der neunzehnte Februar
Ein altes Sprichwort besagte, dass es Zeit ist fort zu gehen, wenn du dich in der Stadt, in der du geboren bist, nicht mehr wohl fühlst. Ich fühlte mich nicht mehr wohl. Ganz und gar nicht. Ich hasste das kleine Dorf, in dem ich aufwuchs, schon seitdem ich denken konnte. Ich hasste die Tatsache, dass Jeder mich kannte und ich nichts tun konnte, ohne dass mich irgendjemand dabei beobachtete oder ich jemanden traf. Ich hasste es, dass nach jedem Fehler, den ich machte, man hinter vorgehaltener Hand über mich sprach. Ich hasste die stets hoch gelobte „Vertrautheit“, die auf dem Dorf herrschte. Ich sehnte mich nach der Großstadt. Nach der Anonymität. Ich wollte mein Leben frei leben können. Ich wollte keine Barrieren mehr in meinem Denken und Handeln haben, nur weil mir zehntausend Leute, die nur einen kleinen Teil in meine Leben spielten, sagten, was ich wie zu tun hatte. Ich sehnte mich danach, mir in einer anderen Stadt, ganz weit weg von hier, ein neues unabhängiges Leben aufzubauen. Ich wollte einfach mit einem Kaffee in der Hand durch die Fußgängerzone schlendern können, ohne die ganze Zeit über die Erwartungen die ich zu erfüllen hatte, denken zu müssen.
Manchmal wollte ich mich einfach bei Facebook abmelden, meine Handynummer ändern, Niemandem bescheid sagen, mich in irgendein Flugzeug setzen und dann wo auch immer es gelandet wäre, von vorne anfangen. Doch dafür hatte ich leider kein Geld. Und dann war da noch die Schule. Ein bisschen mehr als ein Jahr Oberstufe hatte ich noch vor mir. 411 Tage. 13,6 Monate. 58,8 Wochen. 9871 Stunden. 592293 Minuten.
Ich zählte jede einzelne davon. Ich hatte mir überlegt, dass ich an dem Tag der Abiturzeugnisausgabe direkt zum Flughafen fahren wollte und in einen Last-Minute-Flug einchecken werde.
Ich hielt die Tristes des Dorflebens einfach nicht mehr sehr viel länger aus. Wenn es mir früher schlecht gegangen war, hatte ich immer mit meinem Opa geredet. Mein Opa, der immer für mich da gewesen war. Am Mittwoch war er gestorben. Multiples Organversagen. Ich konnte mich nicht von ihm verabschieden. Meine Eltern hatten mir bis zuletzt nicht die ganze Wahrheit über die Ausmaße seiner Krankheit erzählt. So kaltherzig das auch klingen mochte, aber da mein Opa ein Hypochonder war und daher wegen beispielsweise Husten öfters mal eine Nacht im Krankenhaus verbrachte, hatte ich eigentlich auch bei diesem Mal nicht wirklich an eine ernsthafte Erkrankung gedacht. Für mich gehörte der Satz „Opa ist im Krankenhaus“ eigentlich bereits zur Realität.
Nun wurde er dieses Mal aufgrund einer Lungenentzündung, welche bei einem 86jährigen unsportlichen alten Mannes schon gefährlicher als bei einem Zwanzigjährigen war. Dennoch machte ich mir keine großartigen Gedanken. Da dies alles unter der Woche geschah und ich immer im Stress wegen der Schule war, besuchte ich ihn nicht. Ich hatte keine Zeit und ehrlich gesagt wollte ich mir auch nicht wirklich die zeitweilige Depression, in welche er immer in seinen Krankenhausphasen verfiel, antun.
Als ich am Mittwoch aus der Schule kam, war alles wie sonst auch. Das einzige was mir aufgefallen war, war, dass meine große Schwester ein verheultes Gesicht hatte. Aber auch dies kam mir nicht komisch vor, da sie öfters mal emotional überreagierte. Ich saß also auf dem Sofa vor dem Fernseher. erledigte meine Hausaufgaben und sah irgendeine doofe Realityshow, meine Schwester neben mir. Mit meiner Mutter hatte ich mich ganz normal über die Schule und eine anstehende Klausur unterhalten. Nach einer Weile sagte meine Schwester wie aus heiterem Himmel zu meiner Mutter: „Willst du es ihr nicht endlich mal sagen?“ Meine Mutter schaute mich an und holte grade Luft, um etwas zu sagen.
Ich stand ganz schnell auf und ging in mein Zimmer. Ich hatte gespürt, was sie mir hatte sagen wollen. Aus irgendeinem Grund hatte ich es tief in meinem Innern gefühlt, aber ich war meiner Mutter ausgewichen. Ich wollte die Worte nicht ausgesprochen hören. Wollte nicht hören, dass mein Opa tot war. Ich zog meine Laufschuhe an. Laufen half mir immer. Es lies mich die Welt und all ihre schrecklichen Geschehnisse aus einem anderen Blickwinkel betrachten. Grade als ich die Haustür erreicht hatte, dachte ich, ich wäre meiner Mutter erfolgreich aus dem Weg gegangen. Doch dann kam sie die Treppe runter, mittlerweile ebenfalls mit Tränen in den Augen.
Sie legte ihre beiden warmen Hände auf meine Schultern und sagte:“Also..“ Doch ich wollte es nicht hören. Ich hätte es nicht hören können. Die Worte hätten mich innerlich zerrissen. „Mama, sag es nicht. Bitte. Ich weiß es schon.“ Sie guckte nur durch ihre mit Tränen benetzten Pupillen in meine Augen. Auch meine Augen füllten sich mit Tränen. „Ist er.. Ist er.. Hat er etwas gespürt? Hatte er Schmerzen .., dabei?“ Meine Mutter schüttelte sachte ihren Kopf. „Nein, er ist friedlich eingeschlafen.“ „Ok.“ Ich flüchtete schnell durch die große dunkelbraune Haustür, welche mir in diesem Moment wie die Eingangstür in ein Krematorium vorgekommen war. Ich spürte, wie ich kurz davor war, laut zu beginnen zu weinen. Ich wollte aber nicht, wollte die Tränen nicht die Oberhand gewinnen lassen.
Also begann ich, zu laufen. Ich lief, lief, lief. Meine Augen fühlten sich nach 2 Kilometern wieder trocken an. Meine Beine trugen mich immer weiter. Ich lief, lief, lief. Meine Füße hoben sich mechanisch immer schneller vom Boden und betraten ihn wieder. Mein Körper war mechanisch. Ich war ein Roboter. Ich konnte nicht aufhören zu rennen. Ich wusste nicht, was ich tun sollte, wenn ich aufgehört hätte zu laufen. Ich wollte nicht weinen. Zumindest nicht vor anderen Leuten. Nicht vor meiner Familie. Das hatte ich seit 12 Jahren nicht getan. Ich wollte ihnen nicht zeigen, wie schwach ich war. Ich lief, lief, lief. Ich lief so schnell, wie ich noch nie gelaufen war. Normalerweise brauchte ich für fünf Kilometer eine gute halbe Stunde, heute schaffte ich zehn Kilometer in 29 Minuten und 34 Sekunden. Mein Körper war schneller als je zuvor. Ich wollte meine Sorgen und meine Trauer hinter mir lassen. Ich wollte nicht mit meiner Trauer, meiner Traurigkeit und vor allem nicht mit meiner Wut auf mich selbst konfrontiert werden. Das hätte ich zu diesem Zeitpunkt nicht ausgehalten. Ich war dankbar für meinen Lauf an diesem bedeutenden Tag im Februar. Es war das einzige, was mir an diesem Tag im Februar geholfen hatte. Ich lief 32,40 Kilometer. Ich fürchtete mich davor, nach hause zurückzukehren. Als ich schließlich wieder am Haus meiner Familie angekommen war, war die Dämmerung bereits eingetreten. Ich stand in sicherer Entfernung an der Straßenecke und betrachtete es. Mir kam es vor wie eine riesige unheilbeherbergende Festung. Wie eine der Burgen aus den Kinderfilmen, in denen die schöne Prinzessin gefangen gehalten wurde. Als ich mich dann schließlich dazu überwunden hatte, einzutreten, erstickte ich fast an der bedrückenden Stille, die im Innern des Hauses herrschte. Ich hörte keinen Laut. Normalerweise ging es im Haus meiner Familie immer drunter und drüber. Meine Brüder spielten im Wohnzimmer Fußball, meine Schwester hörte lautstark Musik, meine Eltern stritten sich. Normalerweise. Doch nicht heute. Die Stille des Hauses schrie. Sie war so unerträglich laut.
So leise wie möglich zog ich meine schlammigen Laufschuhe aus und stellte sie vor die Haustür. Ich wollte nicht, dass jemand merkt, dass ich zurückgekehrt bin. Ich hatte nicht die Kraft für ein Gespräch über den Tod und über Trauer und über Beerdigungen. Ich konnte nicht darüber reden. Es ging nicht. Ich ging in mein Zimmer. Ich hatte noch einen Haufen an Hausaufgaben bis morgen zu erledigen. Ich erledigte keine einzige Aufgabe. Sobald ich die Zimmertür hinter mir geschlossen hatte, sank ich hinter ihr auf den Boden. Ich tat es nicht bewusst, mein Körper tat es. Ich brach in Tränen aus. Hier, wo mich keiner sah, sprudelten die Tränen wie Fontänen aus einem Brunnen heraus. Ich saß auf dem kühlen Parkett meines Zimmers. Eine Stunde. Zwei Stunden. Drei Stunden. Manchmal war es so schlimm, dass ich von den Weinkrämpfen durchgeschüttelt wurde. Mein ganzer Körper zitterte. Damit keiner die Geräusche meines Weinens hörte, stellte ich meine Stereoanlage auf volle Lautstärke. Philipp Poisel ertönte aus den Lautsprechern. „Froh dabei zu sein“, sang er. Welch ein Zufall, dachte ich.
Um 19Uhr hörte ich ein Klicken an der Haustür. Mein Vater musste von der Arbeit nach hause gekommen sein. Es war sein Vater gewesen. Sein Vater war gestorben. Der Vater meines Vaters war einfach tot. Ich traute mich den restlichen Abend nicht aus meinem Zimmer heraus. Ich brachte es nicht übers Herz. Ich konnte nicht rauskommen. Ich hatte Angst, meinen Vater anzutreffen. Ich bin kein Mensch, der gut mit Trauer und solchen Angelegenheiten wie dem Tod gut umgehen kann. Ich hatte Angst, meinen Vater weinen zu sehen. Ich hatte ihn noch nie in den sechzehneinhalb Jahren weinen gesehen. Noch nie. Er schrie rum, er beschimpfte mich, ich hatte Streit mit ihm, aber nie weinte er. Nie. Nun würde er selbstverständlich weinen. Sein Vater war schließlich gestorben. Jedoch würde ich es nicht aushalten, meinen sonst immer so gefühlskalten Vater weinen zu sehen. Ich hatte Angst davor. Ich fürchtete mich so unbeschreiblich davor. Ich konnte diese Furcht gar nicht in Worte fassen.
Am nächsten Morgen saß ich vor der Schule am Küchentisch. Meine Mutter kam zu mir. Sie sagte, ich solle zu meinem Vater ins Arbeitszimmer gehen und ihn begrüßen. Er hatte mich seit Opas Tod noch nicht gesehen. Ich sagte ihr, dass ich das nicht tun kann. Sie fragte warum. Ich erklärte es ihr. Sie verließ die Küche wieder. Zwei Minuten später kam mein Vater in die Küche. Mit Tränen in den Augen. Ich schluckte. In zehn Minuten musste ich zum Bus. Mein Vater sagte kein Wort, er umarmte mich nur. Schlicht und einfach. Aber grade diese Einfachheit dieser Umarmung überwältigte mich so sehr, dass ich augenblicklich in Tränen ausbrach. Mein Vater hatte mich seit Jahren nicht mehr umarmt. Ich hatte mich nicht mehr an die Wärme seiner Umarmung erinnern können. Plötzlich spürte ich das Band der Liebe zwischen einem Vater und seiner Tochter. Doch dieser Vater und diese Tochter kamen mir fremd vor. Ich kannte sie nicht. Es war nicht mein Vater und ich war es nicht. Ich weinte. Mein Vater stand auf. Er ging. Ich erhob mich schnell vom klapprigen Küchenstuhl und ging ins Bad, um mir meine verschmierte Mascara abzuwischen. In der Schule sollte keiner sehen, dass es mir nicht gut ging. Ich wollte nicht den Eindruck erwecken, dass ich schwach war. Ich habe Schuldgefühle, weil ich nicht die ganzen fünf Tage, die Opa nun schon tot ist, geweint habe. Zwischendurch habe ich sogar gelacht, ich hatte auch Spaß. Der Spaß hatte sich falsch angefühlt, aber er war geschehen. Ich fühlte mich wie ein unsensibler Roboter, dem der Verlust von einem geliebten Menschen nichts auszumachen schien. Aber es machte mir etwas aus. Ich wollte weinen, aber ich schaffte es nicht. Es ging nicht. Mein Körper fühlte sich einfach nur leer an. In mir war nichts mehr. Keine Tränen, die meinen Körper hätten verlassen können. Es schien mir, als würde jedes Mitglied meiner Familie mir im Stillen Vorwürfe machen. Mir vorwerfen, ich würde meinen Opa nicht vermissen. Nicht in angemessenem Maße um ihn trauern. Doch die Wahrheit ist, ich glaube, dass ich ihn am allermeisten vermisse. Er war der wichtigste Mensch in meinem Leben. Er war wie ein Anker, der immer für mich da war. Das letzte mal, als ich ihn gesehen hatte, hatte er mir einen Kuss auf die Hand gegeben. Wenn ich jetzt daran denke, kommen mir jedes Mal die Tränen. Ich frage mich, ob er da vielleicht schon gewusst hatte, dass er nicht mehr lange leben würde. Spürt man, wenn das eigene Leben dem Ende zu geht? Gibt es ein Gefühl, dass einen fühlen lässt, dass man aus seiner restlichen, noch verbleibenden Lebenszeit das beste machen soll? Gibt es so etwas?
Ich hoffe, dass es dieses Gefühl gibt. Ich hoffe es so sehr.