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Der Oberst und das Mädchen
Der Oberst und das Mädchen waren in seinem Wohnwagen. Sie las in einem Buch für Grundschüler. Es handelte sich um ein Buch über die Grundbegriffe der deutschen Sprache. Simple Grammatik. Die Woche vorher war Mathematik dran gewesen. Gewiss, diese Bücher passten gar nicht zu ihren 14 Jahren, dennoch hatte sie einige Probleme mit dem Verstehen. Der Oberst musste dem Mädchen ab und an helfen, die Inhalte zu erfassen.
Das Mädchen war spärlich bekleidet. Passend für ihren Job. Sie hatte die Aufgabe, Männer zu erfreuen, die bezahlten. Ein übliches Beispiel für den gesellschaftlichen Verfall nach den großen Ölkriegen im Jahre 2055.
Narben und ein paar Tattoos prangten auf den massiven Armen des Oberst. Er hatte in den Ölkriegen gekämpft – direkt an der Front –, war das Töten aber leid geworden.
»Kann ich aufhören?«, fragte das Mädchen.
»Ich habe für eine Stunde bezahlt, also gibst du mir die volle Stunde«, sprach der Oberst patriarchisch.
Sie seufzte und steckte ihre Nase wieder in das Buch. Ein Buch mit großen Buchstaben, wie es für Kinder geeignet war. Doch das Mädchen fand es mitnichten einfach.
Oberst und Mädchen hatten sich vor einigen Monaten gefunden. Daran konnte er sich genau erinnern. Er hatte nach Sex gesucht, mehr hatte er nicht gewollt. Als er mit seinem Wagen hin- und hergefahren war, hatte er sie entdeckt, das Mädchen. Nachdem sie eingestiegen war, hatte er bemerkt, wie jung sie doch war. Zunächst hatte sie ihm gesagt, sie sei 20, doch durch seine Beharrlichkeit hatte er schließlich herausgefunden, dass sie erst 14 war. Er hatte nicht gezögert, sondern sie gleich mitgenommen. Doch um Sex war es ihm dabei ganz und gar nicht mehr gegangen, sondern allein um eine gute Tat …
»Wie lang‘ noch?«, fragte das Mädchen. Sie war müde.
»Du bist mir noch eine halbe Stunde schuldig.«
Der Oberst buchte sie seit dem Tag des Kennenlernens jede Woche, sie hatte ihm vorzulesen, zu rechnen, zu schreiben und andere Dinge der Bildung zu tun. Dafür bezahlte er sie gut.
»Wofür mach‘ ich das überhaupt?«, fragte sie. »Ich seh‘ das gar nicht ein.«
»Du machst das, damit aus dir mal was Besseres wird«, sprach der Oberst.
»Was Besseres? Was soll das denn sein? Jemand wie ich hat doch sowieso eine Chance im Leben.«
Er sah ihr in die traurigen Augen. »Wieso?«
»Kaum noch jemand steigt auf, seit der Krieg war. Meine Eltern sind seit Ewigkeiten arbeitslos und ich will mir etwas leisten können!«
»Darum machst du mit fremden Männern rum?«
»Ja!« Sie stieß das mit unnatürlich starkem Trotz aus.
Der Oberst schüttelte den Kopf. »Armes Mädchen. Darum sitzt du auch hier und liest das, was ich dir zu lesen gebe, rechnest das, was ich dir zu rechnen gebe und schreibst das, was ich dir zum schreiben diktiere.«
Seufzen. »Sie verschwenden Ihre Zeit«, meinte sie, legte das Buch zur Seite und verschränkte die Arme.
»Das glaube ich nicht. Du solltest aber lernen, wie man seine Selbstzweifel ausmerzen kann, und vor allem, deine Energie effektiv zu nutzen.«
Abfälliges Schnauben von ihr.
»Etwas Respekt, bitte, ja? Ich möchte dir helfen.«
»Sagt das nicht jeder? Besonderen Spaß macht mir das nicht.«
Er verzog seine Lippen zu einem müden Lächeln. »Beim Helfen geht es nicht immer um Spaß. Genaugenommen ist es so in den seltensten Fällen. Einem Menschen zu helfen, ist meist eine Mühe für beide Parteien. Verstehst du, was ich sage?«
»Ich schätze schon«, sprach das Mädchen. »Aber ich will auch Spaß!«
»Du kannst mir aber nicht erzählen«, so der Oberst, »dass dir dein Leben bisher sonderlich viel Freude bereitet hat?!«
Das waren Worte, die sie zum Nachdenken brachten. »Spaß vielleicht nicht, aber ein gutes Taschengeld. Anders käme ich nicht zu so viel Geld. Und für den Spaß sorgt Stoff.«
»Meine Aufgabe ist es, dich davon loszukriegen, darum bezahle ich dir viel Geld, damit du mit mir Zeit verbringst. Jede Sekunde, die du bei mir verbringst, machst du keinen Unsinn und lernst dabei noch etwas. Ist das nicht gut?«
Sie schwieg.
»Ist es!«, antwortete der Oberst für sie.
Plötzlich sah er sich wieder vor seiner Truppe, im Krieg. Dort hatte er seine jungen Soldaten auch angespornt und geführt. Jetzt war es ein ähnliches Konstrukt, wenngleich es ihm nun doch schwerer erschien, dieses junge Ding zu überzeugen und zu erziehen.
»Weißt du«, sprach er zu ihr, »zu meiner Jugend haben noch die Eltern für die Erziehung gesorgt. Weitestgehend zumindest.«
»Meine Eltern kümmern sich doch einen Scheiß um mich. Ich kann machen, was ich will.«
»Vermisst du nicht die Liebe?«
»Doch, natürlich. Ich mein‘, wenn ich’s kennen würde …«
»Du armes Ding. Du tust mir echt leid.«
Das Mädchen schob das Buch auf dem kleinen Tisch weg von sich. So etwas wollte sie nicht hören. Es verletzte sie, weil es die Wahrheit aufzeigte; und auch, wie schlecht sie wirklich dran war.
Er klopfte ihr väterlich auf die Schulter und holte ihr ein Glas Wasser.
»Danke«, sagte sie.
»Verstehst du wenigstens, warum ich das mache, was ich mache? Und warum ich dir so viel Geld gebe?«
Mit einem Schluck schüttete sie sich das Wasser die Kehle herunter. Sie hustete und begann zu sprechen: »Ich weiß es nicht genau. Kann ich nicht sagen.«
»Ich wünsche mir, dass du es in der Zukunft verstehst. Ich investiere in deine Zukunft.«
»Aber warum denn? Was haben Sie mit mir zu schaffen?«
Er lehnte sich auf seiner schäbigen kleinen Couch zurück. »Sehr viel. Mehr, als du denkst.«
Was er da sagte, schien in ihren Augen absolut absurd. »Nein, haben Sie nicht!«
»Oh doch. Sind wir nicht alle Menschen? Haben wir nicht alle eine gewisse Verantwortung füreinander?«
Das Mädchen zuckte mit den Schultern. »Es kann Ihnen doch egal sein!«
»Die Betonung liegt eben auf diesem Kann. Es kann, ja, es muss aber nicht. Ich habe dennoch eine gewisse Verpflichtung für meine Mitmenschen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Wir sind nicht mal verwandt!«
»Spielt das eine Rolle?«, fragte er lachend.
»Ja!«, antwortete sie entschlossen und vorlaut.
Er schüttelte nun den seinen Kopf. »Nein, es spielt keine Rolle. Wenn ich einen Menschen in einer Notlage sehe, aus der er von selbst nicht herauszufinden vermag, muss ich als Mensch helfen.«
»Sind sie so ein Bibel-Fanatiker?«, erfragte sie mit reichlich abfälligem Ton.
»Was hat das Verhalten zwischen den Menschen mit der Bibel zu tun?«
Ihr war bewusst, dass er ihr intellektuell und im Bezug auf Lebenserfahrung weit überlegen war, darum überdachte sie genau, was sie formulierte. »Ähm, ist’s nicht untrennbar miteinander verbunden? Christliche Nächstenliebe oder wie das heißt?«
»Mädchen«, sprach er, »denkst du das wirklich? Ist es nicht eher ein Grundbedürfnis, jemandem helfen zu wollen, der in Not ist?«
»Ich weiß es nicht.«
»Bei mir ist es so. Ich sah dich …«
Sie hakte ein: »… und dachten, ich hätte Probleme, die ich selbst nicht lösen könnte?«
»Ich weiß, dass du Probleme hast, die du nicht lösen kannst. Darum habe ich dich mit nach Hause genommen und dir immer mehr beigebracht.«
Sie lachte. »Noch nie hat sich jemand darum gekümmert, ob ich Probleme habe oder etwas weiß. Es interessiert heutzutage niemanden. Man muss sehen, wo man bleibt!«
»Mich interessiert es. Das kannst du glauben oder nicht. Mir ist klar, dass ich nicht die ganze Welt retten kann, aber wenn ich dich vor dem Tod in der Gosse erretten kann, dann habe ich in meinem Leben mehr geleistet, als die meisten Menschen.«
Das Mädchen verstand nicht, was genau er meinte, aus welchem Grunde sie mit den Schultern zuckte. Gefolgt von einem »Keine Ahnung …«
»Dein junges Leben ist mehr wert, als du glaubst. Verschwende deine Jugend nicht. Ich möchte gar nicht wissen, wer und was schon auf dir gelegen und dich besudelt hat, oder was für Substanzen du dir schon gespritzt oder geschluckt hast. Dieser Gedanke ist mir zu unheimlich; und ich habe im Krieg eine Unmenge gesehen. Ich frage mich wirklich, was du dran erhaltenswert findest.«
»Geld«, kam es geschossen.
»Aber«, sagte der Oberst, »das kann doch nicht alles sein?«
»Warum nicht? Geld ist wichtig, und ich möchte mir etwas kaufen, wenn ich es will.«
»Deine Eltern hätten sich lieber dazu anschicken sollen, dich auf die Schule zu schicken. Stattdessen sitzt nun ein Mädchen vor mir, was für Geld gewisse Dienste anbietet und Drogen nimmt.«
Sie schaute hin und her. Dann trafen sich ihre Blicke wieder. »Es muss aber nicht Ihre Sorge sein.«
»Ist es aber. Und wird es sein. Ich sehe nicht zu, wie du dein Leben zerstörst. Was ich im Kriege erleben musste …«
»Nein«, warf sie ein, »erzählen Sie davon nicht wieder. Ich kann es nicht hören. Ich habe es satt. Das ganze Leben ist ein Krieg.«
Dem Oberst war es nicht klar, wie ein junges Mädchen so etwas sagen konnte. Es betrübte ihn. Er hatte gekämpft, war für Ideale eingestanden, die eben solche Dinge verhindern sollten. Entschlossen hatte er das Volk verteidigen wollen, doch war er nun daran gescheitert, das sah er an ihrem Beispiele auf drastische Weise.
»Hat es Ihnen die Sprache verschlagen?« Sie lächelte.
»Ich finde es nur traurig, aber trotzdem werde ich dich nicht aufgeben. Meine Seele habe ich im Kriege verloren, doch du wirst deine nicht verlieren. Wir testen dich.« Mit diesen Worten stand er auf und ging zu einem kleinen Schrank. Aus selbigem entnahm er eine kleine Schatulle und holte einen eingerollten Plastikbeutel hervor.
Das Mädchen schaute überrascht. »Wo haben Sie das denn her?« Sie kannte genau dieses Etwas, was er da ans Tageslicht gebracht hatte.
Er sprach: »Ich bin Oberst der Armee gewesen, da werde ich an so etwas wohl leicht rankommen, wenn du da rankommst. Nun, ich will das Folgende.«
Mit seiner Fingerfertigkeit entrollte er den Beutel und schüttete das Pulver auf den kleinen Tisch, auf welchem auch noch das Buch über Grundschulgrammatik lag.
»Sie wollen was?«, fragte sie interessiert.
»Du sollst dich entscheiden. Hier, ein für alle Mal. Keine Ausflüchte mehr, keine Ausreden. Einfach entscheiden. Eine verbindliche Entscheidung. Bist du damit einverstanden?«
Abwechselnd sah sie auf den Tisch, dann in die beinahe schon seelenlos gewordenen Augen des Oberst.
»Verbindliche Entscheidung?«
»Jawohl«, meinte er, »du wirst dich entscheiden. Und ich werde deine Entscheidung akzeptieren. Nimm dein Schicksal in die Hand. Entweder du entscheidest dich für die Drogen und somit für deinen Untergang, oder du entscheidest dich für das Buch, somit also für die Bildung und das Streben nach Glück.«
Das Mädchen sah im Dreieck hin und her. Oberst, Droge, Buch. Immer wieder alternierend hin und her, nur hin und her. Was sollte sie wählen? Was würde er erwarten? Eine knappe Minute, dann war die Entscheidung für sie getroffen.
Ende