Der Nix
Es war im Spätherbst. Die Bäume waren dabei, das letzte Laub abzuwerfen, die Stürme fegten einem den letzten Rest Sommerlaune aus dem Kopf und die Nächte waren empfindlich kalt geworden.
Die Sonne hing tief am Himmel tauchte alles in ein bezauberndes goldenes Licht, was es mir unmöglich machte, der Verlockung eines Spaziergangs längs des Flusses zu widerstehen. Ich genoß solche kleinen Ausflüge, sie gaben mir Energie, die ich gut gebrauchen konnte, schließlich war ich nicht mehr der Jüngste.
Es sah entzückend aus, wie die Sonnenstrahlen sich im unruhigen Wasser brachen. Ich war richtig in den Anblick verliebt, vertiefte mich darin und ließ mich faszinieren und so kam es, daß ich minutenlang gebannt die Wellen und Strudel betrachtet, bevor ich das Augenpaar bemerkte, das mich von eben jener Stelle im Wasser, die ich schon seit Minuten anstarrte, mißtrauisch beäugte. Ich zwinkerte zweimal, um die Illusion abzuschütteln. Das Augenpaar blinzelte zurück.
Als ich es schaffte, mich aus meiner Erstarrung zu lösen, war dort nichts mehr zu sehen als die hektischen Strudel und Wellen. Ich begann mich zu fragen, ob ich vielleicht langsam senil wurde. Ich konnte mir nichts vormachen: Dort im Wasser, mitten in der Strömung, hatte ich deutlich die Hälfte eines grünlichen Gesichtes gesehen: Breite Nase und flache Stirn, vorspringende Wangenknochen und ein ausgesprochen mißtrauisch dreinblickendes Paar schwarzer Augen, alles eingerahmt von einer algenartigen Masse verfilzter, grünlich-grauer Haare. Ich blieb noch einen Moment stehen und wartete, doch das Gesicht blieb verschwunden. Die Sonne verkroch sich hinter den Bäumen und mit leisem Bedauern machte ich mich auf den Heimweg.
Auch am folgenden Nachmittag schien die Sonne. Ich nahm Hut und Spazierstock und machte mich auf den Weg zum Fluß.
Gemütlich schlenderte ich am Ufer entlang, genoß die kühle Luft und den Sonnenschein. Auf einer Parkbank mit Blick auf den Fluß, nahe der Stelle, an der ich gestern die seltsame Gestalt gesehen hatte, nahm ich Platz. Leise rauschten die Bäume ringsum, von weitem hörte ich Krähen krächzen. Aufmerksam beobachtete ich die Wasseroberfläche, suchte den Fluß, soweit ich ihn überblicken konnte, nach irgendetwas Ungewöhnlichem ab. Mit der Zeit kam es mir vor, als blicke ich vom Deck eines Schiffes, das leicht in den Wellen schaukelte, aufs Wasser. Nachdem ich vielleicht eine Stunde gesessen hatte, fröstelte es mich. Ich wollte mich gerade erheben, als ich ihn sah. Er saß auf einem Felsbrocken, mitten im Fluß und starrte mich mit demselben mißtrauischen Gesichtsausdruck an, wie am Vortag. Die ganze Erscheinung war von graugrüner Farbe, vom algenartigen Haar bis hinunter zu den breiten nackten Füßen, ausgenommen die großen Augen, die von geradezu bestechendem Schwarz waren. Ich fragte mich, wie lange er da schon gesessen haben mochte und weshalb ich ihn nicht bereits früher entdeckt hatte. Er saß völlig reglos und seine Konturen schienen auf eigenartige Weise mit dem Felsen zu verschwimmen, so daß es leicht war, ihn zu übersehen.
Ich lehnte mich zurück und studierte eingehend das seltsame Wesen. Es war klein, nicht größer als 1,30m, hatte dünne Arme und Beine und einen runden Bauch. Sein Algenhaar reichte weit über die schmalen Schultern. Ich vermochte nicht zu sagen, ob es Kleidung war, die seinen stämmigen Körper bedeckte, oder Schlingpflanzen. Nach kurzem Überlegen hob ich eine Hand und winkte ihm zu. Es zeigte keine Reaktion, saß reglos da und starrte mich an. Als sich hinter mir ein Spaziergänger näherte, ließ die Gestalt sich kopfüber ins Wasser fallen und war verschwunden. Nachdem der Spaziergänger hinter mir vorbeigegangen war, ohne mir Beachtung zu schenken, wartete ich noch eine Weile, doch das Wesen kam nicht zurück. Dann stand ich auf und ging langsam nach Hause.
In den folgenden Wochen besuchte ich ihn jeden Tag. Ich saß auf meiner Bank, er auf seinem Felsen und wir betrachteten einander. Sein Mißtrauen schien allmählich einer gelassenen, nicht unfreundlichen Gleichgültigkeit zu weichen. Einmal schwamm er ganz in der Nähe des Ufers, so daß ich seine Gesichtszüge aus der Nähe betrachten konnte. Auf seine Weise war er fast hübsch und er bewegte sich im Wasser mit einer Anmut, die keinen Zweifel daran zuließ, daß dies sein Element war.
Allmählich hielt der Winter Einzug. Die Tage wurden immer kurzer, die Nachtfröste hatten eingesetzt, die Luft war kalt und roch nach Schnee. Ich nahm nun immer ein flaches Kissen mit, da ich fror, wenn ich so lange bewegungslos am Wasser saß.
Und dann saß er plötzlich auf meiner Bank. Er saß da, völlig bewegungslos und starrte auf seinen Fluß. Ich legte das Kissen auf die Bank und setzte mich neben ihn. Ich betrachtete ihn aus den Augenwinkeln und stellte fest, daß seine Haut nicht von Schuppen bedeckt war, wie ich vermutet hatte. Dafür entdeckte ich Schwimmhäute zwischen seinen Fingern und den langen Zehen. Auch aus dieser Nähe konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, ob sein Haar nicht doch aus Schlingpflanzen bestand. Ein kühler, nicht unangenehmer fischiger Geruch ging von ihm aus. Wir saßen den ganzen Nachmittag schweigend nebeneinander und betrachteten das Wasser. Als die Sonne hinter den Bäumen verschwunden war und die Dämmerung eingesetzt hatte, stand er auf und ging, ohne sich noch einmal umzudrehen, zum Flußufer hinunter. Langsam schritt er ins Wasser, immer weiter, bis er schließlich in den Wellen verschwunden war.
Ich erhob mich, um mich ebenfalls auf den Heimweg zu machen, als mein Blick auf die Stelle fiel, wo bis eben noch mein grüner Freund gesessen hatte. Dort lag ein Stein, oval, etwa so groß wie ein Hühnerei, vom Wasser glattgeschliffen und von bezaubernder dunkelgrüner Farbe. Ich steckte ihn in meine Manteltasche und hüte ihn seither wie einen kostbaren Schatz.
Den Nix habe ich nie wieder gesehen.
[Beitrag editiert von: raven am 02.02.2002 um 23:02]