemerkte ich, was es war: Neben mir verbrannte der Wald. Die Baumwipfel enzündeten sich wie Streichhölzer und das Feuer vernichtete alles, was da wuchs, in einer völlig unnatürlichen Geschwindigkeit und liess eine leblose Mondlandschaft zurück. Es schien sich alles hinter mir zu verwandeln, vom Paradies in die Hölle, in ein Biotop der Dämonen. Und ich sah mehr und mehr von ihnen. Aus dem Feuer der verbrennenden Busche und Bäume strömten sie heraus und schlossen sich der Verfolgung an, und bald waren es Hunderte, die es alle auf mich abgesehen hatten. Sie waren alle von der gleichen Art, als bildeten sie eine Armee des Bösen. Ich lief so schnell wie noch nie, die Furcht in mir verlieh mir eine übermenschliche Ausdauer, doch so schnell ich auch lief, so schnell verdarb der Wald hinter mir, und so schnell versank alles, was noch Leben in sich barg, in ein Höllenfeuer. Mein Herz pochte mir bis zum Hals und der Schweiss rann meinen Körper in Strömen herunter, doch ich wusste, ich konnte nicht entkommen, früher oder später würden meine Kräfte versagen und ich würde langsamer werden, oder einfach nur in Ohnmacht fallen. Der Weg vor mir nahm kein Ende. Ich spürte die Hitze hinter mir zunehmen, als die Todesgeschöpfe und die Feuerwand immer näher kamen. Ich fühlte, wie meine Sinne vor Verausgabung schwanden und mein Körper vom Feuer versengt wurde. Dann, auf dem Höhepunkt der Erschöpfung gab ich auf. Mir wurde schon schwarz vor Augen, ich konnte einfach nicht weiter und gab mich meinem Schicksal hin.
Mein Körper fiel auf das frische Laub und mein letzter Gedanke war, dass in einigen Sekunden selbst dieses Laub ausgelöscht werden würde, genauso wie ich. Ich würde einfach verbrennen, oder von den Dämonen zerfetzt werden. Dann entschwand die Welt um mich in Schwärze.
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Es war die Sonne, die mich weckte. Einer ihrer Strahlen tanzte fröhlich auf meinem Gesicht und das erste was ich sah, waren grüne Moose, die märchenhaft einen Stein überzogen. Ich hörte einen milden Wind durch die Baumkronen hauchen und das Plätschern des Baches. War alles nur ein böser Traum, ist meine Phantasie mit mir durchgegangen? Die Antwort bekam ich, als ich hinter mich blickte. Wie ein böser Traum, der mich verfolgte, trafen mich die Blicke hunderter Augen. Die Kreaturen, die mich verfolgt hatten, lauerten, zum Sprung geduckt, als ob sie darauf warteten, dass ich wieder vor ihnen davonrannte. Dutzende von ihnen besetzten den öden Boden des schon vernichteten Teil des Waldes. Ich hörte den bestialisch röchelnden Atem, der ihren Kehlen entsprang, ungeduldig und erwartungsvoll. Warum machten sie nicht einfach allem ein Ende und stürzten sich endlich auf mich? Ich richtete mich auf und sah ihnen trotzig entgegen. Konnten sie es etwa nicht? Dann fiel mir etwas auf. Es gab eine Art Grenze, über die die Dämonen sich nicht wagten. Eine feine Linie, etwa zwei Meter vor mir, zeichnete sich auf im Boden ab, die die Ödnis des Höllenbiotops von der frischen, saftig grünen Welt teilte. Auf meiner Seite der Grenze bedeckte dichtes Moos den Pfad, auf der anderen Seite verbrannte Erde und grauer Staub. In mir dämmerte eine böse Vorahnung und ich ging einen Schritt zurück. Sofort gab es einen kurzen Funkenflug und dann loderten die alles versengenden Flammen wieder auf, die Grenze verschob sich um das kleine Stück, das ich zurückgetreten bin. An der Linie entlang sah ich zu beiden Seiten Bäume und Sträucher aufflammen, und es dauerte nur einen kurzen Augenblick, bis sich dieser neue einen Schritt breite Streifen Land, der nun von der Düsternis der Hölle erobert wurde, gänzlich entfremdet und in Leblosigkeit verwandelt wurde.
Meine Vorahnung hatte sich dadurch bestätigt und nun erkannte ich die Tragik meiner ausweglosen Situation.
Es es ging nicht um die Frage, wie schnell ich laufen konnte. Dieses Grauen war an mich gebunden, gefesselt an den Weg, den ich zurücklegte. Jedes Stück Erde, das ich überrannte, jeder Busch und jeder Baum, an dem ich vorbeilief, wurde zerstört und in den Tod gerissen. Und mit jedem Meter, den ich zurücklegte, erschienen weitere Höllengeschöpfe aus den Feuersbrünsten und bevölkerten die Welt. Durch meine Flucht besiegelte ich das Schicksal
sämtlichen Lebens des Teils des Waldes, der hinter mir lag, und verschaffte dem Schrecken Lebensraum.
Ich war verantwortlich für diese Katastrophe und nur ich konnte dem ein Ende bereiten.
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Ich sitze nun, ich weiss nicht wie lange schon, auf dem Waldboden und schreibe diese Worte nieder. Ich habe dem Grauen vorerst den Rücken zugekehrt und es nicht mehr gewagt, mich umzudrehen. Hinter mir höre ich es rascheln und schnaufen, fordernd, verlangend. Ich bin mehrfach schon in Tränen ausgebrochen, ob der Verzweiflung, die meine ausweglose Lage mir bereitet. Der Versuchung, einfach weiter zu rennen und erneut zu flüchten habe ich widerstanden, denn ich könnte es nicht mit meinem Gewissen vereinbaren: Ich blicke vor mich und sehe das pure grüne Leben, doch ich weiss dass all das vernichtet werden würde, liefe ich weiter. Die Verantwortung liegt nun bei mir, diesen Wahnsinn zu stoppen, und deshalb habe ich beschlossen, all meinen Mut zusammenzunehmen und mich meinem Schicksal zu stellen. Ich werde mich nun dem Schrecken hingeben, mich umdrehen und die Grenze zur Dämonenwelt überqueren. Denn ich hoffe, so der Expansion der Hölle wenigstens Einhalt gebieten zu können. Ich weiss nicht, welchen Grund es hat und womit ich es verdient habe, dieses Opfer zu bringen, doch daran lässt sich nichts ändern. Ich werde nun gehen.
Dieses Manuskript wurde in einem idyllischen Waldstück in Süddeutschland gefunden. Wenige Meter davon entfernt lag die vollkommen verbrannte Leiche eines unbekannten Mannes.