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der passant
Der Passant
Es wurde schon langsam dunkel, als er beschloss seinen Unterschlupf aufzusuchen. Scheinwerfer erfassten für Sekunden seine gebückte, manchmal kaum menschlich wirkende Gestalt um sofort wieder in der Dunkelheit zu verschwinden. Keiner der an ihm Vorbeifahrenden wird sich jemals daran erinnern können, die Gestalt, die sich farblich kein bisschen von den grauen Mauern der Vorstadthäuser absetzt, gesehen zu haben. Denn die Scheibenwischer gehen schnell, um den feinen Nieselregen von der Windschutzscheibe auf die Straße zu drängen.
Die Fahrbahn ist gefroren und der Regen vermischt sich mit dem am Vorabend gefallenen Schnee zu einem braunen schmierigen, am Straßenrand liegenden Matsch. Unbewusst erschwert jeder fahrende Passant dem Heimwärtsgehenden seinen Weg. Seine Kleidung ist durchnässt, an manchen Stellen bis auf die Haut und der Gehweg ist zu schmal, um den Dreckwellen der vorbeifahrenden Fahrzeugen auszuweichen. Öfter rutscht und knickt er ein, als wirklich Halt zu finden. Weder sein alter Stock, noch seine verbrauchten, profillosen Schuhe können einen stabilen Stand ermöglichen.
Der Atem und Puls gehen schnell wie der eines Hochleistungssportlers auf seinem Endspurt. Die Lunge pfiff bei jedem Atemzug, und schafft es kaum noch Luft aufzunehmen. Seine seit Tagen dauerde Erkältung und sein Nikotingenuß machen ihm zu schaffen. Er atmet die kalte Luft schwer und oberflächlich durch den Mund ein. Aus der Nase läuft ihm der von den Schleimhäuten produzierte Schleim, welcher vom Oberlippenbart aufgefangen wird und sofort gefriert. Die zähe grüne Masse verstopft seine Nase und dring bis in den Rachen und die Luftröhre vor, was ihn öfter dazu veranlasst, sie in den Mund zu würgen, um sie anschließend in den Schnee zu spuken.
Es wurde kälter und der feine Regen verwandelte sich in kleine, umherfliegende Flöckchen, die ihm eisig ins Gesicht wehten. Seine eingefrorene Füße, geschützt von wenig dicken Socken und den zerfallenen Schuhen stampften den Schnee unter sich zu einer gefährlichen rutschigen Fläche fest. In diesem Zustand mit eingeschränkter Sicht, auf die wenigen Meter vor sich und das beschwerliche Atmen konzentrierend, arbeitete er sich Schritt für Schritt eine abstrakte Spur hinter sich durch das verschmutzte Weiß. Ab und zu warf ein naheliegendes Ladenfenster seinen grotesk wirkenden Schatten auf die Straße, wo dieser von Fahrzeugen in Abständen gebrochen wurde. Nur jetzt war seine gesamte Erscheinung in seinen Umrissen für eine kurze Zeit zu erkennen, bevor sie sich wieder in der Dunkelheit verstecken konnte.
Er hätte nur schätzen können, wie lange er sich auf diese Weise vorwärts gekämpft hatte bis er endlich sein Ziel erreichte. Aber das hätte ihn ohnehin nicht interessiert. Er wühlte seine zweite Hand, die nicht seinen Stock festhielt, aus seinem Mantel um eine kleine Metallluke zu öffnen, die ihm den Weg in sein Versteck versperrte. Das kleine Fabrikgelände, das er auf seinen letzten Metern betreten hatte wurde schon seit langer Zeit nicht mehr genutzt. An den Spuren im Schnee konnte er erkennen, dass niemand sein Heim während seiner Abwesenheit aufgesucht hatte. Wozu auch? Er hatte noch nie Besuch gehabt und wollte auch keinen empfangen.
Die Metallluke klemmte, was ihn dazu veranlasste wütend mit seinem Stock auf diese einzudreschen. Drei dumpfe schäppernde Schläge hallten über das Fabrikgelände und ließen Eis mit reichlich Rost von der Luke zu Boden fallen. Er brauchte einige Sekunden um zu verschnaufen und angestauten Schleim aus seinen Atemwegen zu entfernen. Dabei traf er das untere Ende seines Mantels. Verstohlen blickte er sich um, ob er jemanden mit dem Lärm, den er gemacht hatte angelockt hatte. Als er sich nach einiger Zeit sicher war, dass er allein und nicht beobachtet wurde wandte er sich wieder der Luke zu. Auch sein zweiter Versuch diese zu öffnen scheiterte. Er zog und rüttelte mit seinen vom Leben geschundenen Händen, so fest es seine schwachen Muskeln vermochten an dem kalten Griff. Der Hauch seines Atems vernebelte ihm den Blick und so sank er, wie fallen gelassen in sich zusammen.
Seine Kleidung war nun getränkt von der Feuchtigkeit und bot keinen Schutz mehr. Die Kälte und Nässe zehrte an seinem Körper und eine verschleiernde Flockenschicht bedeckte sein Wesen. So saß er ungewiss wie lange in Halbschlaf ähnlichen Zustand vor sich hin vegetierend an der Luke gelehnt. Seine Gedanken und Träume führten ihn in die Welt von schwindenden Erinnerungen längst gelebter Tage, zerstreuten sich aber sofort wieder bei Registrierung seiner erbärmlichen Lage. Niemand weiß, mit welchen Kräften er sich noch einmal aufraffen konnte, aufstand und seinen gepeinigten Körper an die Mauer lehnte. Jede seiner Bewegungen wirkte träger und noch beschwerlicher als zuvor. Mit dem Gesicht auf den Arm gestützt gegen die Mauer gelehnt überkam ihn das Bedürfnis, seine schwache Blase entleeren zu müssen. Wie durch ein Wunder gelang ihm noch ein klarer Gedanke und hatte den rettenden Einfall, die zugefrorene Metallluke durch die Wärme seines Urins aufzutauen. Nur mit Mühe gelang es ihm mit seinen steifen Händen und Fingern seine Hosen zu öffnen und seine Körperflüssigkeit über die Ränder der
verschlossenen Luke zu verteilen. Ohne sich darum zu kümmern seine Hosen wieder zu verschließen riss er tief keuchend, mit aller ihm noch verbliebenen Kraft so lange an dem Griff, bis die Luke endlich nachgab und mit Quitschen aufsprang. Rückwarts plumpste er ungeschickt in den Schnee, suchte grabbelnd seinen Stock und kroch schnaufend von allen Mühen durch die Öffnung in sein, ihm rettend erscheinendes Versteck.
Wäre er nun klaren Verstandes gewesen und hätte er nicht nach seinem Triumph die Tür geöffnet zu haben übereilt gehandelt, hätte er gewusst, dass das Verschließen der Luke nach seinem Eintritt wohl der letzt Fehler seines beschwerlichen Lebens gewesen wäre. So kramte er aber seine Hände reibend in der Hoffnung, wieder Leben in ihnen zu finden seine Streichholzschachtel aus seiner Manteltasche und entzündete nach zahlreichen Versuchen eins der feuchten Zündhölzer. Die kleine Flamme leuchtete für wenige Sekunden seinen gesamten Unterschlupf aus uns so erkannte er, dass noch alles dort war, wo es auch sein sollte. Er fand seinen Kerzenstummel, entfachte seinen Docht und beleuchtete so sein bescheidenes, abstellkammergroßes Versteck. Sein gesamtes Hab und Gut fand er hier vor, welches sich aber nicht gelohnt hätte hier aufzuzählen.
Zufrieden fiel er auf seine Schlafecke, die aus mehreren zerfransten Decken und einer dünnen Isomatte bestand.
Er legte seine nasse an seinem Körper klebende Kleidung ab und versuchte sich unter seinen Decken aufzuwärmen. Das Leben kehrte langsam in ihn zurück, während er sich an der Kerze seine Finger wärmte und seine Hände rieb, um die Durchblutung anzuregen. Als er den Eindruck hatte wieder seine Fingerkuppen spüren zu können fing er an am Kopfende seiner Schlafmöglichkeit nach seiner Tabakdose zu suchen. Er hatte die bunte mit asiatischen Ornamenten geschmückte Teedose schnell gefunden. Den Tabak, der in der Dose war, hatte er an Tagen an denen noch kein Schnee lag gesammelt. Er suchte täglich zumeist an Bushaltestellen nach weggeworfenen Zigarettenstummeln, um den noch nicht gerauchten Tabakrest in seine Dose zu krümeln. Bushaltestellen waren hierfür der geeignetste Ort. Oft werden Wartende kurz nach Anzünden einer Zigarette vom kommenden Bus überrascht und hinterlassen ihre Kippen dann unauffällig fallengelassen auf dem Boden. Hier ist die Beute am größten. Mit viel Geschick drehte er sich seinen gefundenen Tabak in einen fein säuberlich abgerissenes Fetzen Papier.
Irgendwann hatte er herausgefunden, dass die dünnen Seiten der Bibel oder von Gesangsbüchern, die er aus
Kirchen entwendete, sich zum Drehen und Rauchen am besten eignen. Und so trug er immer ein solches bei sich. Selten lass er in seien Büchern, denn er hatte für deren Inhalte nicht viel übrig. Er zündete sich die Zigarette an der Kerze an und nahm tiefe Züge. Entspannt legte er sich auf seinen Rücken und ließ alle seine Glieder ruhen. Mit der Zigarette malte er verschiedene Figuren und Muster über sich in die Luft. Er rauchte und spielte so lange mit dem Qualm bis, dieser den größten Teil des kleinen Raumes einnahm. So wiegte er sich in seine Träume und schlief friedlich ein.
Kein Gedanke war näher. Es hätte wahrscheinlich ein normaler Winter gereicht niemand wusste, dass dieser aber ein sehr kalter werden sollte über den man noch nach vielen Jahren sprechen würde. Und so kam es, dass noch in dieser geschilderten Nacht Neuschnee fiel und sich neues Eis bildete. Die rostige Eisenluke vereiste, wurde nicht wieder geöffnet und keine Spuren sollte man im Schnee mehr lesen können. So vergingen die Tage und die Wochen bis es wieder Frühling wurde. Der Schnee war geschmolzen und ein erstes wärmeres Lüftchen weckte wie mit unsichtbarem Hauch die wenigen Pflanzen, die ihren Weg zwischen dem Beton auf dem Fabrikgelände gefunden hatten.
Als sich die Luke das erste mal wieder öffnete und Licht in den vergessenen Raum fiel, waren es einige spielende Kinder die das verlassene Fabrikgelände erkundigten und die Reste eines Menschen vorfanden, den kein Mensch kannte und den kein Mensch jemals gekannt hatte. Aber bis zu dieser grausigen Entdeckung sollten noch einige Winter vergehen.