- Anmerkungen zum Text
Eine kurze Geschichte über Wut, Verzweiflung, Verantwortung und Moralität.
Der Patient
„Und was wollen sie tun?“, fragte der Therapeut den Patienten. Sie sprachen nun schon seit Jahren regelmäßig miteinander und nun war der kritische Augenblick, auf den der Therapeut seit den letzten Sitzungen hingearbeitet hatte. Vor ihm, auf der anderen Seite des Tisches, saß ein Mann, dessen Vergangenheit unvorstellbar grausam gewesen war. Der mit dem Leben abgeschlossen hatte.
„Ich...“. Er fing an zu weinen, wandt das Gesicht auf den Tisch, der zwischen den beiden saß, und verbarg seinen hochroten Kopf zwischen seinen Händen. „Sie… verstehen… nicht….“.
„Doch, ich verstehe es. Was Ihnen passiert ist, so grausam es auch ist, passiert häufiger, als sie glauben. Keine Familie, Gewalt im Waisenhaus, Missbrauch...“.
Der Patient hop ruckartig den Kopf, erhob den Finger und richtete die nun vor Zorn und Wut sprühenden Augen auf den Therapeuten. Die Faust auf den Tisch schlagend, rief er: „SIE VERSTEHEN NICHT!“.
Es folgte ein Moment der Stille. Üblicherweise erkennen die Menschen nicht, das ihr Schicksal nicht singulär, einzigartig ist. Aber hier begann der Therapeut von Neuem: „Ihr Zorn ist berechtigt. Deshalb will ich Ihnen helfen.“
Der Therapeut suchte nun in seiner Tasche und brachte den Gegenstand zu Vorschein. Der Patient brauchte einige Sekunden, um zu verstehen, was passierte. Als er es tat, weiteten sich seine Augen. Der Therapeut legte die Pistole auf den Tisch, den Griff fest mit der Hand umschlossen.“Ich weiß, wonach sie sich sehnen. Sie glauben, der Tod sei die einzige Möglichkeit für Sie. Sie wollen nicht mehr leben. Es ist zu schwer. Deshalb gebe ich Ihnen den Ausweg, nach dem sie suchen. Ich werde die Pistole loslassen und den Raum verlassen. Ich werde in fünf Minuten wieder kommen. Ist das in Ordnung?“
Nach einiger Zeit wich der erschrockene Ausdruck des Patienten einer Art von Ruhe. „Nein, sie verstehen es immer noch nicht. Sie können es nicht verstehen. Das, was sie glauben zu wissen – über den Tod meiner Eltern – ist falsch. Ja, mein Vater hat getrunken und ja, er hat meine Mutter geschlagen“.
Hier pausierte der Patient und schaute an dem Therapeuten vorbei aus dem Fenster. „Aber nein, mein Vater hat nicht meine Mutter ermordet und dann Selbstmord begangen“.
Nun erschrak der Therapeut und schüttelte den Kopf, als ob er bereits verstehen würde. „Aber ich habe die Akten gelesen!“.
„Die Akten sind falsch. Man hat Aussagen gefälscht, um mich zu schützen. Mein Vater war bekannt. Die Polizei wusste, was in diesem Haus passierte.“
„Eines Abends kam mein Vater nach Hause. Er war betrunken und fing an meine Mutter zu schlagen. Ich wachte von ihrem Geschrei auf. Ich ging nach unten. Ich hatte genug.“
„Die Waffe meines Vaters – er war selbst Polizist – lag schon auf dem Schreibtisch. Ich nahm sie in die Hand und rannte in die Küche. Ich richtete sie auf meinen Vater, drückte ab, und verfehlte. Ich traf meine…“. Hier wich die Ruhe des Patienten wieder. Er fing an zu weinen. Der Therapeut blickte schockstarr, die Waffe noch fester als vorher in der Hand, auf den Patienten. „Ich traf meine Mutter. Sie verblutete vor meinen Augen in den Armen meines Vaters. Er versuchte mich anzugreifen, zu entwaffnen- dann erschoss ich auch ihn.“
„Die Polizei kam später, sie erfanden eine Geschichte, bürgten für mich vor Gericht und steckten mich in ein Waisenhaus. Den Rest der Geschichte kennen Sie.“
Der Therapeut brauchte einige Minuten, um dies zu verarbeiten. Der Patient blickte eine zeitlang ins Leere. Er füllte sich Wasser aus der Karaffe, die auf dem Tisch stand, in ein Glas, und trank es in einem Schluck. Nach einiger Zeit blickte er dem Therapeuten in die Augen, und fragte mit sanfter Stimme: „Verstehen sie jetzt?“.
Der Therapeut atmete kräftig ein und aus und stand auf. Er lief durch den Raum. Plötzlich blickte er dem Patienten tief in die Augen. Der Patient lächelte dankbar und nickte. Der Therapeut hob die Hand.