Der Parkwächter
„Du Schaßtrommel, kannst du nicht lesen? Fahrrad fahren verboten! Hier ist kein Fahrradweg. Im ganzen Park hier ist Fahrrad fahren verboten. Verboten!“
Der ältere Mann deutete sich mit dem Zeigefinger an die Stirn, schüttelte den Kopf und murmelte noch etwas vor sich hin. Kurz zuvor hatte er noch scheinbar friedlich auf seiner Bank gesessen. „Seine Bank“ - weil er jeden Tag hier saß und er die Bank deswegen als seine deklarierte. Der Mann hatte bis vor wenigen Minuten dagesessen, hatte Menschen und Vögel beobachtet und ab und zu in die Herbstsonne geblinzelt. Er mochte den Herbst und wenn er den Duft der langsam verfaulenden Blätter einsog, dann fühlte er sich friedlich. Der Mann liebte diesen Park, den er insgeheim ebenfalls als seinen bezeichnete. Es war sein Park und der der anderen, das musste er zugeben. Aber deswegen war jeder Einzelne dafür verantwortlich, dass alles hier in diesem Park neben seinem Wohnblock mit rechten Dingen zuging. Und jetzt hatte also wieder jemand die Ordnung gestört. Sein Kopf bewegte sich immer noch leicht verärgert hin und her. Wie ein Wackeldackel, der sich langsam auspendeln musste. Wenn einmal Ärger aufgestiegen war, war es gar nicht so leicht, ihn wieder abzuschütteln.
Die bunten Blätter segelten schwerelos in der Luft und eine junge Frau schwebte mit ihrem Fahrrad durch sie hindurch. Sie liebte den Herbst und den kühlen Fahrtwind auf ihrem Gesicht. Die Sonne schien und sie dachte: „Wenn doch nur jeder Tag so schön schwerelos beginnen würde und sich alles vergessen ließe.“ Sonst war sie seit einiger Zeit immer zu Fuß in die Arbeit gegangen, bis sie sich vor ein paar Tagen endlich dieses tolle neue Fahrrad gekauft hatte. Ihr altes war ihr gestohlen worden. Sie fuhr die allbekannten Wege entlang und entdeckte sie dennoch neu.
Die Frau, die auf dem Fahrrad angeradelt kam, wirkte glücklich. Sie war schön und Karl Otto sah sie gerne an. Schon die letzten Tage war er immer wieder hierher in den Park gekommen. Er kannte den älteren Mann auf der nächsten Bank bereits. Nur vom Sehen, gesprochen hatte er nie mit ihm. Aber er kannte ihn gut genug, um zu wissen, was jetzt folgen würde. Ihm wurde warm, von der Herbstsonne und weil die Frau einfach vor sich hinlächelte. Bis sie die nicht überhörbare Zurechtweisung vernahm. Ihre Miene fror ein, und Karl Otto wurde sich des Herbstwindes wieder deutlich bewusst.
„Du Schaßtrommel, kannst du nicht lesen? Fahrrad fahren verboten! Hier ist kein Fahrradweg. Im ganzen Park hier ist Fahrrad fahren verboten. Verboten!“
Die Frau wurde sichtbar aus der Schwerelosigkeit gerissen und ihr Lächeln schien ihr aus dem Gesicht zu fallen, wie die Blätter von den Bäumen. Sie erschrak und drehte ihren Kopf in Richtung der Stimme. Sie blickte den älteren Mann mit unverständlichem Gesichtsausdruck an und blieb stehen. Dann suchten ihre Augen die Umgebung ab. Was hatte sie falsch gemacht? Hier war kein Fußgänger. Sie sah, wie der Mann verärgert seinen Kopf schüttelte und ihr einen Vogel zeigte. Jetzt wiederum war sie aufgrund dieser Anmaßung die Verärgerte. Sie hatte nichts übrig für selbsternannte Ordnungshüter, die fremde Menschen beschimpften, obwohl deren Handlungen sie selbst nicht einmal betrafen. Sie wollte sich rechtfertigen, setzte zum Sprechen an, aber beschloss dann noch in letzter Sekunde, sich auf so einen Menschen gar nicht erst einzulassen. Sie wandte den Blick ab, stieg erneut auf ihr Fahrrad und fuhr weiter. „Eigentlich hatte der Mann ja Recht. Hier ist Fahrrad fahren verboten“, dachte sie. Sie wusste ja, dass hier, wie in fast allen Parks, Fahrrad fahren nicht erlaubt war...Dann schüttelte sie ihren Kopf, um diese Gedanken, die dem unverschämten Mann Recht gaben, loszuwerden. Sie kannte den Park, sie war vorsichtig gefahren und es waren weder Erwachsene, noch Kinder, noch Hunde auf den Gehwegen unterwegs. Ein bisschen Freiheit darf man sich wohl nehmen! Und mit diesem Gedanken strampelte sie wieder kräftig in die Pedale. Außer Sichtweite des Mannes, selbstverständlich. Mit aller Kraft bemühte sie sich ihre Zufriedenheit über ihr neues Rad wieder zu erlangen, aber es gelang nicht. Sie schämte sich ein wenig, obwohl sie ihre Schuld nicht einsah. Sie versuchte zu lächeln. Aber war den Tränen nahe, als sie bemerkte, dass die Kappe mit den bunten Blumen von ihrer wunderschönen neuen großen Klingel abgefallen war.
Karl Otto, der von seiner Bank aus alles beobachtete, konnte sehen, dass die Frau wieder auf ihr Fahrrad stieg. Sie war nicht auf die Beschimpfungen seines Banknachbars eingegangen und dennoch hatte sich ihre Haltung verändert. Er blickte ihr nach und sah, wie sie zaghaft, ja sogar richtig vorsichtig, um die nächste Kurve bog. Und dann war sie weg. Die Frau tat ihm leid. Es war ein schöner Tag und dennoch war seine Stimmung getrübt. Der alte Mann, hatte der schönen Frau einen Hieb versetzt. Karl Otto wollte aufstehen. Aber er blieb sitzen. Nach dem dritten Fahrradfahrer, der sich die Freiheit nahm und deswegen als Arschloch und Analphabet beschimpft wurde, hörte er gar nicht mehr hin. Bis eine Familie angeradelt kam.
Der kleine Junge fuhr seinen Eltern vorweg und hielt plötzlich vor den Bänken. Karl Otto hoffte inständig, der Junge würde weiterfahren, aber dieser hielt seine Augen auf den Boden gerichtet. Er schien etwas entdeckt zu haben. Es war bunt. Bunte Blumen waren auf diesem kleinen runden Ding aus Metall. Der Junge freute sich. Die Eltern holten jetzt auf und Karl Otto wollte den Jungen gerade retten, als der ältere Mann seine Chance ergriff und sich vor dem Fahrrad des kleinen Jungen aufbaute und - die Stimme an die Eltern gerichtet – rief „Sofort absteigen!“
Warum hielt sich hier niemand an die Regeln? Der ältere Mann konnte seinen Zorn nicht mehr im Zaun halten. „So schlechte Vorbilder! Nicht einmal die einfachsten Regeln werden den Kindern heutzutage beigebracht. So soll das enden?! - So was hätte es früher nicht gegeben. Ein Lager für Zucht und Ordnung muss wieder her.“ Er konnte nicht anders, er musste sich ihnen in den Weg stellen. Der Mann hielt jetzt die Lenkstange des Kindes fest. Die Augen des kleinen Jungen schauten ihn von unten ratlos an. Er hatte Mitleid mit dem Kind, dem sichtbar so gar nichts beigebracht worden war, von solchen Eltern. Schon vom Aussehen war ersichtlich, dass die Sitte, bei denen zu Hause eine andere sein musste, aber dafür konnte das Kind ja noch nichts.
„Lassen Sie das Fahrrad meines Sohnes los“, sagte der Vater und stieg von seinem ab.
„Fahren Sie mit dem kleinen Kind auch schon auf der Straße?“ Der ältere Mann würde sich nicht auf eine Diskussion einlassen. Dem Kind musste geholfen werden.
„Das geht Sie nichts an. Jetzt setzen Sie sich wieder auf ihre Bank und lassen Sie uns weiterfahren.“
„Ich kann das nicht zulassen. Der Kleine fährt noch nicht sicher genug, das sieht man ja deutlich. Auf der Straße kann das ja richtig gefährlich werden. Wenn da was passiert... Also, um Sie beide wäre es nicht schade, aber um den Kleinen...“
Karl Otto, der einfach der andere Mann auf einer Bank war, neben der Bank des „Ordnungshüters“, schien erstarrt. Er konnte kaum fassen, was er da sah und dennoch blieb er still sitzen, als existiere nur das friedliche, lustige Vogelgezwitscher um ihn herum.
„Sie haben ja Recht“, schaltete sich jetzt die Mutter ein. „Jetzt steigen wir alle ab und schieben den restlichen Weg durch den Park.“ Der Junge wollte das Ding mit den bunten Blumen aufheben, aber die Mutter sprach ein Verbot aus.
Warum sind es immer die Mütter, die die Vernünftigen sein müssen? Karl Otto empfand Mitleid für die Frau, die nicht zu begreifen schien, wie ein Fremder sich auf so penetrante Weise einmischen konnte. Aber sie war Mutter und musste die Rolle der Schlichterin übernehmen. Mütter hatten nun einmal eine feste, gesellschaftlich vorgegebene Rolle: Die Rolle der besorgten Mutter eben, dachte Karl Otto, der immer noch regungslos auf der Bank saß. Die schlichtenden Worte hatten gewirkt. Der ältere Mann ging einen Schritt beiseite und ließ die Familie wie an einer unsichtbaren Grenze passieren. Zufrieden schien er dennoch nicht. „Weil sich ja sonst niemand kümmert...selbst ihren Dreck lassen sie hier“, hörte Karl Otto den älteren Mann noch murmeln, während dieser sich wieder auf seinen Posten begab.
Karl Otto mochte die Anwesenheit des älteren Mannes nicht. Er wollte ihn zurechtweisen, tat es aber nicht. Irgendwie hatte der ja Recht....also mit seinem „Fahrrad fahren verboten“. Trotzdem. Es war ihm peinlich, so nahe neben ihm zu sitzen. Was kümmerten den Mann diese einfachen Vorschriften? Und weil Karl Otto ihn nicht ansprechen konnte oder wollte, entschied er sich dafür aufzustehen. Doch plötzlich zog eine weitere Stimme der Zurechtweisung, die nicht nach verbitterten alten Mann klang, seine Aufmerksamkeit auf sich. Er drehte sich um und sah eine Frau mit Kindern, die sich gerade mit den Händen in den Hüften positionierte.
„Können Sie bitte Ihren Hund anleinen? Das ist unverantwortlich. Hier sind Kinder!!“ Die Mutter musste sehr laut rufen, weil die junge Frau mit ihrem Hund auf der anderen Seite der Wiese spielte. Karl Otto konnte ihre Stimme gar nicht mehr hören. Vor ihm spielte sich ein Monolog einer zornigen Mutter ab, die damit kämpft, höflich zu bleiben. Die junge Frau wandte sich wieder ihrem Hund zu. Sie leinte ihn nicht an, aber gab ihm ein Zeichen und der Hund legte sich hin. Die junge Frau schien jetzt doch zumindest teilweise entgegenkommend. Aber es gab keine Versöhnung. Die Mutter schüttelte den Kopf, warf der Hundebesitzerin noch einen verächtlichen Blick zu und zog ihre Kinder weg. Sie räumte das Feld. Karl Otto hatte jetzt doch wieder auf seiner Bank Platz genommen und begann langsam echtes Interesse für die Menschen um ihn herum zu entwickeln. Was bewegte diese sich fremden Menschen zu einer Auseinandersetzung, ja fast zu einem offenen Streit? Er hatte eine Beschäftigung gefunden, wie seine Mutter es von ihm verlangt hatte. Er war stiller Beobachter. Zumindest so lange er sich im Krankenstand befand.
Umso mehr Karl Otto den anderen Menschen zuhörte und sie beim Gehen, Joggen, Fahrrad fahren oder Spielen beobachtete, desto einsamer fühlte er sich. Er selbst stand gerade weder auf der Seite des Gesetzes, noch auf der Seite der Gesetzesbrecher, die vielmehr bloß Unbeschwerte waren, die simple Regeln nicht beachteten, ohne böse Menschen zu sein. Er verharrte in Regungslosigkeit und ihm wurde stark bewusst, wie wenig er doch war, ohne seine Arbeit. Der ältere Mann auf der Bank schien jetzt wieder zufrieden zu sein. Seine Mundwinkel gingen ein bisschen nach oben. Vermutlich weil die Sonne seine Nase kitzelte. „Was ist los mit dem?“, dachte Karl Otto und konnte sich die Antwort in aller Bitterkeit selbst geben: Er war vermutlich einsam, genau wie er selbst. Nur nahm der andere noch am gesellschaftlichen Leben Teil, wenn auch nur als selbsternannter Ordnungshüter. Und was war die Motivation der Mutter und was die der Hundebesitzerin, so unverschämt zu sein? Irgendwie hatten alle ein bisschen Recht, zumindest so, wie Karl Otto sie sah. Er selbst wurde außerhalb seiner Arbeit nie gesehen. Er schien unsichtbar und war gleichzeitig unfähig, Dinge zu tun, mit denen er auffallen würde. Das war die bittere Wahrheit – er fiel nicht auf. Sein Magen knurrte und holte ihn wieder aus seinen Gedanken. Die Hundebesitzerin passierte den vom älteren Mann streng bewachten Weg. Der Hund war immer noch nicht an der Leine und Karl Otto schloss die Augen, lauschte und wurde von der Stille überrascht. Vorsichtig blinzelte er in Richtung des älteren Mannes. Zu seiner Verblüffung stellte er fest, dass dieser den Hund streichelte. Er stand sogar auf und warf dem Hund das bunte blumengemusterte Ding zum Spielen vor die Pfoten. Der Hund beschnupperte es und schwänzelte dann fröhlich davon.
Karl Otto stand nachdenklich auf. Sein hungriger Bauch führte ihn zu seinem Lieblingsbäcker. Dort kaufte er zwei Brezeln und zwei Becher Kaffee. Er schlenderte ein wenig besser gelaunt zurück in den Park. Sein Vorhaben etwas Freundliches für einen Fremden zu tun rief Wohlbefinden in ihm hervor. Das beschwingte Gefühl löste sich auf, als er die leere Bank entdeckte. Der ältere Mann war weg. „Selbst der hatte noch etwas anderes zu tun“, dachte Karl Otto enttäuscht, ohne sich die Enttäuschung erklären zu können. Er empfand doch bloß Abneigung für diesen Mann. Die Sonne ging bald unter. Das würde sein Anlass sein nach Hause zu gehen. Aber vorher würde er noch die Brezel essen, den Kaffee trinken und diesen Tag auf unspektakuläre und schrecklich gewöhnliche Weise ausklingen lassen. Nach dem ersten Bissen umkreisten ihn Enten. Er schaute sie an und überlegte: Er war Anfang vierzig. War das nicht zu früh, um Enten zu füttern? Andererseits war Anfang vierzig auch zu jung, um so wenige Freuden des Lebens und so wenig Lebenslust zu verspüren, wie er. Also beschloss er seine Brezeln zu teilen. Gerade fing er an, Lust am Füttern zu empfinden, als sich eine ältere Dame neben ihm räusperte. Er blickte nach oben und sah, wie ihr Finger auf ein Schild neben ihm zeigte: Enten und Vögel füttern verboten! Karl Otto musste schmunzeln und fütterte weiter - waren Enten keine Vögel? Und als dann noch jemand im Vorbeigehen freundlich rief: „Nächstes Mal muss ich Sie wohl anzeigen, Herr Polizist“, hatte sich der Tag gewendet. Er hatte Relevanz erhalten und der Tag wurde plötzlich schön. Jemand hatte ihn erkannt, auch ohne seine Uniform. Die Wahrheit war, auch er war nur ein Mensch. Er holte seinen Block und einen Stift aus seiner Jackentasche, mit dem er sonst hin und wieder Strafzettel verteilte und schrieb auf die Rückseite: Beschimpfen, Beleidigen und Erniedrigen VERBOTEN!
Den Zettel legte er auf die Nachbarbank und beschwerte ihn mit der bunten Kappe einer Fahrradklingel, die dort auf dem Boden neben der Bank lag.