Der Neue
Der Lärm der Schüler übertönte das Läuten zum Stundenbeginn. Anna kritzelte etwas in ihren Block.
„So meine Herrschaften: Hinsetzten bitte!“ Frau Maier schaffte es, trotz ihrer piepsigen Stimme die Meute zur Ruhe zu bringen: „Ich hoffe Sie alle haben Ihre Ferien genossen und sind nun bereit sich auf den Ernst des Lebens vorzubereiten, aber vorerst stellt sich Ihnen Ihr neuer Mitschüler vor.“
Anna blickte auf.
Der Neue hatte beide Hände in den Hosentaschen und wippte auf seinen Zehenspitzen: „Hallo, ich bin Sergej.“, sagte er und strich sich mit der Hand durch die dichten dunklen Haare.
„Setzen Sie sich am besten neben Frau Wirth.“ Die Lehrerin sah Anna über ihre Brille an und lächelte ihr zu.
Anna rollte mit den Augen und widmete sich wieder ihrem Block.
„Hat unsere Klassensprecherin uns vielleicht irgendetwas mitzuteilen?“ Frau Maier schien verärgert über das Desinteresse ihrer besten Schülerin.
„Nein.“, sagte diese knapp, schlug den Ringblock zu und fixierte die Tafel hinter dem brillierten Dompteur. Der Unterricht konnte beginnen.
Die erste Stunde bestand aus unzähligen Belehrungen und Berieselungen, die die Schüler widerstandslos über sich ergehen ließen. Wahrscheinlich traute man ihnen nach so langer Schulabstinenz noch keine komplexeren Aufgaben zu. Weshalb es nach der Pause auch direkt mit Musik weiterging. Ebenfalls bei Frau Maier.
Anna hasste singen. Musik hörte sie zwar schon gerne, aber die eigene Stimme zu hören, empfand sie als grausam und peinlich. Es reichte ihr schon immer zu Heilig Abend, wenn ihre Großeltern darauf bestanden, dass die gesamte Familie zur Kirche ging. Eine zarte, aber feste Männerstimme riss sie aus ihren Gedanken.
Sie sah zu ihrem Banknachbar, der „Yesterday“ mit gefühlvoller Stimme wiedergab. Er schien die Worte und Töne mit voller Hingabe aus seinem Mund zu formen. Anna war so erstaunt, dass dieser große, doch eher maskuline Bursche so eine weiche Stimme hatte.
Ein Klopfen beendete jäh den Singsang.
„Anruf für Frau Maier.“, ließ die Sekretärin verlauten. Das bedeutete erstmal ein paar Minuten Freizeit.
„Sie bleiben bitte alle ruhig hier im Raum, bis ich wiederkomme. Das ist keine Raucherpause.“, warnte sie mit erhobenem Zeigefinger.
Kaum war die Tür zu, wuselte die ganze Klasse wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen durcheinander. Nur Anna und Sergej blieben sitzen.
„Willst du nicht woanders hingehen, solange sie weg ist?“, fragte das Mädchen und schlug seinen Block wieder auf.
Sergej schüttelte den Kopf: „Wo soll ich denn hin?“
„Keine Ahnung. Zu Marko und den restlichen Jungs.“ , sie deutete auf die hinterste Bank, bei der sich eine Gruppe junger Männer tummelte. Marko wedelte mit einer Zigarette in der Hand: „So, dann wollen wir mal Eine rauchen gehen.“, und schritt mit gehobener Brust voran.
„Ich mag keine Proleten.“, erwiderte Sergej und richtete seinen Blick nach vorne. Dort saßen noch zwei weitere Jungs, die mit Yo-Gi-Oh Karten spielten. Zu denen wollte er auch nicht.
Anna stand auf und seufzte.
Da kam Marko an ihren Tisch stolziert: „Macht dich der Iwan blöd an?“ Provozierend beugte er sich hinüber, die Hände aufgestemmt.
„Ich heiße Sergej.“, korrigierte der junge Russe ihn.
„Ist mir egal, wie du heißt. Du hast hier nix zu melden. Abi machst du sowieso nicht und an deiner Stelle würde ich auch die Finger von den deutschen Mädels hier lassen.“
„Marko, hör bitte auf.“, Anna befürchtete, dass die Situation eskalieren würde.
„Stehst du auf den Russen, oder was?“, Marko schubste sie, sodass das Mädchen gegen die Wand prallte.
„Aua, spinnst du?“
In diesem Moment sprang Sergej auf und verpasste dem Unruhestifter einen linken Haken.
Als Marko zu Boden sank, trat Frau Maier wieder zur Tür herein. Ihr Gesicht verfärbte sich tiefrot: „Herr Schewtschenko, sofort mitkommen zum Direktor!“
Sergej hob beide Arme in die Luft: „ Aber er hat Anna gegen die Wand gestoßen.“
Anna sah Frau Maier an und blickte dann betreten zu Boden: „Herr Weiher wollte mich vor Herrn Schewtschenko beschützen.“
Sergej stand der Mund offen: „Das stimmt nicht.“
„Mitkommen!“, Frau Maiers Ton ließ keinen weiteren Widerstand zu und Sergej folgte ihr- wortlos und verwirrt.