Der Optimist
Der Optimist
„Il est demontré, que les choses ne peuvent etre autrement: car, tout étant fait pour une fin, tout est nécessairement pour la mailleure fin.”
Voltaire, Candide ou l`Optimisme
Die meisten Menschen haben wohl eine tiefgreifende und grundlegende Angst vor dem Sterben, denn das Sterben und der Tod scheinen uns so unverständlich, so gänzlich gegen unsere Existenz, bedrohend, zerstörend. Wir wissen nicht, was uns nach dem Tod erwartet und ob überhaupt nach dem Tod etwas ist. Wir haben nur Vermutungen, wir glauben, daß nach dem Tod etwas existieren könnte, ein Paradies oder eine Auferstehung. Es gibt sicherlich zahllose Vorschläge, welche Orte wir erreichen könnten, wenn wir nur erst die Schwelle des Todes überschritten haben, hunderte von Sekten versprechen uns das Blaue vom Himmel und es gibt Menschen, die tatsächlich an alle diese Versprechungen glauben. Aber ob diese Versprechungen wirklich zutreffen oder ob alles bloß Lug und Trug, Maya ist, läßt sich niemals klären. Aber die Dunkelheit, die über dem Tode schwebt, und die grauenvollen Vorstellungen über Schmerzen und Leiden, welche das Sterben uns aufnötigen könnte, sind wohl auch das einzige Mittel, um uns am Leben zu erhalten. Insofern haben alle unsere Ängste vor dem Sterben und dem Tod einen unbedingten Nutzen, unsere Gattung soll bestehen bleiben.
So bleibt uns nichts anderes, als dem Schmerz, der Einsamkeit und letztlich unserer Vernichtung entgegenzusehen, aber immer mit der drängenden Frage auf der Zunge, an welcher Todesart, durch welche Krankheit, durch welchen Unglücksfall, durch welchen Gewaltakt werden wir wohl zugrunde gehen? Wie hoch werden die Leiden sein, die wir zu ertragen haben? Und vor allen Dingen: welcher Sterbensprozess ist der Schlimmste, den wir unter keinen Umständen, niemals, Gott oder wer immer helfe uns, erleiden mögen?
Nach meiner Ansicht gibt es wohl kaum eine schlimmere Vorstellung für den Menschen, als lebendig begraben zu werden und das langsame Sterben in Einsamkeit, Dunkelheit und Verzweiflung erleiden zu müssen. Viel schlimmer als Krebs, lebendig gefressen oder gevierteilt zu werden. Bei allen diesen Sterbensprozessen sind Medikamente, ein schnell tötender Biß oder frühes Ausbluten sicher. Das Sterben durch lebendiges Begraben ist jedoch langatmig, ewig, weit außerhalb jeglicher Vernunft und Vorstellungskraft qualvoll. Nur der Wahnsinn selbst scheint Erleichterung geben zu können.
Viele Menschen glauben jedoch, dass das lebendige Begraben durch die ausgeklügelten und hoch wissenschaftlichen medizinischen Methoden ausgeschlossen werden kann. Aber ist dem wirklich so? Wissen wir denn, wann ein Mensch endlich gestorben ist? Wir sind zwar in der Lage anhand von Messungen die Gehirnströme festzustellen und den Herzschlag zu prüfen. Bei dem Menschen, bei dem der Herzschlag ausbleibt oder bei dem keine Gehirnströme mehr auftreten, schließt die medizinische Wissenschaft, daß der Mensch ins Jenseits übergegangen, also Tod sein muß. Der Körper wird dann, wenn der Verstorbene zu Lebzeiten zugestimmt hat oder wenn die Verwandten zustimmen, der Pathologie überstellt. Wenn der Körper vor Bestattung verbrannt werden soll oder wenn Verdachtsmomente einer Fremdeinwirkung vorliegen, wird der Körper der Gerichtsmedizin überstellt. Zumindest wird der Körper dann aufgeschnitten und in seine Einzelteile zerlegt, so daß jedenfalls, wenn der Körper in allen seinen Teilen auf dem Seziertisch liegt, vom Tod des Menschen ausgegangen werden muß.
Doch ist der Tod eines Menschen eben doch nur mithilfe menschlich entwickelter Methoden, also nur mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit festzustellen und es gibt Ansichten, die insbesondere von unseren Kirchen und auch von einzelnen Geisteswissenschaftlern vertreten werden, daß trotz fehlenden Herzschlages und trotz fehlender Gehirnströme der Tod nicht notwendiger Weise eingetreten sein muß. Sondern daß alle diese Messungen, die mit elektronischen Geräten durchgeführt werden, nur den Wert von Indizien haben können. Was passiert, wenn ein elektronisches Gerät unbemerkt versagt? Ein Defekt tritt ein, ob durch einen bloßen Zufall oder durch Verschleiß. Krankenhäuser leiden heutzutage bekanntlich unter ständigem finanziellem Mangel. Die Geräte können jedenfalls versagen, diese Möglichkeit kann und darf nicht ausgeschlossen werden. Wie ist es dann, wenn zwar die Gehirnströme zunächst ausbleiben, doch dann mit einem Male wiederkehren? Auch heutzutage hat es Fälle gegeben, bei denen ein Mensch von Wissenschaftlern für tot erklärt worden ist, unvermutet doch mit einem Male wiedererwachte.
Das Leben bleibt letztlich unerklärbar. Ob wir eine Seele haben, wann diese Seele aus unserem Körper steigt, wer vermag die Wahrheit zu erklären, wer vermag mit wirklicher Sicherheit zu sagen, was das Leben, was der Tod ist. Wir unvollkommenen Menschen können nur mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Tod eines Menschen indizieren, ob jemand wirklich verstorben ist, ob die Seele eines Menschen aus dem Körper getreten ist, das vermag der Mensch nicht zu sagen. Daher ist die Möglichkeit, daß ein Mensch, obwohl er mit den Mitteln unserer hoch entwickelten medizinischen Wissenschaft für tot erklärt worden ist, schließlich doch lebendig begraben wird, durchaus noch gegeben.
Es sollten auch nicht die Möglichkeiten eines Arztes außer Acht gelassen werden, der einem anderen Menschen gegenüber nachlässig oder gar böswillig ist. Nicht jeder Körper wird von der medizinischen Wissenschaft zerlegt. Wenn eine einfache Bestattung stattfinden soll, ohne daß der Körper verbrannt wird, und dies ist wohl der generelle Fall, dann genügt der Totenschein eines Arztes.
Der Körper kommt dann nicht zur Gerichtsmedizin, weil bei Verdacht auf ein Verbrechen jederzeit noch eine Exhumierung stattfinden kann. Die Pathologie bekommt jedoch auch nicht alle Körper, die sie gerne haben möchte. Beschwert sich die Medizin nicht über den Umstand, daß die Bereitschaft, den Körper zur Verwertung freizugeben, sozusagen als Ersatzteillager, eher sinkt als steigt?
Ein Arzt, der einem Menschen gegenüber nachlässig oder gar böswillig ist, hat also durchaus die Möglichkeit, Sie, verehrter Leser, oder mich, obgleich uns für wenige Tage lediglich das Bewußtsein fehlt, aufgrund eines Unfalles, eines kataleptischen Anfalles oder durch absichtliche Herbeiführung, für tot zu erklären und uns begraben zu lassen. Jetzt stellen Sie sich doch nur Ihre oder meine böse Überraschung vor, wenn wir aus unserer Bewußtlosigkeit oder aus unserem Koma erwachen, und wir uns eingesargt tief unter dem Erdboden wiederfinden?
Ich sage hier also, daß das lebendige Begraben nicht bloße Erfindung oder bloßer Unsinn ist, sondern daß es seit Menschen Gedenken, seit dem der Mensch seine Toten begräbt, immer wieder Fälle gegeben hat, bei denen der Mensch lebendig begraben wurde. Ich behaupte des Weiteren, dass der Tod durch lebendiges Begraben der Schlimmste und Furchterregenste ist, den sich der Mensch überhaupt vorstellen kann. Und letztlich behaupte ich, dass ein solches Sterben dann noch an erheblichen Graden von Qualen und Leiden zunehmen wird, wenn derjenige, der dieses grausame Schicksal ertragen muß, ein Optimist ist.
Für diese Behauptungen möchte ich gleich einen Fall als Beispiel heranführen. Mehr als vier Jahre waren notwendig gewesen, damit sich der Verdacht eines entsetzlichen Verbrechens an einem Menschen bestätigte. Um es auch gleich vorwegzunehmen, der Mensch, um den es hier geht, war mein bester Freund gewesen.
An einem verregneten düsteren Morgen auf einem kleinen Friedhof mit einer kleinen Kirche, wurde das Loch, in dem mein Freund begraben worden war, wieder ausgehoben und es hatte bestimmt eine geschlagene Stunde gedauert, bis die Grabenden auf den modrigen hölzernen Sarg gestoßen waren. Die Beamten der Staatsanwaltschaft guckten sich schauernd und etwas ängstlich in die Augen, dann atmeten sie noch einmal kräftig durch und der Sargdeckel wurde mit einiger Mühe gehoben. Sie entdeckten, was sie bereits zuvor geahnt hatten. Ein Knochengerippe lag im Sarg, zusammen mit einigen Stoffetzen. Aber was die Beamten so sehr erschütterte, war nicht der Anblick dieses vermoderten Gerippes, sondern vielmehr die Position, die es eingenommen hatte. Ganz eigentümlich verdreht und verrenkt lag es im Sarg und es waren die knochigen Finger, die vor mehr als vier Jahren so heftig am Sargdeckel gekratzt haben mussten. Es war ganz offensichtlich, mein Freund, welch ein Grauen, er hatte noch gelebt, als er in seinem Sarg tief in die Erde eingegraben worden war.
Dieses Ereignis konnte meine Phantasie nicht zurückhalten, die mir die Leiden meines Freundes in eigentümlichen Farben widerspiegelte und mir kalte Schauer über meinen Rücken gleiten ließ. Mein Freund war nämlich, ich betone dies schon hier, ein ganz außerordentlicher Optimist gewesen. Besonders er konnte jede Situation, mochte sie auch noch so verzweifelt sein, nur immer so positiv sehen. Wie musste er gelitten haben.
Ich habe eine ganz außergewöhnlich lebhafte Phantasie. Ich leide zwar nicht unter ihr, aber sie gibt mir mittlerweile doch einige Bedenken. Darum konnte ich mich aber nicht den Vorstellungen erwehren, die mir seine Leiden vorspiegelten.
Er erwacht aus seinem Koma. Er wacht auf, aus welchen Gründen auch immer, wahrscheinlich, weil er nicht tatsächlich verstorben ist, sondern weil diejenigen, die darüber zu bestimmen hatten, ihn für tot hielten oder ihn für tot halten wollten und ihn schließlich begraben ließen, sehr schnell, ohne weiteren Aufhebens. Er versucht seine Sinne beieinander zu bekommen, er ist bei seinem Erwachen sicherlich noch ganz benommen. Alles ist schwarz. Dann versucht er sich zu drehen. Doch befindet er sich in einem sehr engen Behältnis, dem Sarg, er kann sich nicht drehen, soviel er sich auch müht. Seine Beine kann er etwas aufstellen und auch dies ist nur im begrenzten Rahmen möglich. Ein ganz eigentümlicher Geruch läßt ihn aufmerksamer werden. Er schnuppert ein weiteres Mal und es gebricht ihm an seiner Vorstellungskraft, was dieser Geruch sein mag. Er glaubt, daß er noch träumen würde, es ist ja alles schwarz, aber andererseits muß dieser Traum sehr real sein, weil er diese Enge fühlt, diesen eigentümlichen Geruch in der Nase hat, und ihm wird sehr beklommen zumute. Erste Gedanken kreisen in seinem Gehirn. Wo befindet er sich? Jetzt kann er auch den Geruch identifizieren, eine Mischung aus feuchter, erdiger Kälte und seinem eigenen Körpergeruch, wie es scheint. Er hebt seine Arme, doch diese werden sogleich vom Sargdeckel behindert. Er versucht sein Gesicht zu berühren und dies gelingt ihm auch. Träumt er noch? Er kneift sich.
Blitzartig begreift er: er ist eingesargt und liegt mehrere Meter unter der Erdoberfläche. Entsetzen überfällt ihn. Er zweifelt an seinem Schicksal, glaubt, alles sei nur ein Spaß, ein ganz fieser Gag, von seinen Freunden inszeniert, um ihn wegen seines manchmal zu provozierenden Verhaltens zu reglementieren. Lachend ruft er aus: „Gut, liebe Freunde, ihr habt ja so recht, ich bin manchmal eben ein Volltrottel, jetzt holt mich doch bitte hier heraus, ich werde mich auch für alles entschuldigen, ja, ich sage schon jetzt, es tut mir Leid, aber bitte, bitte holt mich hier heraus.“ Doch niemand kommt. Alles bleibt still. Totenstill. Und schwarz.
Erste klaustrophobische Ängste wallen über ihn. Er schlägt mit aller Kraft gegen die Wände des Sarges. Er schreit ganz laut um Hilfe. Aber niemand kommt. Er begreift immer deutlicher den Ernst seiner Lage. Niemand wird kommen, um ihn zu retten, niemand wird an ihn denken, er ist doch tot, er ist beerdigt, er weilt nicht mehr unter den Lebenden, auch seine Freunde leben in der Vorstellung, in der einzigen Vorstellung, die sie überhaupt haben können, er ist tot. Niemand wird kommen, ihn zu retten, er ist wirklich gänzlich verlassen und liegt tatsächlich in einem sehr stabilen Holzsarg mehrere Meter unter der Erde.
Tränen fließen ihm aus den Augen, er betrauert seine eigene Beerdigung. Doch dann: ein Hoffnungsschimmer. „Tschakka !“ Ja, er befindet sich jetzt in einer sehr hoffnungslosen Situation, aber auch aus dieser Situation läßt sich doch etwas Vorteilhaftes herausschlagen. Wer hat schon die Möglichkeit, die Erfahrung des lebendig Begrabenen zu machen? Das ist doch ein einmaliges Erlebnis. Nein, think postiv, aus allen Schicksalsschlägen läßt sich auch eine sehr positive Erfahrung ziehen. Motivation, Motivation, think positiv, think positiv. Er ist sein eigener Motivationstrainer. Hatte er nicht auch die Bücher gelesen: „Sag ja zum Erfolg“ oder „Sprenge Deine Grenzen“? „Tschakka !“
Warum nicht lachen? Gibt es eine freudigere Situation, als eben diese, in der er sich befindet? Lache, mein Freund, lache, alles wird gut, alles wird schön, wenn dir die Sonne für eine Viertelstunde nicht scheint, dann lache und alles wird wieder hell, bunt und schön. Tatsächlich wird er mit einem Male so heiter, wie er es vor seinem Begräbnis nicht werden konnte. Motivation. Motivation. „Tschakka !“ Alsbald betrachtet er das lebendig begraben Sein als Herausforderung, als Lebensaufgabe. Er schmiedet Pläne, wie er seinen Überlebenskampf gestalten wird, wie er seinen Hunger und seinen Durst überwinden wird. Er wird richtig aufgeregt und ist voller Abenteuerlust. Ohne Zweifel gelingt es ihm auch, zumindest zeitweise Durstphasen zu überwinden, indem er in so heftiges Lachen ausbricht, daß ihm die Tränen kommen und er wenigstens diese Feuchtigkeit zu sich nehmen kann. Denn eines ist ihm mit Sicherheit sehr deutlich geworden, dass der Sarg von solcher Qualität ist, dass Feuchtigkeit kaum in den Raum einzudringen vermag. Er ist gänzlich auf seine eigenen Körpersäfte angewiesen. „Tschakka !“
Durch diese durchaus bewundernswerte Lebenshaltung schaffte er es, ich bin mir sehr sicher, mindestens fünf Tage länger zu leben als der Durchschnittsmensch, dem, nachdem er begriffen hat, in welcher hoffnungslosen Situation er sich befindet, die totale Hilflosigkeit und schließlich nur noch Panik und Entsetzen überkommt, so dass er schierweg besinnungslos, ohne irgend ein vernunftgeführtes Ziel zu haben, dem Wahnsinn verfallen, um sich schlägt und die vielen qualvollen Stunden in totaler Einsamkeit und Hoffnungslosigkeit, bis er endlich stirbt, mit nichts anderem als Bewegungen und Versuchen verbringt, aus dem Sarg herauszukommen, die allerdings alle völlig sinnlos sind.
Bei meinem Freund wird noch lange Zeit die Vernunft gewaltet haben und mit dem optimistischen Blick und einem Unternehmergeist wird er versucht haben, seine Situation nur irgendwie zu meistern und sogar zu verbessern. Aber wie viel heftiger fiel wohl sein Leiden aus, als ihm schließlich alle Hoffnungen geraubt worden waren, als er plötzlich ganz sicher bemerkte, daß der Hunger und der Durst so schmerzhaft sind, daß es hier kein Abenteuer zu bestehen gab, daß er den qualvollsten Tod in Einsamkeit sterben mußte, den sich der Mensch vorstellen kann. Er musste mit einem Male erkennen, dass sein Optimismus in dieser Situation gänzlich versagt und er genauso ausgeliefert ist, wie jeder andere Mensch auch. Das lebendige Begraben ist der furchtbarste Tod, den sich der Mensch vorstellen kann, ich bin mir hundertprozentig sicher und mein Freund, der Optimist, hat noch viel größere Leiden erleben müssen. Das totale Versagen seiner optimistischen Existenz.
Nun werde ich Ihnen, verehrter Leser, noch erzählen, wie die Staatsanwaltschaft zu dem Verdacht gelangt war, dass mein Freund auf so leidvolle Weise dahingeschieden war. Dieser Freund war mein Kommilitone gewesen. Und, Sie werden es wohl schon erraten haben, wir hatten auch beide Medizin studiert. Seit dem ich ihn zum ersten Male kennengelernt hatte, war mir stets sein großer optimistischer Drang aufgefallen. Auch unsere anderen Bekannten und Freunde hatten sich gerne über dieses strahlende Gesicht lustig gemacht, das niemals auch nur den Hauch irgendeiner Enttäuschung oder Frustration erkennen lassen hatte. Immer hatte der Optimist gelächelt, immer war der Optimist nur fröhlich, immer war der Optimist nur gut, immer war der Optimist so ausgeglichen, niemals war der Optimist boshaft gewesen, niemals hatte der Optimist jemandem etwas zu Leide getan, immer war der Optimist der liebe und brave Studienkollege gewesen und selbst wenn das Schlimmste über ihn hereingebrochen war, hatte er gewusst, die sorgenvollen Bemerkungen der anderen zu besänftigen.
Das Verrückte war jedoch gewesen, dass er auch immer mit Hilfe seiner optimistischen Ansichten fast bis zuletzt ein Sieger geblieben war. Ich, der doch sein guter Freund gewesen war und alles mit ihm geteilt hatte, hatte dennoch unvorstellbare Wellen von Neid und Wut und tiefstem Zorn verspürt. Warum auch hatte ich mich so sehr plagen und mühen müssen, alle Täler der Frustration und Depression durchschreiten und immer in allem schlechter stehen müssen als er, in den Benotungen, der Anzahl der Freunde, dem Wohlstand, was es auch immer gewesen war. Er war so leicht durch das Leben geschritten, hatte nichts Böses gekannt und war immer bester Laune, bester Motivation gewesen. Mit unnachahmlicher geschnörkelter, reiner Schrift hatte er seine Klausuren geschrieben, ich hatte das immer beobachten müssen, und statt i-Pünktchen hatte er kleine bunte Herzchen gemalt. Jeder Vergleich mit seiner Person war für mich stets ein vernichtender Schlag gewesen. Ich hatte mich immer abgerackert und gequält. Er, er war so leicht und locker durch die blühenden Landschaften geschritten, durch seine blühenden Landschaften. Es ist nicht mit Worten zu beschreiben, wie mich dieser entsetzliche, unerträgliche und rosafarbene Optimismus anwidert. Und dann, zuletzt, hatte er mir angeboten, als er meine Leiden gesehen, als er mein Entsetzen über seinen ekeligen Lebensmut bemerkt hatte, mir zu helfen, mir zu Dienste zu sein! Womit hatte ich ein solches Anerbieten nur verdient? Was hatte ich nur getan, daß er mich so sehr demütigen musste?
Aber dieses Mal wird meinem Freund, der Optimist, endlich sein Optimismus vergangen sein, für alle Zeiten. Wie mich diese Vorstellung befriedigt, ist wohl kaum in Worte zu fassen. Ja, ich war es, der ihm sein Bewusstsein nahm, ja, ich habe auch den Totenschein ausgefüllt, ja, ich war es, der ihn lebendig begraben ließ, alles hatte ich geschickt eingefädelt.
Allerdings, so ist wohl der Mensch, empfand ich auch lange Zeit das dringende Bedürfnis, meine Freude über das Leid meines besten Freundes kundzutun. Ich wollte die Ursache meiner Freude, die ich zum ersten Male in meinem Leben auf so heftige Weise verspürte, in alle Welt hinausposaunen. Jeder sollte erfahren, warum ich so fröhlich war. Doch konnte ich aber auch lange Zeit einen Ausbruch verhindern, das Geheimnis in mir verschließen, über vier Jahre lang, niemand sollte über meine Tat Verdacht schöpfen. Lediglich nähere Bekannte munkelten über mein fröhliches Betragen, weil es zum ersten Male mit dem Begräbnis meines besten Freundes an das Tageslicht trat.
Doch dann, dann wurde ich im Augenblick einer trunkenen Geschwätzigkeit zu nachlässig. Ich empfinde noch heute tiefe Verzweiflung über mein dummes Betragen. Nur weil ich vielleicht ein Glas Wein zu viel getrunken hatte, erzählte ich in gänzlicher Begeisterung vor dem versammelten Freundeskreis, indem ich mich auf den Tisch stellte und feierlich ein Glas erhob, wie glücklich ich sei, wie sehr mich dieses Glück ausfüllen würde, wie sehr ich die Vorstellung genießen konnte, dass mein bester Freund mit seinem Optimismus im Grab lebendig verschimmelt sei.
Kurzerhand wurde ich dann in Gewahrsam genommen. Ich bemerkte plötzlich meinen faut pas. Tiefe Bestürzung brach über mich herein. Was hatte ich nur getan? Warum hatte ich mich verraten müssen? Ich hatte mein Glück verspielt. Das Glück, das nur etwas über vier Jahre angehalten hatte, war perdu.
Doch letztlich bleibt mir doch noch eine Erleichterung. Ich werde sicherlich nicht lebendig begraben werden. Zwar werde ich lange Zeit in den Zellen unserer Gefängnisse verbringen müssen, aber das lebendige Begraben wird mein Ende nicht sein. Dazu habe ich mir ein Mittelchen besorgt, dass mir ausreichende Sicherheit gewähren sollte und welches ich stets mit mir führe. Aber wenn ich dieses Mittelchen verlieren sollte? Jemand stiehlt es mir? Nimmt es mir einfach weg? Oder... was könnte noch alles passieren? Ich werde noch ganz verrückt von diesem Gedanken!