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Der Name der Stadt
Der Name der Stadt
v2.0
Seine breite Streitaxt fiel donnernd auf das Metall. Noch ein, zwei Hiebe und er würde es halbiert haben.
Es wurde in letzter Zeit schwieriger, Metall zu finden, denn der Wald überwucherte die Ruinen der Stadt immer mehr. Vor allem aber auch, weil er den Nordteil der Stadt mied und sein Revier deshalb sehr klein war. Er hasste den Nordteil. Seitdem Rikana and Skint gestorben waren, ging er nicht mehr dort hin.
Raynt wischte sich Strähnen seiner langen schwarzen Haare aus dem Gesicht und schlug weiter auf den Metallbrocken ein. Mit dem Stück würde er das Schwert schmieden können, das man bei ihm beauftragt hatte.
Nachdem es entzwei gegangen war, packte er eine Hälfte davon in seine Tasche und machte sich auf den Rückweg ins Dorf.
Als er im Dorf ankam, hörte er aufgeregtes Rufen. Er erkannte, dass die Unruhe vom Haus des Dorfältesten ausging, betrat es und erkannte den Grund der Aufregung: auf einem Bett lag ein blutüberströmter Mann - ein Fremder.
„Igant, was ist hier los?“, fragte Raynt den Dorfältesten.
„Er kam Keitin zu Hilfe, als ihn ein Waldlöwe angefallen hat. Dabei wurde er schwer verletzt“, antwortete Igant, der Raynt daraufhin zur Seite nahm. „Seine Verletzungen sind schwer“, er senkte seine Stimme, „er wird sterben.“
Raynt betrachtete den Verletzten, der ständig brabbelte, als versuche er, etwas mitzuteilen. „Was will er?“, fragte Raynt. „Höre selbst“, antwortet Igant.
Raynt trat näher an den Verletzten heran. Als der Fremde Raynt sah, ergriff er dessen Arm. „Wie heißt sie?“, fragte er und drückte Raynts Arm noch fester. „Wie heißt die Stadt bei eurem Dorf?“
Raynt zögerte ob dieser offensichtlich unerwarteten Frage eines tödlich Verletzten. „Sanisko“, antwortete er überrascht.
„Nein, nein!“, stöhnte der Fremde. Er wirkte aufgebracht und rang nach Atem. „Wie hieß die Stadt früher? Ihr wirklicher Name“, brachte er mit großer Anstrengung hervor, „bevor sie eine Ruine wurde.“
Raynt neigte den Kopf. „Das ist sinnlos“, er betrachtete den Fremden kurz und fügte hinzu: „Jeder weiß, dass die Stadt Sanisko heißt. Es ist doch vollkommen egal, wie sie früher hieß.“
„Ich muss es wissen“, entgegnete dieser. „Ich muss es wissen“, er fing an zu zittern, „bevor ich zurückkehre.“ Dann ließ er Raynts Arm los.
Raynt tauschte Blicke mit Igant. Beide wussten, dass der schwer verletzte Fremde nie wieder dahin zurückkehren würde, woher er kam. Es musste auch dem Fremden klar sein. Aber seine merkwürdigen Fragen und der Gedanke an Rückkehr in seine Heimat schienen ihm Hoffnung zu geben. Er belog sich selbst. Menschen taten das.
„Warum wollt Ihr das überhaupt wissen?“, fragte Raynt.
„Ich kann es euch nicht sagen“, antwortet der Fremde mit schwacher Stimme und fügte dann hinzu: „Ich kann es euch nicht sagen. Ich“, er schluckte, „darf nicht.“
Am Abend kam der Dorfrat zusammen. „Sudo hat uns eine mächtige Prüfung geschickt“, begann Igant. „Gemäß seinen Gesetzen müssen wir den letzten Wunsch jedes Sterbenden erfüllen.“ Er blickte in die Runde. Allen war diese Regel bekannt, aber nicht alle Dorfräte verstanden, wovon Igant genau sprach. Deshalb fuhr er fort: „Wir müssen den alten Namen der Stadt herausfinden und ihn dem Fremden sagen, bevor er stirbt.“
„Niemand kennt diesen Namen mehr“, merkte einer der Räte an.
„Es gibt Leute, die die alten Namen noch kennen“, wandte Igant ein. „Die Gruppe der Bewahrer auf der anderen Seite des Wassers im Norden.“
Raynt wusste, was das bedeutete und es gefiel im nicht. Igant fuhr fort.
„Sie leben sehr zurückgezogen, aber ich kenne sie. Und es gibt einen Weg über das Wasser: eine Brücke aus der alten Zeit.“
Die Räte ließen die Informationen sacken. Nur Raynt ahnte, was nun kommen würde.
„Raynt kennt die Ruinen am besten. Er soll gehen“, schlug Igant vor.
„Der Weg führt durch den Nordteil der Stadt“, zischte Raynt und sah dann in die Runde. „Jemand anderes muss gehen!“
„Raynt“, sagte Igant, „ich kenne deinen Schmerz. Wir alle kennen ihn. Als Rikana und Skint von uns gingen, haben wir alle mit dir getrauert. Und wir alle verstehen, dass du nicht mehr dort hin zurück willst.“ Raynts Gedärme verkrampften sich bei dem Gedanken an seine verstorbene Frau und Sohn - und an diesen verfluchten Teil der Stadt, den er nie wieder betreten wollte.
Igant fuhr fort. „Der Fremde liegt im Sterben, deshalb haben wir nur wenig Zeit. Niemand kennt die Ruinen so gut wie du. Niemand ist dieser Reise körperlich auch nur annähernd so gewachsen wie du.“
Raynts Kiefer mahlten. Er hörte Igant kaum noch. „Stirbt der Fremde, bevor du den Namen gefunden hast, wird Sudos Wille nicht erfüllt“, sprach Igant. Raynt kochte innerlich, denn er wollte Igant widersprechen, aber er hatte seinen Argumenten nichts entgegen zu setzen. Igant sprach weiter. „Und wir müssen Sudos Willen erfüllen.“ Und dann, flüsternd: „Niemand weiß das so gut wie du.“
Wütend machte Raynt eine abwehrende Bewegung mit der Hand. „Genug!“ Der Gedanke, dass er selbst Schuld am Tod seiner Frau und seines Sohnes war, quälte ihn seit Jahren. Er hätte Sudos Willen niemals ignorieren dürfen, dann wären sie noch bei ihm. Jetzt hatte er nur noch Bent, seinen jüngsten Sohn, den er nicht auch noch verlieren durfte. Nicht auch noch Bent. Er konnte Sudos Willen nicht noch einmal ignorieren.
Raynt schaute in die Augen der anderen Räte. Er kämpfte mit sich, brachte aber keine Worte über die Lippen. Keiner traute sich, etwas zu sagen. Sie fühlten Raynts inneren Kampf. Sudos Willen ein weiteres Mal ignorieren, und damit Bents Leben riskieren, oder wieder in den verhassten Nordteil der Stadt gehen. Keine der beiden Möglichkeiten schien ihm gangbar.
Nach einer Weile sagte er leise: „Ich füge mich Sudos Willen. Ich werde gehen.“
Damit war es beschlossen.
Raynt war gut bis zu dem Punkt vorangekommen, an dem er am Vortag das Metallstück gefunden hatte. Von da an musste er sich seinen Weg durch die zugewucherten Ruinen der Stadt mit der Streitaxt bahnen. Er schwang sie kraftvoll und durchtrennte Lianen, Äste, Büsche und manchmal sogar kleine Bäume. Nur wenig war seinen wütenden Schwüngen gewachsen. Er hasste die Stadt.
Nach dem ersten Tag hatte er die Hälfte der Ruinen durchquert. Er konnte sich nicht vorstellen, wie es früher hier aussah und er wusste nichts von der alten Kultur, den Vorvätern, die einst hier lebten. Es interessierte ihn auch nicht, denn er war mit seinen Gedanken beim Nordteil der Stadt, den er nicht betreten wollte.
Schließlich war der Zeitpunkt gekommen. Er stand kurz vor dem Ort, an dem Rikana und Skint gestorben waren. Niemals würde er vergessen, wie sie in den verborgenen Schacht stürzten, nur wenige Meter von ihm entfernt, als sie auf Metallsuche waren. Dieses schreckliche Gefühl der Hilflosigkeit kam wieder in ihm hoch und marterte ihn. Er hatte geschworen, seine Familie zu beschützen. Doch wo war er, als sie stürzten?
Seit damals mied er den Nordteil der Stadt und hatte schon beinahe mit den schrecklichen Ereignissen abgeschlossen. Aber nun musste er doch wieder dort hin gehen und die Erinnerungen brachen in ihm auf.
Raynt erkannte die Stelle sofort, als er vor ihr stand. Die Öffnung war bereits wieder vollständig mit Schlingpflanzen bedeckt. Ganz so, wie es früher war, wie es seiner Frau und seinem Sohn zum Verhängnis geworden war. Er stand vor dem Schacht.
Einen Moment hielt er inne und verwarf den Gedanken, die Pflanzendecke zu öffnen, um hinunter zu sehen. Ihre Körper lagen immer noch da unten. Es war ihm trotz vieler Versuche niemals gelungen, sie zu bergen. Am meisten quälte ihn, dass er nicht wusste, ob sie sofort tot gewesen waren. Hatte er sie nicht noch wimmern gehört? Hätte er sie nicht doch noch retten können? Diese Unwissenheit hatte ihn jahrelang gequält.
Er hielt noch einige Momente inne und versuchte, sich von der Erinnerung zu lösen. Dann wandte er sich zur linken Seite und tastete sich langsam vorwärts, vorsichtig, den Schacht meidend. Er kannte die Gefahr. Und dennoch fiel er.
Er hatte nicht damit gerechnet, immer noch über dem Schacht zu sein. Ein unbedachter Schritt genügte und er brach durch die Pflanzendecke — wie einst Frau und Sohn. Doch Raynt konnte den Sturz verhindern. Er hing, sich an eine Liane klammernd, über dem Abgrund und dachte trotzig: ‚Vielleicht sollte ich loslassen.‘ Doch nach einem kurzen Moment besann er sich, zog sich hoch und setzte seinen Weg durch die Ruinen fort.
Am Abend erreichte er das Nordende der Stadt und damit die Meerenge, die er überqueren musste, um zur Gruppe der Bewahrer zu kommen. Es war bereits dunkel und er konnte die Brücke nicht entdecken, die der Dorfälteste erwähnt hatte. Gab es sie überhaupt? Raynt entzündete ein Lagerfeuer, aß etwas und legte sich schlafen. Am nächsten Tag würde er die Brücke suchen.
Die Überraschung kam mit dem Morgen, denn die Brücke, die er bei Nacht nicht sehen konnte, war bei Tage nicht zu übersehen. Es war ein gewaltiges Bauwerk, das die Meerenge von einem Ufer zum anderen überspannte.
‚Bei Sudo, die Vorväter müssen beindruckende Baumeister gewesen sein!‘, dachte Raynt und beeilte sich eine Danksagung an Sudo hinterherzuschicken. Wenn solch mächtige Völker untergehen konnten, dann war es sicher besser, sich gut mit seinem Gott zu stellen. Gerade Raynt konnte eine gute Beziehung zu Sudo gebrauchen. Auch wenn er seit seinem Verlust stets wütend auf ihn gewesen war, ihn immer wieder angeschrien hatte, hatte er doch aus der Vergangenheit gelernt und zollte seinem Gott sicherheitshalber Respekt.
Nach einem zweistündigen Marsch hatte er die Brücke erreicht. Sie wirkte nun aus der Nähe betrachtet nicht mehr so imposant. Unzählige Löcher befanden sich im Boden und teilweise waren die einzelnen Brückenteile nicht mehr miteinander verbunden. Es würde riskant werden, sie zu überqueren. Trotz aller Gefahren, die er in seinem Leben überstanden hatte, fühlte Raynt in diesem Augenblick Angst.
Er sprang über eine breite Lücke, landete knapp auf der anderen Seite, ging in die Knie und rollte sich nach vorne ab, so dass er nicht nach hinten kippte und in den Abgrund stürzte. In den vergangenen Stunden hatte er einige Lücken der Brücke auf diese Weise überwunden. Manchmal war es knapp gewesen, aber Raynt war trotz seiner muskulösen Statur außergewöhnlich beweglich und konnte sich ein um das andere Mal retten.
Nun stand er vor der letzten Hürde auf seinem Weg zum anderen Ufer: ein etwa vier Meter breiter Spalt. Breiter als alle anderen davor. Raynt wusste, dass der Sprung diesmal präziser Planung und Ausführung bedurfte.
Als erstes warf er seinen Rucksack auf die andere Seite, damit ihn das Gewicht auf seinem Rücken nicht nach hinten zog. Danach seine Streitaxt. Ihm stockte der Atem, als diese nur knapp auf der andere Seite zum Liegen kam. Der schwere Kopf lag zwar auf der Brücke, aber der Schaft ragte zu zwei Dritteln über den Abgrund. Hätte er etwas weniger weit geworfen, hätte er sie verloren.
Raynt räumte Geröll und Pflanzen hinter sich beiseite, damit er ungehindert Anlauf nehmen konnte. Dreimal schritt er den Weg ab, um sich die Distanz einzuprägen und dadurch so nah wie möglich am Rand abspringen zu können.
Schließlich war es so weit. Er fokussierte die Absprungstelle und atmete tief ein und aus. Dann noch einmal. Er fühlte sich immer noch unsicher und lockerte sich. Noch ein tiefer Atemzug. Er dachte an Bent. Wenn er hier starb, wer würde sich um ihn kümmern? Und Sudo … Er wischte diese Gedanken beiseite. Er musste sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
Dann rannte er los.
Er traf den Rand perfekt und katapultierte sich in die Luft, hoch und weit. Im Flug visierte er die Stelle an, an der er aufkommen wollte. Es würde knapp werden. Zu knapp. Raynt verfehlte den Rand mit seinen Füßen und knallte stattdessen mit dem Bauch dagegen, die Arme auf die Brückenoberfläche klatschend. Sofort griff er etwas, um nicht in den Abgrund zu stürzen. Mit Erschrecken stellte er jedoch fest, was er gegriffen hatte: es war die Axt! Er fiel, die Axt haltend, als diese sich plötzlich mit dem Kopf zwischen zwei Steinbrocken der Brücke verkeilte.
Ein gewaltiger Ruck ging durch Raynts Körper, doch er ließ den Schaft nicht los, baumelte über dem Abgrund und starrte nach unten. Es war das zweite Mal auf dieser Reise, dass er sich knapp retten konnte. Sudo schien mit ihm zu sein. Vielleicht hatte er ihm endlich verziehen.
Das Meer unter ihm sah nicht aus wie Meer, eher wie eine blaue Metallplatte, so hoch war er. ‚Sudo ist mächtig‘, dachte er, griff den Schaft mit beiden Händen, hangelte sich hoch, zurück auf die Brücke, und setzte seinen Weg nach kurzer Pause fort.
Nachdem er das andere Ufer erreicht hatte, machte er sich auf die Suche nach dem Dorf der Bewahrer. Er folgte einem Pfad, der von der Brücke in einen Wald führte und als er schließlich den Wald verließ, erblickte er eine Ebene, in dessen Mitte ein Dorf lag. Raynt hatte etwas Derartiges noch nie gesehen. Das musste es sein.
Das Dorf war von eisernen Palisaden umgeben und ein beindruckendes Tor, bestehend aus zwei metallenen Flügeln, bildete den Eingang, dem Raynt nun entgegen ging.
Am Tor hielt ihn eine Wache auf. „Halt! Was wollt ihr?“
Raynt wusste nicht, was er sagen sollte. Er hatte sich bisher gar keine Gedanken darüber gemacht, wie es sein würde, bei der Gruppe der Bewahrer anzukommen. Nach wem sollte er fragen? Igant hatte ihm dazu nichts gesagt.
„Bringt mich zu eurem Weisen“, sagte er in der Hoffnung, so Einlass zu finden.
„Seid ihr Anwärter?“, fragte die Wache. ‚Anwärter?‘, wunderte sich Raynt still und antwortete nach kurzem Nachdenken „Ja, Anwärter“, um die Wache zu täuschen und eingelassen zu werden.
Der Torwächter musterte ihn noch einige Augenblicke, nahm ihn dann aber mit zu einer Hütte in der Mitte des Dorfes, aus der ein alter Mann trat. Die Wache sprach kurz mit dem Mann und verließ ihn dann wieder auf sein Nicken hin.
„Nun“, sprach der Mann, „ihr seid gekommen, um in unsere Gruppe aufgenommen zu werden?“
„Nein“, sagte Raynt. Er wollte die Tarnung so schnell wie möglich ablegen und schnell zur Sache kommen. „Ich bin auf der Suche nach Wissen“
„Wir teilen unser Wissen nur mit Mitgliedern der Gruppe!“, sagte der alte Mann erbost. „Ich muss euch bitten zu gehen.“
Raynt merkte, dass er auf dem falschen Weg war. Er kämpfte mit sich, überlegte, wie er sein Anliegen schnell verständlich darlegen konnte, bevor er des Dorfes verwiesen wurde. Alle Anstrengungen wären umsonst gewesen, wenn sie ihn wegschickten. Der Fremde würde sterben, ohne den Namen der Stadt erfahren zu haben, und Sudo würde sich bitter rächen — erneut. Raynt war verzweifelt, doch alles, was der Mann mit der imposanten Statur letztlich heraus brachte, war ein gequältes „Bitte.“
Der alte Mann musterte Raynt. Er merkte, dass etwas Wichtiges dahinter stecken musste, dass Raynt etwas quälte, er es aber nicht heraus brachte. Neugierig sagte er: „Erzählt mir, um was es euch geht.“ Und fügte schließlich hinzu: „In Ruhe.“
Raynt atmete tief durch und begann dann zu erzählen. Von den Gesetzen seines Dorfes, die die Erfüllung Sudos Willens forderten. Davon, dass er einst Frau und Sohn verloren hatte, als er dessen Willen ignorierte. Und von dem Fremden, der schwer verletzt in sein Dorf kam und nach dem alten Namen der Stadt fragte.
Da unterbrach ihn der Alte interessiert. „Den alten Namen der Stadt wollte jemand von euch wissen? Weshalb?“
„Er sagte, er dürfe nicht sagen, weshalb“, erklärte Raynt.
Daraufhin änderte sich der Gesichtsausdruck des Alten. Er wirkte nun milde und entgegenkommend und versprach, Raynt den Namen der Stadt zu nennen. Er erklärte Raynt auch, warum er dies tun würde. Nachdem der Alte es erklärt hatte, verstand Raynt auf einmal den Grund seiner Reise. Plötzlich ergab alles einen Sinn.
Es war bereits spät, deshalb luden die Bewahrer Raynt ein, die Nacht bei ihnen zu verbringen. Er akzeptierte und wurde in der Hütte des Alten zu einem Abendessen eingeladen. Raynt bestaunte das Mahl, denn die Gruppe der Bewahrer lebte offensichtlich in Wohlstand. Verfügte sein Dorf nur über wenig Fleisch, hatten die Bewahrer genug davon für alle.
„Warum nennt ihr euch ‚Gruppe der Bewahrer‘?“, erkundigte sich Raynt im Laufe des Abends.
„Wir versuchen vergangenes Wissen vor der Vergessenheit zu bewahren. Mehr als einmal haben uns die Schriften der Vorväter geholfen. Wir ernten im Winter, züchten Vieh in großer Stückzahl und heilen unsere Kranken mit den Mitteln der Vorväter.“
„Ihr könnt die alten Schriften lesen?“, fragte Raynt ungläubig.
„Ja, das können wir“, antwortete der Alte lächelnd.
Am nächsten Tag brachte der Alte Raynt den Namen der Stadt bei. Raynt musste ihn wieder und wieder wiederholen, bis er ihn sich in der fremdartigen Sprache der Vorväter merken konnte, denn Raynt konnte nicht lesen.
Der Alte gab ihm noch Proviant und ein Seil, mit dem er die Brücke leichter überqueren konnte. „Achtet auf schwache Stellen im Boden. Die Goldene Brücke ist manchmal tückisch“, sagte der Alte.
„Warum nennt ihr sie ‚Goldene Brücke‘? Ihr Farbe ist eher grau und braun“, wollte Raynt wissen.
„Das ist der Name, den die Vorväter ihr gaben“, erklärte der Bewahrer.
Danach brach Raynt auf. Mit Hilfe des Seils konnte er die Brücke sicher und schnell überqueren. Auch in der Stadt kam er diesmal zügig voran, denn er hatte sich bereits auf dem Hinweg einen Pfad geschlagen. So dauerte es nur zwei Tage, bis er wieder in seinem Dorf war.
Im Dorf trat Raynt an das Bett des Sterbenden. Igant hatte ihm bereits bei seiner Ankunft mitgeteilt, dass es zu Ende ging. Aber er war noch rechtzeitig gekommen. Die Zeremonie zu Ehren Sudos konnte beginnen.
„Raynt der Schmied“, hob Igant feierlich an, „hast du deine Aufgabe erfüllt?“
„Das habe ich“, erwiderte Raynt ebenso feierlich.
„So erfülle nun Sudos Wille und nenne dem Fremden den Namen der Stadt.“
Raynt sammelte sich und rief sich den fremdartigen Namen ins Gedächtnis, den er auf seiner Reise wieder und wieder aufgesagt hatte, um ihn nicht zu vergessen. Dann sprach er: „Der Name der Stadt ist San Francisco.“
Erkenntnis zeigte sich in den Augen des Fremden. Und Dankbarkeit. Dann starb er.
Am Abend saßen Raynt und Igant beisammen und unterhielten sich. „Ich verstehe nun, warum der Fremde uns nicht erklärt hat, weshalb ihm der Name der Stadt so wichtig war“, sagte Raynt.
„Weshalb?“, fragte Igant.
„Er war ein Anwärter der Gruppe der Bewahrer. Alle Anwärter werden mit dem Auftrag ausgesandt, bestimmte Informationen zu finden, um zu prüfen, wie fähig sie sind, neues Wissen zu beschaffen. Die Bewahrer kennen dabei die Antworten auf die Fragen bereits, die sie den Anwärtern stellen, um keinen Scharlatanen aufzusitzen. Das hat mir der Alte erklärt, nachdem er erkannt hatte, dass der Fremde bei uns einer seiner Anwärter war. Sein Name war übrigens Waylin.“
„Aber ich verstehe nicht, warum der Fremde, dieser Waylin, uns nicht gesagt hat, weshalb er den Namen der Stadt suchte. Er hätte es uns doch erklären können“, sagte Igant.
„Verschwiegenheit, Igant“, erwiderte Raynt. „Verschwiegenheit gegenüber Außenstehenden ist das höchste Gebot der Bewahrer. Damit schützen sie sich. Sie leben sehr zurückgezogen. Die Anwärter dürfen auf Ihrer Reise nicht über die Bewahrer sprechen. Waylin muss bis zum Schluss daran geglaubt haben, wieder zurückkehren zu können und hat deshalb nichts verraten. Er wollte seine Aufgabe erfüllen aber dabei das Gebot der Verschwiegenheit nicht brechen, um seine Aufnahme bei den Bewahrern nicht zu gefährden.“
Sie saßen noch eine Weile da und sagten nichts. Dann ging Raynt nach Hause und erfreute sich des Anblicks seines schlafenden Sohnes. Sudos Wille war erfüllt worden. Sein Sohn war sicher.