Der Pager
„Du bist wirklich das schönste Mädchen, das ich je gesehen habe!“ Martin konnte sein Glück nicht fassen. Cindy war das attraktivste Mädchen auf der Benjamin Franklin High School. Alle Jungs buhlten um sie, doch ihr Herz hatte sich für ihn entschieden. Ihr brünettes, glattgekämmtes Haar fiel weit bis über ihre zarten Schultern, die nur von hauchdünnen Trägern des hellblauen Tops verdeckt wurden, das sie an diesem Abend trug. Ihr jugendlich frisches Gesicht glich dem eines Engels und wenn sie lächelte, ging im ganzen Land die Sonne auf. Trotz ihrer 17 Jahre wies ihr Körper bereits die verführerischen Proportionen einer erwachsenen Frau auf. Martin konnte kaum erwarten, sie ins Bett zu locken. Welches Mädchen konnte ihm schon widerstehen? Für seine 19 Jahre hatte er einen ungewöhnlich starken Bartwuchs und seine stählernen Muskelpakete hatten schon so manches weiblich-männliche Duell für ihn entschieden. Und nun saß er zusammen mit seinem Traummädchen Cindy im Mansardenzimmer ihres Elternhauses. Die vielen, verschiedenfarbigen Kerzen und das Efeu, was sich um die blankliegenden Dachbohlen rankte, gaben der Atmosphäre einen kitschigen, aber auch romantischen Touch. Martins Arm hatte sich um ihre Schultern gelegt und sie kuschelte sich eng an ihn. Sie war so weich, so süß.
„Cindy?“
Ihre himmelblauen Augen sahen ihn verträumt an.
„Ich bin sehr glücklich mit dir, weißt du das? Ich möchte, dass wir unsere Beziehung noch mehr vertiefen.“
„Und wie sollen wir das machen?“ hauchte sie zurück.
Martins freie Hand legte sich auf ihren Bauch und fuhr sanft nach oben, bis er ihren Busen streicheln konnte. Cindy zuckte auf und wies ihn zurück.
„Bitte nicht.“ Es war ein unsicheres Flüstern. Martin ließ es dabei aber nicht bewenden. Wieder legte sich seine Hand auf ihren Bauch.
„Du willst es doch auch, oder?“
„Ja, sicher.“ Martin sah sich am Ziel seiner Träume, doch dann stand Cindy abrupt auf. „Aber nicht heute. Hank muss jede Minute kommen. Wir arbeiten noch weiter an unserem Schulprojekt.“
Jetzt richtete sich auch Martin auf und setzte sich auf das mit einem antiquierten Überwurf verzierte Sofa, an dem sie die ganze Zeit gelehnt hatten.
„Hank? Schon wieder?“ grollte er. „Das ist schon das dritte Mal diese Woche!“
Cindy setzte sich vergnügt lächelnd neben ihn und stupste seine Nase an. „Sehe ich da in deinen Augen das grünäugige Monster der Eifersucht?“
„Nein, ich bin nicht eifersüchtig“, log er. „Es ist nur, dass du mit Hank fast mehr Zeit verbringst als mit mir. Das nicht okay.“
„Wir haben viel zu tun an diesem Projekt. Glaub mir, das ist der einzige Grund. Aber wenn wir damit fertig sind...“ Sie rutschte noch näher an Martin heran. „Dann werden wir unsere Beziehung in einer irrsinnigen Nacht besiegeln.“
Wie zur Bestätigung knabberte sie zärtlich an seinem Hals. Das ließ Martin weich werden, doch so ganz am Ende seines Repertoires war er noch nicht angekommen. Er langte nach seiner Jacke und zog ein kleines Päckchen aus der Innentasche. Auffordernd hielt er es Cindy entgegen.
„Was ist das?“ fragte sie irritiert.
„Mach es auf!“
Neugierig löste Cindy die Schleife von dem Päckchen und schaute auf ein kleines Gerät mit transparentem Gehäuse.
„Noch einmal, Martin. Was ist das?“
„Ein Pager, meine Süße. Der ist nur für dich.“
„Und wofür soll der gut sein?“
„Ganz einfach. Wann immer ich an dich denken muss, piepse ich dich an. Du siehst meine Nummer und rufst mich zurück. So können wir immer zusammen sein.“
Cindy fand die Idee so zauberhaft, dass sie ihrem Freund um den Hals fiel. Martin konnte so romantisch sein. In diesem Moment klingelte es an der Haustür und bald darauf waren Schritte auf der Treppe zur Mansarde zu hören.
„Hank kommt“, flüsterte Cindy, als handelte es sich um ein Geheimnis. Sie klemmte den Pager an ihrem Rocksaum fest. „Es ist besser, du gehst jetzt, sonst vergesse ich noch meine Unschuld.“ Sie hauchte ihm noch einen Kuss auf die Wange, bevor Martin sich auf den Weg nach unten machte. Auf dem Weg begegnete er Hank und klatschte ihn ab. Dabei hielt er seine Hand fest und sah ihm tief in die Augen.
„Viel Erfolg bei dem Projekt. Und lass die Finger von meiner Kleinen.“
Verwundert betrat Hank das Zimmer und begrüßte Cindy.
„Was sollte denn das gerade gewesen sein?“ fragte er mit Blick auf die Treppe.
„Was denn?“ Cindy hatte von dem kurzen Gespräch nichts mitbekommen.
„Ach nichts. Machen wir uns an die Arbeit.“
Sie gingen zu einem ausrangierten Zeichentisch und setzten sich auf die abgenutzten Drehstühle, die ordentlich aufgereiht davor standen. Auf dem Tisch bedeckte ein Tuch ein Gebilde, das sich durch einige Spitzen abzeichnete.
„Bereit?“
Hank nickte und nahm das Tuch weg. Drei Pyramiden aus Ton und ein noch unglücklich aussehender Klumpen kamen zum Vorschein.
Hank legte den Kopf schief und sinnierte: „Ich weiß immer noch nicht, warum die Ägypter solche Schwierigkeiten mit den Pyramiden hatten. Das ging doch ganz einfach.“
Cindy deutete zweifelnd auf den unfertigen Tonklumpen. „Das stimmt. Aber ich hab immer noch keine Ahnung, wie sie die Sphinx hinbekommen haben.“
„Schauen wir uns das Bild noch einmal genau an. Vielleicht bekommen wir dann eine Idee.“
Als Cindy aufstand, um nach einem Buch zu suchen, stutzte Hank.
„Was ist denn das?“
Cindy fasste an ihre Hüfte. „Oh, das ist ein Geschenk von Martin. Ein Pager.“
„Wow, der muss dich ja richtig gern haben. Hat er denn kein Vertrauen zu dir?“
„Wie meinst du das?“
„Ach komm, Cindy. Das ist kein Pager. Das ist eine Hundeleine. Er will dich kontrollieren.“
„Du spinnst“, sagte sie entrüstet. Doch wie zu Hanks Bestätigung piepste das kleine Gerät. Martins Nummer erschien auf dem Display.
„Er macht sich nur Sorgen um mich. Findest du das nicht süß?“
Hank verzog zweifelnd die Mundwinkel, als Cindy zum Telefon griff. Ja, es ist alles in Ordnung. Ja, sie sind schon bei der Arbeit. Ja, sie liebt ihn auch. Cindy legte auf und sah Hank an. Sein weiches, unschuldiges Gesicht verzog sich zu einem Grinsen voll von Selbstbestätigung.
„Kuck nicht so. Er liebt mich eben.“
„Liebe ist etwas für Frauen. Bei Jungs heißt das Geilheit.“
Cindy sah ihn strafend an und beugte sich wieder über das Projekt. „Lass uns weiterarbeiten.“
„Wie denn? Ich hab immer noch keine Ahnung, was wir mit der Sphinx machen sollen.“
„Ach ja, das Bild!“ Cindy begab sich wieder zum Bücherregal und merkte nicht, wie sich Hank von hinten anschlich. Erschrocken fuhr sie zusammen, als er beide Hände um ihre Hüften legte.
„Na, lässt du das?“
Hank lächelte verschmitzt und gab ihr noch einen Klaps auf das Hinterteil. „Ich bin halt ein Kerl!“ sagte er vergnügt. Da lachte auch Cindy und schüttelte den Kopf.
„Ihr Jungs seid unmöglich. Manchmal hasse ich mich für mein Aussehen.“
„Aber warum denn? Ist doch ein hübscher Anblick!“
„Das ist es ja. Jeder stellt mir nach. Ich will aber in einer Beziehung treu sein, da gibt es für mich keine anderen Jungs. Stell dir vor, wie schwer es manchmal ist, sich dagegen zu wehren!“
Cindy war gerade im Begriff, sich und Hank ein Glas Limonade einzuschenken, als sich der Pager wieder meldete.
Cindy sah Hanks provozierenden Blick und meinte schnell: „Es muss ja nicht Martin sein. Und – das Teil ist KEINE Hundeleine“
Aber es war Martin. Ab zum Telefon. Ja, Schatz, es ist alles in Ordnung. Nein, ich mache keine Dummheiten. Ja, ich liebe dich auch. Hank gab ein deutlich vernehmbares „Wäff! Wäff!“ von sich, was ihm erneut einen strengen Blick einbrachte.
„Ich finde es trotzdem süß“, sagte Cindy, doch sie klang nicht mehr so überzeugt, wie noch vor wenigen Minuten.
„Dann musst du ihm seine Eifersucht auch lassen und ihm treu bleiben.“
„Du denkst wirklich, dass er eifersüchtig ist?“
Hank hob beschwörend die Arme.
„Hey, ist der Papst katholisch? Ich mag zwar nur wie ein stupider Kerl aussehen, aber ich merke, wenn jemand einen an die Leine legt.“
Cindy zögerte mit einer Antwort. Als der Pager zum zweiten Mal gegangen war, hatte sie auch kein gutes Gefühl gehabt. Martin war vielleicht gerade erst vor zehn Minuten gegangen. Und da machte er sich schon Sorgen um sie? Machte er sich eigentlich wirklich Sorgen oder sollte Hank recht haben und er kontrollierte sie? Cindy war verwirrt und setzte sich an den Zeichentisch. Hank setzte sich dazu und schaute sie mit seinen Dackelaugen an. Jetzt, da Cindy sich Gedanken über Beziehungen machte, interessierte sie etwas ganz Besonders.
„Hank, du bist doch ein netter Kerl. Vielleicht nicht der Hellste“ – Hank wiegte den Kopf – „aber von meiner Sicht aus ein toller Typ. Wie kommt es eigentlich, dass du keine Freundin hast?“
„Na, überleg mal. Hast du mich je mit einem Mädchen zusammen gesehen?“
Cindy überlegte.
„Eigentlich nicht. Hat das einen Grund?“
„Es ist derselbe Grund, warum ich es gut finde, dass du dich in einer Beziehung nicht mehr für andere Jungs interessierst.“
„Wie meinst du das?“
„Na, dann bleiben mehr für mich übrig.“
Cindy sackte auf ihrem Drehstuhl zusammen. Sollte das etwa heißen – nein, das konnte nicht sein. Oder etwa doch?
„Hank, du bist doch nicht etwa....“
„Schwul? Und ob ich das bin. Wäre Martin nicht so ein Macho, hättest du echt Konkurrenz!“
Cindy drehte sich ab, um ihr Erstaunen zu verbergen. Doch sie hatte nicht mehr an die Limonade gedacht. Mit dem Ärmel erwischte sie das Glas und stieß die Flüssigkeit weit verstreut über die noch nicht gehärteten Pyramiden. Beide sprangen erschrocken auf. Gerade Hank war außer sich.
„Oh mein Gott! Bitte entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Hätte ich gewusst... oh nein, die Pyramiden. Was machen wir denn jetzt?“
„Ich weiß nicht! Doch – ich weiß! Wir müssen alles trockenlegen.“
Sie machte Anstalten, ihr Top auszuziehen, als sie zögerte.
„Und du bist wirklich schwul?“
„J. Edgar Hoover hatte mehr Frauen als ich“, sagte er hektisch. Der Pager piepste wieder, doch sie ignorierten ihn.
Cindy zog das Top aus und legte es behutsam über ihr Projekt. Auch Hank opferte sein Hemd. So konnte alles trocknen.
„In einer halben Stunde dürfte das Malheur behoben sein“, meinte Cindy und sah auf Hanks nackten Oberkörper. „Au warte! Der Kerl, der dich einmal bekommen wird, kann sich glücklich schätzen.“
Hank sah an sich herab und dann auf Cindy, deren himmelblauer BH mehr zeigte als verbarg.
„Schätze, mit so einem Anblick hat dein Zimmer heute nicht gerechnet, was?“
Da prustete Cindy los und Hank fiel in ihr Gelächter mit ein. Sie mussten so herzhaft lachen, dass sie nicht hörten, wie sich jemand der Treppe zur Mansarde näherte. Die beiden lachten immer noch und stützten sich gegenseitig, um nicht von den Stühlen zu fallen, als eine erboste Stimme den Raum erfüllte.
„Was zum Teufel ist denn hier los?“
Erschrocken fuhren sie herum und sahen Martin am Aufgang stehen, doch nicht für lange. Zielstrebig ging der Muskelprotz auf die beiden zu. Noch bevor einer von ihnen reagieren konnte, hatte Martin bereits ausgeholt. Seine rechte Gerade traf Hank direkt unterm Kinn. Als der auf dem Boden aufschlug, war Martin gleich wieder über ihm und verpasste ihm einen Haken in die Magengrube. Und gleich noch einen ins Gesicht. Cindy schrie auf, doch Martin war nicht zu bremsen. Da fasste sich das Mädchen ein Herz und riss ihren Freund mit Gewalt von Hank weg.
„Verdammt! Was soll das, Martin? Bist du irre?“
Martins Augen leuchteten gefährlich und seine Mundwinkel zuckten.
„Ich irre? Ich? Ich wollte nur nach dem Rechten sehen, nachdem du dich nicht gemeldet hast. Und dann – hey, was für ein Anblick. Dich kann man ja nicht mal eine halbe Stunde alleine lassen, ohne dass du eine ganze Kompanie Männer verschlingst!“
„Martin, du siehst das ganz falsch!“
„Oh nein! Ich sehe das genau richtig. Du Nutte!“
Cindy wankte einen Schritt zurück. Hatte ihr Freund sie gerade eine Nutte genannt? Ihr Magen krampfte sich zusammen. Sie war doch keine Nutte.
„Martin, es ist nichts passiert. Und es wäre auch nichts passiert!“
„Ja, das sehe ich!“ schnaubte Martin zurück.
Cindy atmete tief durch und wandte sich an Hank. „Sag du es ihm.“
„Sie hat recht, Martin. Es konnte nichts passieren. Ich bin schwul!“
Martin atmete wild, hektisch und böse. Doch seine irritierten Augen verrieten ihn.
„Ja, mein Lieber“, sagte Cindy mit auffallender Zurückhaltung, aber unverhohlener Wut, die in ihr aufglomm. „Hank ist ein Homo. Wir haben nur unser Projekt schützen wollen, weil ich Limonade darüber vergossen habe. Und du hast nichts Besseres zu tun, als hier wie ein Berggorilla aufzutreten.“ Sie senkte den Blick. Der nächste Satz lag ihr auf der Zunge, doch sie musste sich überwinden, ihn auszusprechen. „Ich schätze, das war es dann.“
Martin schaute sie entgeistert an. „Was meinst du damit? Was war was?“
Cindy schaute ihm direkt in die Augen. „Mit uns. Bitte geh jetzt. Ich will dich nie mehr sehen!“
Martin stand noch eine Weile wie angewurzelt – und keinem intelligentem Blick – auf der Stelle, bis er sich auflachend umdrehte.
„Ich brauch dich nicht, Cindy. Ich hab ganz schnell eine andere!“
Er wollte gerade die Treppe hinuntergehen, als ihn Cindy noch einmal zurückrief. Sie griff an ihren Rocksaum und warf Martin den Pager so hart vor die Füße, dass er in viele Einzelteile zerbrach.
„Für deinen nächsten Hund“, flüsterte sie.
Als Martin endlich verschwunden war, ging sie neben Hank in die Knie. Er blutete aus einer Wunde am Kinn und hielt sich den Bauch.
Mit einem Taschentuch tupfte sie das Blut weg und legte seinen Kopf auf ihren Schoss. In ihrem Hals bildete sich ein großer Kropf. Doch sie wollte nicht weinen, nicht um Martin. Diese Szene hatte ihr gezeigt, dass sie mit ihm nicht glücklich geworden wäre. Und ihr wurde klar, dass Hank recht gehabt hatte. Dieser Pager war eine Hundeleine gewesen. Er hatte ein recht darauf, es zu erfahren.
„Hank, ich wollte dir noch sagen, dass du... na ja, ich meine, die Sache mit dem Pager. Du hattest...“
Da ergriff Hank ihren Arm und unterbrach sie. „Ich weiß. Ist schon okay.“
„Danke“, hauchte sie, die nahenden Tränen unterdrückend, und nahm ihn fest in den Arm wie einen guten Freund.
Hank grinste schelmisch. „Also, du fühlst dich gar nicht mal schlecht an für ein Mädchen!“
Cindy sah ihn an und erkannte die Ironie in seinen Worten.
„Oh, du verdammter...“
Ein Kissen lag griffbereit. Damit drosch sie auf ihn ein und lachte dabei. Vergessen waren die Tränen um eine Beziehung, die es in Wirklichkeit nie gegeben hatte.
E N D E