Der Neue
Der Neue ging allen auf die Nerven. Obwohl er erst seit wenigen Stunden da war, hatte er sich wunderbar eingelebt und alle begrüßt. Ausführlich. Im Moment befand er sich auf seinem dritten Rundgang der Bekanntmachung. Jeder ging ihm wenn möglich aus dem Weg, um nicht als nächster Gesprächspartner herhalten zu müssen. Dies war schließlich eine ausgewiesene und staatlich geprüfte Nervenheilanstalt. Hier ließ man sich manchmal mehr manchmal weniger freiwillig einweisen, damit man sich seelisch erholen und Psychosen auskurieren konnte, nicht um sich noch mehr davon zuzulegen.
„Du, Matschbirne,“ flüsterte Mad Tony seinem Kumpel zu, während sie den Neuen misstrauisch beäugten. „Wenn der Kerl hier rüberkommt und noch mal anfängt mich vollzulabern, schlag ich ihm die Rübe ein.“
„Mann Tony,“ entgegnete der schmächtige kleine Mann. „Wie oft hab ich dir schon gesagt, dass du nicht alles mit Gewalt lösen kannst? Und überhaupt dürften dir dabei deine Hand- und Fußfesseln im Weg sein.“
Mad Tony zog vorsichtig an den Ketten, mit denen er an den Rollstuhl befestigt war. „Hast recht, die haben sich nicht gelockert. Die Rangelei mit den Wärtern hat nur Ärger gebracht.“
Im Augenblick tänzelte der Neue um den feisten Georg herum, der wegen chronischer Magersucht einsaß. Dessen gequälten Blick konnte man entnehmen, dass er jetzt sogar lieber in der Elektroschocktherapie gewesen wäre. Plötzlich fing Georg an zu würgen, ein eindeutiger Hinweis darauf, dass er das einseitige Gespräch beenden wollte. Bedacht auf die hohen Kosten einer Hosenreinigung entfernte sich der Nervtöter von ihm und drehte sich mit suchendem Blick im Kreis.
Und seine Wahl fiel auf Mad Tony. In seiner militärisch angehauchten Gangart schritt er auf ihn zu. Dieser blickte sich nach seinem Kumpanen um, der sich allerdings längst abgesetzt und Tony auf dem Präsentierteller zurückgelassen hatte.
„Haben wir uns schon bekannt gemacht?“, fragte der Neue elangeladen.
„Ja,“ wimmerte der Angekettete.
„Mad Tony, richtig?“
„Richtig.“
„Nun, Tony,“ Der Neue holte tief Luft. „Hast du dir in letzter Zeit Gedanken über die heutige Finanzlage des Durchschnittsbürgers gemacht?“
Der Neue war klug, er setzte eine Fangfrage ein, um Tony keine Chance zu geben, sich aus der Diskussion herauszuwinden. Um fliehen zu können hätte er sowieso der große Houdini sein müssen. Tapfer beschloss er, es wie ein Mann zu ertragen und antwortet mit fragendem Ton: „Nein?“
„Das ist ja optimal. Weißt du was, mein Freund?“
„Erstens nein und zweitens sind wir keine Freunde,“ erwiderte Tony mit schwacher Stimme.
„Na das liegt doch klar auf der Hand: Ich werde dich aufklären. Toll, nicht?“
Tony rüttelte ein weiteres Mal an seinen Fesseln. Zwecklos.
„Wo soll ich anfangen?“
„Willst du mir nicht erst mal eine Valium holen?“
Gekonnt ignorierte der Neue Tonys Bitte und sprudelte los: „Ich hab es: Immobilien! Immobilien sind ja, wie du wissen müsstest, in letzter Zeit als Kapitalanlage vor Aktien und Wertbriefe gerutscht. Kannst du dir denken, woher das rührt?“
„Ist mir egal.“
„Genau, von den gestiegenen Grundstückspreisen. Darf ich dich etwas fragen?“
„Nein.“
„Besitzt du leere Grundstücke oder womöglich sogar bebaute? Wenn ja, könntest du sie auch auf befristete Zeit vermieten, so schlägst du zwei Fliegen mit einer Klappe: Du verdienst etwas und der Grundstückspreis steigt währenddessen immer weiter. Fantastisch, oder?“
„Wir sind im Irrenhaus, da interessiert sich keiner für Immobilien und Geldanlagen. Keine Sau. Unsere gesamte Zeit verwenden wir darauf, unseren psychischen Krankheiten zu frönen oder im Medikamentenrausch in einer Ecke zu liegen.“
„Nanana“, tadelte der Neue Tony. „So einfach ist das aber nicht. Wenn du eines herrlichen Tages diese Gebäude als freier Mann verlässt, worauf willst du deine Existenz stützen? Du kannst nicht nur von der Sozialhilfe leben und in einer verschimmelten Wohnung dahinvegetieren. Moderne Marktwirtschaft heißt das Zauberwort. Du musst mit der Zeit gehen, alle Faktoren beachten, richtig kalkulieren, planen. Stell dir mal vor du würdest morgen deine Erlaubnis bekommen, einen Versuch wagen zu dürfen, dich wieder in die Gesellschaft einzugliedern, Kumpel.“
In der bedeutungsschwangeren rhetorischen Pause, die der Neue einlegte warf Tony schnell ein „Ich hasse dich“ ein, das jedoch wieder beflissentlich übergangen wurde.
„Stell dir vor, du stündest vor dem riesigen Tor und niemand käme dich abholen. Doch du besitzt nicht einmal das Kleingeld, um dir ein Taxi zu rufen.“
„Ich habe Beine und ich sitze nur in einem Rollstuhl, damit ich nicht ausreißen kann. Und das ist im Moment besonders tragisch, da ich dein Gesülze langsam nicht mehr ertrage.“
„Du stündest dort und wüsstest nicht weiter. Du wärest verloren in einer gigantischen Welt. Genau deswegen ist es wichtig, deine Finanzen im Griff zu haben. Jetzt. Wo sind deine Finanzen?“
„In meiner linken Hosentasche, eine Schachtel Zigaretten und fünf Euro.“
„Gib mir mal das Geld und ich zeige dir, wie man sich damit seine Zukunft versüßen kann.“
„Du hast ja wohl das größte Rad von uns allen ab.“
Der Neue schob seine Hand in Tonys Hosentasche und fummelte den zerknitterten und leicht eingerissenen Fünfer heraus.
„So und jetzt pass auf.“
Mit vielsagender Miene holte er sich ein herumliegendes Telefonbuch, das bis zu diesem Zeitpunkt für alles verwendet worden war, nur nie zum finden von Telefonnummern und blätterte darin herum.
„Ah, da ist sie, die Nummer, die dich in die Welt der High Society führen wird.“ Er deutete mit einem Finger auf eine Stelle, die Tony von seiner Position nicht erblicken konnte. „Gebrüder Heise, Finanzberatung und Steuererklärungshilfe. Die Besten hier in der Stadt. Sie haben es geschafft, dass ich mein Auto ein halbes Prozent billiger erwerben konnte. Ein halbes Prozent! Kannst du dir eine Ersparnis dieses Ausmaßes überhaupt vorstellen?“
„Du kannst wohl jetzt noch von dem übrigen Geld leben?“, fragte Tony sarkastisch.
Auf der Suche nach einem funktionierenden Telefon schweiften die Augen des Neuen durch den Raum.
„Gebt mir ein Telefon, diesem Mann hier muss geholfen werden,“ rief er den anderen Insassen zu. Die einzige Reaktion war, dass jemand ihm ein Plastikhandy an den Kopf warf, mit dem man durch das Drücken jeder Taste Batman erreichen konnte.
Allmählich wurde Mad Tony die Situation zu bunt. Er hatte schließlich einen guten Ruf zu verlieren, der ihn als krankhaften Choleriker auswies. Mit donnernder Stimme wandte er sich an die Wächter: „Hey, Weißkittel! Der Typ hier will sich wegen eurer rüden Erziehungsmethoden beim Vorstand beschweren.“
Den Bruchteil einer Sekunde später wurde der Neue, der immer noch verzweifelt versuchte, sich von Batman zu den Finanzberatern verbinden zu lassen, an Armen und Beinen gepackt. Dicke Finger schlossen sich eisern um seine Gelenke und riesige Muskelpakete mit grimmigen Gesichtern zerrten ihn in Richtung Einzelzelle.
Ein einziger gellender Schrei drang durch den langen Gang zurück in den Gesellschaftsraum, blieb kurz darin stehen und wurde sofort wieder vergessen: „Lasst mich sofort los, ich bin nur zu Besuch hier!“