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Der Parasitenmensch
Ich atmete Milben aus, als wären meine Lungen alte Kopfkissen, die mit jedem Atemzug ein wenig durchgeschüttelt wurden. Gabriela - oder Gabi0804, wie sie sich im Internet genannt hatte - bemerkte es nicht, weil die widerlichen Hautfresser mit dem bloßen Auge nicht zu sehen waren. Mikroskopisch klein. Winzig, aber heimtückisch. Nur ich wusste, dass sie da waren.
„Passendes Wetter für unser erstes Treffen, oder?“ Ihr Lachen war glockenhell und sollte wohl das Eis zwischen uns brechen, das im World Wide Web nie existiert hatte, uns jetzt aber umso mehr zu schaffen machte. Meine Augen suchten das Fenster, als hätte ich vergessen, wie das Wetter war. Plumpe Regentropfen schlugen im Stakkato gegen die Scheiben des Kaffeehauses und verschleierten den Blick nach draußen. Der Himmel war grau, von schweren Wolken bedeckt, der Wind fuhr durch die Bäume entlang der Straße, Schmutz und Staubkörner wurden einfach vom Wasser mitgerissen und weggespült. Ich stellte mir vor, die Parasiten einfach ertränken zu können und fand die Vorstellung kurzzeitig sehr befriedigend.
„Ja.“ Ich zwang mich zu einem Schmunzeln, nickte kurz als die Kellnerin unsere Getränke brachte, und versuchte, weniger angespannt zu wirken, als ich war.
„Erzähl mir etwas über dich, Klaus. Was sind deine Interessen, Träume, Zukunftspläne? Was machst du in deiner Freizeit, wenn du gerade nicht im Internet surfst?“ Sie strahlte, war unglaublich enthusiastisch, als sie sprach. Einige Strähnen ihrer langen, blonden Haare fielen ihr ins Gesicht als sie sich leicht nach vorne neigte und nach einer der kleinen Zuckerpackungen griff. Ich sah zu, wie der gesamte Inhalt sukzessive in ihrem Kaffee verschwand, während die Frage eine beklemmende Enge in meiner Brust verursachte, die wohl dadurch zu erklären war, dass ich scheiterte, mit einer zufriedenstellenden, ja sogar interessanten, Antwort aufzukommen. Außer Fernsehen und im Internet surfen hatte sich bei mir in den letzten sechs Monaten nicht viel getan. Das Ungeziefer nahm mir allmählich die Lebensfreude. Gabriela jedoch schien sich von meinem Zögern nicht verunsichern zu lassen und griff nach einer weiteren Packung Zucker.
Ich senkte unterdessen meinen Blick, starrte auf die Tasse Kräutertee vor mir, die ich mit beiden Händen umschlungen hielt. Die Wärme lenkte mich vom Kribbeln in meinen Fingern ab, zumindest für einen kurzen Augenblick. „Das Übliche“, gab ich zurück, versuchte locker zu wirken, fand aber sofort, dass die Antwort desinteressiert klang. „Ich mag Musik.“ Etwas regte sich in meinem linken Zeigefinger. Ich spürte einen Anflug leichter Panik, wurde unruhig.
„Musik“, wiederholte sie mit einem Lächeln, das so rein und lieblich war, dass ich am liebsten aufgesprungen und nach draußen in den Regensturm gerannt wäre. „Spielst du ein Instrument?“
„Klavier.“ Meine Stimme klang verzerrt, und obwohl ich versuchte, Blickkontakt mit Gabrielas braunen Augen zu halten, die mich vage an die eines unschuldigen Rehs erinnerten, musste ich immer wieder auf meine Hand schauen. Die Haut um meinen Fingernagel spannte unangenehm und begann, anzuschwellen. „Und Cello“, fügte ich hinzu. Sie nickte, strich eine Strähne ihres blonden Haares hinters Ohr und trank vom Kaffee. Ich bewegte meinen Finger gegen den Rand der Teetasse, wollte, dass das Spannen und Stechen aufhörte. Langsam, und zu meinem Schock, begann sich etwas zwischen meinem Finger und Nagel heraus zu schlängeln. Ein kleiner Fadenwurm, kaum länger als ein paar Zentimeter, kämpfte sich mühsam an die Oberfläche, erst langsam, dann immer schneller, dann plumpste er mit einem beinahe unmerklichen Platsch geradewegs in meinen Tee.
Ekel breitete sich in mir aus und ich zog meine Hände zurück, als hätte ich heißes Eisen angefasst, hob den Kopf und erwartete, dieselbe Grimasse in Gabrielas Gesicht zu entdecken. Eine relativ normale Reaktion, wenn seinem Gegenüber ein Parasit aus dem Finger kriecht und in den Kräutertee fällt. Überraschenderweise schien sie den Vorfall aber nicht bemerkt zu haben, denn das freundliche Lächeln, das es mir unmöglich zu machen schien, mehr als drei Worte hintereinander herauszubringen, war nicht getrübt. Etwas verwirrt, wahrscheinlich aufgrund meines Gesichtsausdruckes, aber nicht angewidert.
„Klavier und Cello? Vielleicht kannst du mir mal was vorspielen. Klaviere haben mich von klein auf fasziniert, aber meine Eltern konnten oder wollten sich früher keines leisten. Und jetzt komme ich mir zu alt vor, um Übungsstunden zu nehmen.“ Sie zuckte leicht mit den Schultern.
„Bist du nicht“, erwiderte ich, genauso unbeholfen mit Worten wie mit dem Löffel, den ich nun zwecks Wurmentfernung in meinem Tee versenkte. Ich musste das Ding loswerden, ohne dass sie etwas bemerkte. Meine Gedanken kreisten um den widerwärtigen Parasiten, wie er sich langsam in der dunklen Flüssigkeit räkelte ohne zu Boden zu sinken, während seine Geschwister durch meine Adern schwammen und mich unter der Haut kitzelten. Ich rührte beinahe zu hektisch in meinem Tee um beim Versuch, den Wurm an die Kante zu treiben, wirbelte ihn unbarmherzig wieder und wieder im Kreis, im Uhrzeigersinn, dann gegen den Uhrzeigersinn, und fragte mich, ob er wohl am Ertrinken war. Biologie war noch nie meine Stärke gewesen.
„Ich weiß nicht so recht. Irgendwie glaube ich, dass ich mir komisch vorkommen würde, wenn ich jetzt Klavierstunden nehmen würde. Fangen die meisten nicht normalerweise im Volksschulalter damit an, Instrumente zu lernen? Mein Studium nimmt auch so viel Zeit in Anspruch. Studierst du?“ Der Ton in ihrer Stimme hatte sich verändert, schien weniger enthusiastisch als am Anfang zu sein. Vielleicht hatte sie den Wurm nun doch bemerkt, war aber zu höflich, um etwas zu sagen oder angeekelt das Gesicht zu verziehen – obwohl ich es ihr wirklich nicht übel nehmen hätte können.
„Architektur“, kam meine knappe Antwort. Details, wie zum Beispiel, dass ich mein Studium vor einem halben Jahr abgebrochen hatte, waren jetzt nicht wichtig, nur der Parasit zählte. Er musste verschwinden, glitt mir aber jedes Mal davon, wenn ich ihn mit dem Löffel einfangen wollte. Meine Unterarme juckten und ich hatte Angst, dass weiteres Ungeziefer an die Oberfläche dringen würden. Käfer, Spinnen, Zecken, Fliegen, Wanzen. Manchmal verlor ich die Übersicht darüber, was in mir hauste, manchmal konnte ich das Kribbeln einer Fliege nicht von dem einer Zecke unterscheiden. An manchen Tagen kam alles zusammen.
Die Kellnerin kam wieder an unserem Tisch vorbei, fragte uns höflich, ob wir noch einen Wunsch hätten. Ich schüttelte meinen Kopf, ohne aufzusehen, der Wurm entglitt mir erneut, Tee schwappte über den Tassenrand hinaus. Gabriela wirkte plötzlich überraschend ruhig. Ich atmete tief ein und aus, ein Schwall Milben strömte aus meinen Lungen in die Umgebung.
„Alles okay?“, fragte sie zögerlich, nachdem die Kellnerin sich wieder einem anderen Tisch zugewandt hatte. „Du wirkst nervös.“
„Ja, alles gut.“ Meine Stimme klang frustrierter und ungeduldiger als ich das eigentlich wollte, das Lächeln, zu dem ich mich daraufhin sofort zwang, war ein kompletter Reinfall, schmerzte fast, weil es so unnatürlich und erzwungen war.
„Schmeckt dir dein Tee etwa nicht?“ fragte sie, ihre neugierigen Rehaugen auf mich gerichtet als würde sie versuchen mich zu lesen. Aber ich war kein Buch, ganz besonders kein offenes.
„Nein.“ Ich schüttelte meinen Kopf, konnte keine vernünftige Erklärung dafür aufbringen, dass ich keinen einzigen Schluck von meinem Getränk getrunken hatte, während ihr Kaffee mittlerweile schon fast weg war.
„Darf ich?“
Ich war wie starr vor Entsetzen als sie plötzlich über den Tisch griff und sich ihre zarten, schlanken Finger um meine Teetasse schlängelten. Ihre Haut sah so sanft aus, so makellos. Kein Laut kam über meine Lippen, obwohl ich wild meinen Kopf schütteln und Nein schreien wollte. Ich saß nur da, hilflos als wäre ich komplett von der Welt um mich abgeschirmt und nicht mehr als ein stummer Beobachter. Gabriela atmete das feine, leicht würzige Aroma des Kräutertees ein und brachte die Tasse an ihre Lippen. Der Wurm. Der Wurm war doch noch da drinnen. Wie kam es, dass sie ihn einfach übersah?
Sie trank einen Schluck. Ich hielt meinen Atem an, immer noch unfähig, in irgendeiner Art und Weise einzuspringen. Ich hätte etwas sagen sollen, ihr die Tasse aus der Hand reißen oder lautstark protestieren sollen, selbst wenn das ruppig gewirkt hätte, selbst wenn ich sie damit endgültig verjagt hätte. Stattdessen ließ ich sie von meinem Tee trinken, wusste selbst nicht mehr, was ich mir eigentlich dabei gedacht hatte, als ich auf dieses Treffen eingewilligt hatte. Natürlich würde es in Chaos enden. War ich wirklich naiv genug gewesen, zu hoffen, dass sie nicht bemerken würde, wie das krabbelnde Ungeziefer mich langsam von innen auffraß?
Gabriela setzte die Tasse wieder vor mir ab. Der Wurm war verschwunden.
„Also mir schmeckt er gut. Obwohl er meiner Meinung nach etwas Zucker vertragen könnte.“ Das verspielte Lächeln auf ihren Lippen passte so gar nicht zu dem, was gerade passiert war. Sie hätte den Wurm doch bemerken müssen. „Aber bestell dir doch etwas anderes, wenn du möchtest.“
Aber ich mochte nicht. Mir war heiß und ich hatte Mühe, einen plötzlichen Brechreiz zu unterdrücken. Die Parasiten unter meiner Haut waren nun auch unruhiger denn je, tauchten ab in tiefere Schichten, als ob sie entgegen jedweder Logik mitbekommen hatten, dass einer von ihnen gerade von der Frau, die mir gegenüber saß, verschluckt worden war. Irgendwie schaffte ich es doch noch, ein schwaches 'Nein' zu stammeln. Mein Kopf schwamm. Wie konnte sie immer noch so ruhig sein? Wieso -
„Hey, ist dir nicht gut? Klaus?“
Ihre Frage ließ mich zusammenfahren. Ich folgte ihrem Blick und merkte erst jetzt, dass ich geistesabwesend dem Juckreiz nachgegeben hatte und fast schon wie besessen an meinem linken Unterarm kratzte. Die Haut war rot und brannte leicht, als ich meine Finger zurückzog. Das unbeschwerte Lächeln auf Gabrielas Lippen war verschwunden und ich schämte mich. Gleich, dachte ich, als ich meine Brille unnötigerweise zurecht rückte, nur um meine Finger zu beschäftigen, die schon wieder am Arm reiben wollten, gleich steht sie auf und geht. Online würde sie mich nach diesem Date auch nicht mehr anschreiben, dessen war ich mir nun fast schon sicher.
„Doch. Mir ist nur heiß, ich -“ Und dann verstummte ich mit einem Schlag, weil ich den Wurm wieder sah. Aber nicht im Tee, sondern in Gabrielas linkem Auge. Er hob sich kaum von der braunen Iris ab, aber ich sah ihn. Er räkelte und schlängelte sich im Kreis um die Pupille und obwohl der Anblick absolut abstoßend und widerwärtig war, konnte ich meinen Blick nicht abwenden. Mein Herz schlug mir bis zum Hals, mein Gesicht verzerrte sich erneut zur Grimasse. Plötzlich hatte ich kein Interesse mehr an dieser Frau, ihre Anziehungskraft war weg. Ich weiß, dass ich bleiben hätte sollen. Sie verdiente eine ruhige Erklärung. Sie musste wissen, dass ich sie versehentlich mit meinen Parasiten infiziert hatte, und dass sie sich nicht die Mühe machen brauchte, einen Arzt aufzusuchen, weil Ärzte blind gegenüber jeglichem Ungeziefer waren.
Aber stattdessen stand ich abrupt auf und floh regelrecht aus dem Kaffeehaus. Vergaß meinen Schirm und eilte durch den Sturm, war zu aufgewühlt, um darauf zu achten, großen Pfützen auszuweichen. Gabriela war für mich ruiniert, und während ich mich schuldig fühlte, konnte ich es jetzt doch nicht mehr ändern.
Ich lief durch die Straßen, der Regen durchnässte meine Kleidung. Ich atmete Milben aus. Nur ich wusste, dass sie da waren.
Nur ich.