Der neue Job der Sekretärin
Nelli öffnet die Augen. Sie hat unruhig geschlafen und ist erst in den frühen Morgenstunden in einen tiefen Schlaf gefallen. Für einen kurzen Moment lang muss sie überlegen, was der Grund für dieses überwältigend ungute Gefühl ist, das sie sofort nach dem Erwachen vereinnahmt und das wie ein gewaltiger Felsbrocken auf die Magengegend drückt. Dann ordnen sich ihre Gedanken recht schnell. Oje, das ist es ... heute ist ihr erster Arbeitstag!
„Na komm schon, du alte Memme.“ sagt sie leise zu sich selbst. „Mach dir nicht gleich ins Hemd. Es ist nichts weiter als ein neuer Job. Du stellst dich ja an, als ob du heute zu deiner eigenen Hinrichtung geführt wirst.“ Mit solchen Äußerungen versucht Nelli ihre Überängstlichkeit in den Griff zu bekommen, was ihr allerdings selten gelingt.
Seit Nelli denken kann, ist das Gefühl der Angst ihr ständiger Begleiter. Im Kindergarten, als sie ein Lied vortragen sollte, zitterte ihr vor Aufregung derart die Stimme, dass sie über die ersten drei Liedzeilen nicht hinauskam und weinend abbrechen musste. Dabei verfügt sie über eine helle und klare Stimme. In der Schule, wenn die Lehrerin sie aufrief, um die Antwort auf eine Kopfrechenaufgabe zu geben, brachte sie kein Wort heraus. Dabei wusste sie die Antwort sofort. Auf dem Spielplatz, wenn die anderen Kinder sie aufforderten, doch auch einmal auf das Klettergerüst zu steigen oder auf dem Kindergeburtstag des netten Nachbarmädchens, wenn sie als die „blinde Kuh“ die anderen Jungs und Mädchen finden sollte, verzog Nelli sich stets mit rotem, gesenktem Kopf in eine Ecke und murmelte irgendeine Entschuldigung, in der Hoffnung möglichst schnell in Ruhe gelassen zu werden. Nelli hat ständig Angst davor, im Mittelpunkt zu stehen, etwas falsch zu machen, zu versagen.
Der Wecker auf dem Nachttisch zeigt 6:10 Uhr. Eigentlich viel zu früh, um aufzustehen, denn an ihrem neuen Arbeitsplatz erwartet man sie heute erst ab 09:00 Uhr. Doch um noch weiter liegen zu bleiben, dafür hat sie einfach keine Ruhe mehr. Nelli steht also auf, duscht sich, zieht das bereits am Vorabend sorgfältig heraus gelegte und nochmals frisch gebügelte hellgraue Kostüm an und legt heute mit besonderer Sorgfalt aber auch mit großer Unsicherheit Make-up auf. Ist das auch nicht zuviel von dem grünen Lidschatten? Und der Lippenstift, ist der Farbton nicht vielleicht doch zu kräftig? Zunächst angetrieben von dem Wunsch heute einen Auftritt als erstklassig gestylte und somit selbstsichere Frau bei ihrem neuen Arbeitgeber hinzulegen, siegt schließlich die Vorstellung, es könne ihr die Wimperntusche verlaufen, der Lippenstift die Zähne verschmieren oder das Make-up den weißen Blusenkragen verfärben und so reibt sich Nelli das ganze Zeug wieder aus dem Gesicht. Sicher würde auch Herr Menta, ihr neuer Chef, eine dezente, wenig auffälligere Erscheinung bevorzugen.
Nachdem Nelli eine halbe Stunde in ihrem Auto nervös wartend in einer Seitenstraße verbracht hat, da sie natürlich viel zu früh losgefahren war, steht sie nun pünktlich auf um 9:00 Uhr in der imposanten Eingangshalle von Synta Enterprises und meldet sich bei der Empfangsdame mit leicht belegter Stimme an. Freundlich wird Nelli auf das Besuchersofa verwiesen: „Nehmen Sie bitte noch eine Moment Platz, Frau Pernel, es holt sie gleich jemand ab und bringt sie in die Neunzehnte zu Herrn Menta.“
„Herr Menta? Dürfen wir eintreten? Frau Pernel wäre dann jetzt da!“ Mit diesen Worten wird Nelli in ein riesiges, fast kreisrundes Büro gebeten und versinkt augenblicklich mit ihren Absätzen in einem zentimeterdicken dunkelgrünen Teppich, der mit einer zu Ornamenten geschwungen Goldkordel umfasst ist. Durch eine halbkreisförmige Glasfront, die die Rückwand des Raumes bildet, bietet sich ein atemberaubender Blick hinunter auf die Stadt. Als einziges Möbelstück protzt in der Mitte des Büros ein wuchtiger, geschwungener Mahagonischreibtisch, von dem aus sich Herr Menta zur Begrüßung ein wenig schwerfällig erhebt.
„Na, das wurde jetzt aber auch Zeit! Ich dachte schon Sie kommen gar nicht mehr!“. Nelli schießt augenblicklich die tiefdunkle Röte ins Gesicht. Wieso? War sie denn zu spät? Man hatte ihr doch 09:00 Uhr gesagt! Nicht früher. Vor 09:00 Uhr wäre Herr Menta sowieso noch nicht im Haus. So etwas Peinliches! Gleich zu Beginn. Was sollte sie denn jetzt sagen? Gerade als Nelli ansetzen will, die Situation zu erklären, fährt Herr Menta fort: „Viel länger hätte ich es auch nicht mehr ausgehalten. Drei Monate ist es nun her, dass eine tüchtige Sekretärin für mich arbeitete. Schön, dass Sie endlich da sind!“ Nelli fällt ein Stein vom Herzen. Gott sei Dank, doch nichts falsch gemacht. Nur ein anfängliches Missverständnis! Mit einiger Mühe versucht sie sich wieder zu sammeln: „Ich auch, äh.... ich meine, ich freue mich auch, hier zu sein und für Synta Enterprises und für Sie arbeiten zu dürfen.“ Ihren Begrüßungssatz hatte Nelli sich schon Tage zuvor zurechtgelegt, nun fiel ihr aber kein einziges Wort mehr davon ein und aus ihrem geplanten, selbstsicheren Auftritt wurde ein peinliches, unsicheres Gestammel. Herr Menta setzt ein schiefes nachsichtiges Lächeln auf, bewegt seinen mächtigen Körper um den Schreibtisch herum auf Nelli zu und legt ihr seinen Arm um Schulter. „So Frau Pernel, dann wollen wir mal. Ich zeige Ihnen dann erst einmal Ihren neuen Arbeitsplatz.“ Nelli zuckt bei der Berührung zusammen, denn sie fühlt sich in dieser wenig distanzierten Situation sehr unwohl. „Bleib jetzt einfach cool“ denkt sie sich. „Du willst doch nicht wie eine prüde Landpomeranze erscheinen“. Nelli atmet tief durch und versucht sich zu entspannen.
Nach einem minutenlangen verwirrenden Gang durch unzählige, verwinkelte Flure und Zwischenräume führt ihr neuer Chef sie endlich durch eine sich automatisch öffnende Milchglastür in ein großes, rechteckiges Zimmer ohne Fenster, das er ihr als ihren neuen Wirkungsort vorstellt. Quer an den Deckenkanten entlang zieht sich jeweils eine einzelne, grell leuchtende Neonröhre. An den weißen kahlen Wänden stehen vereinzelt hellgraue Aktenschränke und ein Waschbecken mit einem darüber angebrachten Spiegel ist zu sehen. U-förmig erstreckt sich in der hinteren Büroecke ein Schreibtisch, der mit Bergen von Papierstapeln und Akten übersäht ist. Nelli ist irritiert. Hier soll sie arbeiten? Kilometerweit entfernt von dem Büro ihres Vorgesetzen? Wie sollte denn das funktionieren? Allein den Weg zurück zu Herrn Mentas Büro würde sie nie wieder alleine finden. Na ja, irgendwie wird sich das schon klären.
„Mein liebes Fräulein Pernel, da wären wir. Hier dürfen Sie sich die nächste Zeit erst einmal austoben. Ich finde es ist wichtig, dass Sie sich, bevor sie zu meiner Sekretärin und damit zu meiner rechten Hand werden, so richtig in die Materie einarbeiten. Hier sollen Sie kennen lernen, womit die Synta Enterprises ihre Millionen verdient.“ Herr Menta gibt ein tiefes kurzes Lachen von sich. Nelli findet ihren neuen Chef zunehmend unsympathischer, ja geradezu abstoßend und widerlich. „Gut“ erwidert sie sich bemühend, munter und optimistisch zu klingen. „Und was kann ich hier genau tun?“ Herr Menta setzt erneut sein widerlich schiefes Grinsen auf. „Ganz einfach. Beginnen Sie am Besten erst einmal damit, die Ablage dort drüben auf dem Schreitisch zu beseitigen. Die entsprechenden Aktenordner finden Sie in den Schränken. Glauben Sie mir, wenn Sie damit durch sind, werden Sie eine ganze Menge, wenn nicht sogar alles über die Synta Enterprises wissen. Sind Sie mit dieser Vorgehensweise einverstanden?“ Als ob Nelli jemals einem Vorgesetzten widersprochen hätte! „Natürlich. Das ist sicher eine sehr gute Einarbeitungsmethode. Ich mache mich am Besten sofort ans Werk!“ Diese Antwort scheint Herrn Menta zu freuen. Er klopft ihr noch einmal aufmunternd auf die Schulter, dreht sich um und verlässt durch die sich selbst öffnende Schiebetür den Raum. „Ich freue mich auf eine konstruktive Zusammenarbeit!“ hört Nellie ihn noch auf dem Flur sagen, dann ist sie allein.
In Ruhe will sie sich nun erst einmal umschauen, bekommt aber sogleich wieder einen Schrecken. In den vier Zimmerecken sind kleine schwarze Metallkästen angebracht. Sind das etwa Videokameras? Bei näherer Betrachtung bestätigt sich ihre Vermutung. Wird dieser Raum sicherheitstechnisch überwacht? Ein Gedanke, der Nelli gar nicht gefällt. Während der Arbeit von irgendwelchen Sichheitsfuzzis beobachtet zu werden. Aber sicherlich sind die Kameras gar nicht in Betrieb. Was soll hier in diesem öden Büro auch schon aufgezeichnet werden? Nelli versucht sich wieder zu beruhigen, inspiziert die Aktenschränke und geht in Richtung Schreibtisch. Kein PC, keine Schreibmaschine, nicht einmal ein Telefon! Dies kann also nicht sehr lange ihr Büro bleiben. Es handelt sich scheinbar um eine reine Registratur. „Nun gut. Was soll’s? Je eher ich hiermit fertig bin, desto schneller kann ich diesen Ort wieder verlassen meinen eigentlichen Job in Angriff nehmen“. Nelli beginnt sich in die Akten und Unterlagen einzulesen und sie nach dem Ablagesystem der bereits vorhandenen Ordner zu sortieren.
Drei Stunden später schaut Nelli zum ersten Mal auf ihre Armbanduhr. 12:30 Uhr. Langsam bekommt sie ein wenig Hunger. Ob es hier wohl eine Kantine gibt? Gut dass sie sich heute morgen für alle Fälle noch ein Sandwich eingepackt hat. Eigentlich müsste in diesem Haus ja auch mal irgend jemand an sie denken und nach ihr sehen. Vielleicht weiß aber auch niemand außer Herrn Menta, dass sie hier in dieser Kammer sitzt und die Ablage erledigt. „Na, irgendwann wird schon etwas passieren“ denkt Nelli und kümmert sich weiter um die langweiligen Kostenaufstellungen, die sie nach Datum abheftet.
16:30 Uhr. Es ist immer noch niemand da gewesen, um nach ihr zu sehen. Dummerweise verspürt sie jetzt auch ein äußerst unangenehmes Druckgefühl ihrer Blase. „Jetzt muss ich wohl etwas unternehmen. Mal gucken, ob ich hier irgendwo eine Toilette finde“. Nelli erhebt sich und geht zur Tür. Doch diese öffnet sich nicht. Nelli wird es ganz heiß. Wie geht diese verdammte Tür auf? Bei Herrn Menta hat sie sich heute morgen doch auch von alleine geöffnet! Nelli tritt einen Schritt zurück und wieder vor. Nichts. Hier muss doch irgendwo ein Türöffner oder so etwas ähnliches sein! Sie schaut sich suchend um, tastet die Wände nach einem verborgenen Öffnungsmechanismus ab. Nichts. Einfach gar nichts, um diese verdammte Tür zu öffnen! Nelli spürt wie sich Tränen in Augen sammeln. „Jetzt fang bloß nicht gleich an zu heulen“ raunt sie sich selber zu und bleibt mit ihrem Blick an einer der Videokameras an der Decke hängen. Und was, wenn die nun doch in Betrieb sind? Das wäre sowohl schlecht als auch gut. Zum einen wäre es natürlich fürchterlich peinlich, dass jemand beobachten könnte, wie sie sich vergeblich bemüht hier aus diesem Büro zu kommen. Zum anderen müsste sie nun doch jemand auf sie aufmerksam werden und sie aus dieser misslichen Lage befreien. Nelli nimmt all ihren Mut zusammen, stellt sich vor eine der Kameras und ruft: „Haaaaallooooo. Sollte mich jemand hören oder sehen, ich brauche ein wenig Hilfe. Ich habe mich wohl hier in diesem Büro eingesperrt! Wenn vielleicht jemand mal nach mir sehen könnte?“ Nelli versucht mit einem abschließenden Grinsen in Richtung Kameralinse vorzutäuschen, dass sie noch ganz cool und die Ruhe selbst ist.
19:30 Uhr. Jetzt ist es ihr egal. Es geht nicht länger. Sie schiebt ihren Rock hoch, die Strumpfhose herunter, setzt sich auf das Waschbecken und genießt einfach nur einen Moment lang das wunderbare Gefühl des nachlassenden Drucks. Sie hätte es keine Minute länger mehr aushalten können. Mittlerweile ist Nelli sich sicher: Man hat sie hier schlicht und einfach vergessen. Ihr kommen erneut die Tränen. Warum musste ausgerechnet sie in eine so missliche Lage geraten? Auf dem kalten Fußboden zusammengekauert weint Nelli sich schließlich in einen kurzfristigen Schlaf.
09:00 Uhr. Nelli hat sich nach einer nicht enden wollenden Nacht, in der sie vor lauter Sorgen und auch wegen des nicht auszuschaltenden, grellen Neonlichts kaum schlafen konnte, wieder in einen einigermaßen ordentlichen Zustand gebracht. Sie hat sich das vom vielen Weinen verquollene Gesicht gewaschen, die Haare mit den Fingern grob durchgekämmt, nur das total verknitterte Kostüm ist nicht mehr zu richten. Jetzt setzt sie sich in den Bürostuhl und wartet darauf, dass die Tür sich endlich öffnet. Gleich wird jemand hereinkommen und sie hier befreien. Es muss doch auffallen, wenn sie sich heute nirgendwo blicken lässt. Irgendwer muss sie doch vermissen!
16:00 Uhr. „Irgendwann kommt jemand. Sicher, sicher, ganz, ganz, sicher.... Irgendwann kommt jemand. Sicher, sicher, ganz, ganz sicher.... Monoton und stets im gleichen Rhythmus reiht Nellie immer und immer wieder die Worte mit vom vielen Schreien und um Hilfe rufen heiser gewordenen Stimme aneinander.
20:00 Uhr. Der Hunger ist unerträglich geworden. Ihr Magen knurrt in einem fort. Daran, das Waschbecken als Toilette zu benutzen, hat sie sich bereits gewöhnt.
22:00 Uhr, 12 TAGE SPÄTER. Nelli lehnt kraftlos an der Wand und sieht sich noch ein Mal in dem kleinen Spiegel über dem Waschbecken an. Tote Augen, die tief in ihren Höhlen liegen, eingefallene, graue Wangen, verfilzte Haare, die strähnig und wirr ins Gesicht fallen, blicken ihr entgegen, sie sackt kraftlos zusammen. Ein letztes Mal versucht sie sich am Waschbeckenrand festzuhalten und aufzurichten. Es gelingt ihr nicht. Die Kraft reicht nicht mehr aus und Nelli fällt zu Boden.
12:00 Uhr. 15 Tage später. Der Gestank ist bestialisch. Aber die Maden, die sich nun
schmatzend überall in Nellis Kadaver, tummeln und immer weiter ausbreiten, stört er nicht.
„Das Mädel war nicht schlecht dieses Mal. Zäher als vermutet. Lassen Sie die Kameras noch etwa 2 Tage laufen. Das müsste als Verwesungssequenz dann ausreichen. Geben Sie mir Bescheid, wenn die erste geschnittene Gesamtversion vorliegt. Ich will das Werk vorab persönlich nochmals prüfen. Der diesmalige Auftraggeber ist ein besonders anspruchsvoller Mann...“ Herr Mentas schiefes Grinsen verbreitert sich „...allerdings auch ein besonders reicher!“
[ 07.08.2002, 15:35: Beitrag editiert von: sticker ]