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Der Patient
Eintrag vom 22.04.:
"Ich schlafe gut in letzter Zeit. Es war vor wenigen Tagen, als ich aus dem Wagen sprang und mir die Luft in die Nase stieg. Unvorbereitet, vollkommen überraschend erfasste mich dieser Schauer, der Alltägliche wie Sand in der Brandung davon zu spülen vermag und den darunter liegenden Glanz vergangener Tage frei legt. Es war der erste laue Abend des Jahres, der zerbrechliche Duft des Frühlings lag in der Luft, die Sonne war hinter dem Horizont außer Sicht geraten, aber noch lange nicht verschwunden, fast als klammerte sie sich fest. Auch wenn ich es nicht einschätzen kann, aber ich halte es durchaus für möglich, dass sich die Injektion mancher Drogen ähnlich anfühlt, wie der Moment meines ersten Atemzuges unter freiem Himmel. Und ähnlich wie der Konsum von Betäubungsmitteln, hält auch der erste laue Abend des Jahres jene Einmaligkeit in sich bereit, dessen Wiederholung - je gewaltsamer betrieben - umso aussichtsloser und unbefriedigender ausfallen muss. Es sind solche Momente, in denen Erinnerungen an Dinge aufsteigen, die scheinbar weiter zurück liegen als die eigene Geburt; und dass - bei aller Bescheidenheit - hat etwas göttliches. Selbst wenn es sich dabei nur um den emotional verklärten Blick in einen Hohlspiegel handelt und alles Erlebte, ob nun gut oder schlecht, in solchen Momenten gnadenlos vom eigenen Nervensystem und in fast kitschiger Weise überhöht wird, so ist es doch ein vollwertiger Teil meiner Wahrnehmung. Der erste Impuls, der den Körper erfasste, war das Erschlaffen; das Sich-Fallen-Lassen an Ort und Stelle; ins Gras zu sinken, alle Glieder und Gedanken von sich zu strecken und den Himmel über und vor sich zu sehen, als klebe man an einer grasbewachsenen Steilwand. Es kann ein äußerst erhebendes Erlebnis sein, sich in solchen Momenten in der Tat an der Erde fest zu halten.
Die ersten Straßenlaternen waren angesprungen, es war jene magische Stunde zwischen Tag und Nacht, die sich vor allem in jungen Sommern unendlich auszudehnen scheint. In dieser Zeit des Umkippens, des Wandels, habe ich jedes Mal das tiefe Bedürfnis einen Schritt zurück zu treten und es aus der Ferne zu betrachten, in Gesamtheit und Gänze. Und auch wenn ich am liebsten Gott selbst vor Freude eine Kopfnuss verpassen würde, es ist doch schon ein schöner Gedanke, sich noch freuen zu können.
Man soll aufhören, wenn es am schönsten ist. Und ich weiß, dass es stimmt. Doch man sucht sich nicht aus, wann man aufhört. Das ist der Punkt um die ganze Tragik des Lebens: Man kann nicht einfach so aufhören, denke ich, nicht mit Gelassenheit. Wie schön wäre es, eines Tages da zu sitzen, im Angesicht des Schöpfers, seine Hand schon mit sanftem Nachdruck auf der Schulter spürend, und sagen zu können ,Es war schön. Es war gut so, wie es war und ich bin bereit, es hinter mir zu lassen.´
Ich habe lange nicht mehr geweint und das ist etwas Schlechtes. Allein die Frage treibt mich um, ob man diese Form der Gelassenheit als Mensch erreichen kann und das in aufrichtiger und selbstloser Weise?
Am meisten Angst habe ich vor dem Bereuen, aber wer hat das nicht? Und wer ist schon vollkommen frei davon? Eventuell ist es mit dem Bereuen wie mit allen Dingen, die einem Angst einjagen: Man muss sie annehmen, sie an die Hand nehmen wie einen mörderischen Sohn; sie mit sich führen und sagen: ,Wir gehen jetzt und wenn du mich töten willst, dann tu was du nicht lassen kannst. Nichtsdestotrotz bist du ein Teil von mir, ich gab dir einen Namen und ich nahm dich an.´ Ich bin mir bewusst geworden, dass wir derartige Ängste niemals vernichten können. Es ist wie mit Verstorbenen: Man muss sie beerdigen, wenn man ohne sie weiterzuleben gedenkt. Das Gegenstück zum strikten Verdrängen ist das bewusste Beerdigen. Das ist das Paradoxon: Die Errichtung eines Denkmals ist manchmal die einzige Möglichkeit zu vergessen.
Eintrag vom 23.04.:
"Ich habe einen Traum: Ich will in New York leben. Ich will dort arbeiten, Freunde haben, Frau und Kind. Vielleicht als Arzt, vielleicht als etwas ganz anderes. Und vollkommen egal, ob dieser Traum jemals in Erfüllung gehen wird oder nicht, er wird immer in mir schlummern und mich von Zeit zu Zeit des Nachts wach halten. Auch wenn sich hier und heute mein zu Hause befindet - für das ich auch wirklich dankbar bin - meine Heimat wähne ich irgendwo dort draußen, jenseits dieses gewaltigen Ozeans und selbst wenn ich zur Not mit dem Schiff hinüberfahren könnte, es dauert wohl eine Woche, und so meinen Sorgen und Ängsten wie auf einer Umgehungsstraße ausweichen könnte, so ist mir doch tief im Innersten klar, dass es für mich nur einen Weg gibt, der in dieses gelobte Land führt; ob es nun einen Anfang oder ein Ende bedeutet. Bis dieser Tag kommt, bleibt mir nichts, als von deinen Häuserschluchten, den Leuchtreklamen und dem sorglosen Leben zu träumen. Ich bin wie ein Obdachloser. Ich schlafe in deinen Straßen."