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Der Nachttrinker
„Du meine Bruder Hernandes totgemacht, du verflucht, du meine Bruder gehören - bald.“ Mit diesen noch aus der Diele laut in das Arbeitszimmer des Herrn Professor geschleuderten Worten sei die junge Frau nach einem lautstarken Wortwechsel zornig aus der Wohnung gerannt. Das Gesicht der an der offenen Küchentüre Vorbeistürmenden habe sie nur undeutlich erkennen können, doch sei sie sich ziemlich sicher, dass das Fräulein Ausländerin gewesen sei: nicht so schwarz wie eine Negerin, aber schwärzer als die Zigeunerinnen, die gelegentlich an der Haustüre bettelten. Und kleiner als diese, jedoch stämmiger, kräftiger. Der Herr Professor sei zwar regelmäßig von Studenten zuhause aufgesucht worden, doch habe sich bislang noch niemand so unerhört aufgeführt. Manchmal habe es dabei Tränen gegeben, manchmal sogar lautere Dispute, wenn Prüfungsergebnisse den Traum vom Arztberuf hatten platzen lassen, zumeist aber nur ausdruckslose Enttäuschung in den Gesichtern der Gehenden.
Dieser Streit aber sei anders gewesen. Obwohl sie in der Küche nur einzelne Worte habe verstehen können, habe sie den Eindruck gehabt, der Herr Professor sei sehr erregt gewesen, ja fast verängstigt. Und als sie kurz darauf wegen des Mittagessens nachfragen wollte, sei der Herr Professor blass und fahrig an seinem Schreibtisch im Sessel gekauert und habe in fast panischer Angst diesen hässlichen Frauenkopf angestarrt und immer wieder geflüstert: „Der Nachttrinker kommt, oh Gott, der Nachttrinker wird kommen!“
Ihr sei in jenem Augenblick nicht klar gewesen, von wem der Herr Professor gesprochen habe und diese Worte auf die zornige junge Frau bezogen. Daher sei sie etwas verwundert gewesen, dass sich der Herr Professor vor dieser kaum anderthalb Meter großen Person derartig gefürchtet haben könnte. Und ja, es stimme, diese Büste sei vor dem Besuch dieser Studentin noch nicht im Regal gestanden. Als tägliche Zugehfrau, die die ganze Wohnung gründlich putze, kenne sie schließlich jeden Winkel und hätte die Büste sicherlich schon irgendwo gesehen, wenn sie bereits vorher im Haus gewesen sei. Mehr könne sie dem Herrn Hauptkommissar nicht sagen.
Grimm bedankt sich kurz bei Frau Koziol und geht zum Arbeitszimmer des Professors zurück, wo er mit verschränkten Armen an den Türrahmen gelehnt stehen bleibt. Von diesem Standort aus sucht der Hauptkommissar den Raum mit den Augen systematisch nach bislang vielleicht übersehenen Tatindizien ab. Zugleich versucht er, sich den möglichen räumlichen Ablauf der Tat vorzustellen. Das Arbeitszimmer des Professors ist etwas über fünf Meter lang, knapp vier Meter breit und der blanke Parkettboden in der Raummitte mit einem alten, vermutlich teuren Perserteppich bedeckt. Typisch für diese Villen aus den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ist die Deckenhöhe: Der Hauptkommissar schätzt sie auf fast drei Meter. Dominiert wird der Raum von einem mächtigen Schreibtisch aus dunklem schwarzbraunem Nußholz. Dahinter steht ein mächtiger schwarzer Ledersessel, davor zwei altmodisch gedrechselte Holzstühle mit stoffbespannter Sitzfläche und langer Rückenlehne - offenbar für Besucher gedacht, die nicht allzu bequem sitzen sollen. Die Längsseiten des Raumes sind komplett mit zwei bis zur Decke reichenden Regalen zugestellt, die im Laufe der Zeit scheinbar wahllos mit Büchern unterschiedlichster Größe und Farbe vollgestopft worden sind. Lediglich die deutlich größeren Fächer in der Mitte der Regale sind bücherfrei geblieben und beherbergen eine wohlgeordnete Parade uralter Fotokameras - ganz offensichtlich eine Sammelleidenschaft des Herrn Professor. Im dem Schreibtisch gegenüberliegenden Mittelfach waren einige der Kameras offenbar lieblos beiseite geschoben worden, um der von der Zugehfrau erwähnten Büste Platz zu schaffen. An seiner Stirnseite hat der Raum zwei hohe, durch Sprossen gegliederte Fenster, durch die nebliges Herbstlicht in den Raum fällt. Vor den Fenstern stehen drei tischhohe Aktenschränke mit Hängeregistraturen - Forschungsunterlagen und Studentenakten, wie der Kriminalbeamte vermutet. Vielleicht können die Studentenakten Hinweise darauf enthalten, was sich in diesem Raum abgespielt hat?
Während er den Raum durchschreitet, hat Grimm plötzlich das unbestimmte Gefühl, beobachtet zu werden. An den Aktenschränken angekommen, wendete der den Körper mit einer jähen Bewegung und fixiert, einer Eingebung folgend, die Augen der Frauenbüste. Langsam und ohne den Blick von diesen unergründlich dunklen Augen zu lassen, geht er Schritt für Schritt zur Türe zurück - und staunt: Seiner Erfahrung und jedem physikalischen Erklärungsversuch Hohn sprechend, hatten ihn die Augen bei seinem Gang Schritt für Schritt verfolgt. Und das, obwohl sie sich ganz offensichtlich nicht bewegt haben können. Der Hauptkommissar dreht einen der Besucherstühle dem Regal zu und mustert aufmerksam die Büste.
Weil in das kleine Messingschild am Büstensockel lediglich das Wort „Ciuacoatl“ eingraviert wurde, ist sich Grimm nicht schlüssig, ob es den Bildhauer oder dessen Modell benennt. Die lebensgroße Darstellung der etwa 30jährigen Indiofrau erinnert ihn jedenfalls spontan an seine erste Moorleiche, eine ungefähr gleichaltrige Selbstmörderin. Allerdings ist die ledrig-grobporige dunkelbraune Haut der Büste kein wenig eingeschrumpelt, sind die Zähne im leicht geöffneten Mund ebenmäßig weiß und die glasigen Augen feuchtglänzend - alles für Moorleichen völlig atypische Eigenschaften. Die blauschwarzen, filzigen Haare hängen strähnig zu beiden Seiten des Gesichts herab. Die Frau ist mit ihrer hochgewölbten Stirn, den harten Backenknochen und der großen, höckrigen Nase nicht hübsch. Doch geben die dichten schwarzen Augenbrauen, die halbgeöffneten, braunschwarzen Augen und die leicht heruntergezogenen Mundwinkel dem Gesicht einen dominanten Ausdruck: Obwohl der Blick leicht gesenkt ist, scheint er herrisch über den ganzen Raum zu gebieten.
Fellbach, Grimms Assistent, betritt mit seinem obligatorischen Klemmbrett den Raum: „Ist ja toll - da haben wir schon den Mörder, Pardon: die Mörderin! Und die passt auch gut zur Spurenlage: Wir haben nämlich nirgends Fingerabdrücke gefunden!“ Mit einem spöttischen Seitenblick auf die Büste wühlt er kurz in seinem Zettelwust und beginnt, Grimm Bericht zu erstatten.
Fellbach beginnt mit dem Befund des Pathologen. Der habe an der Leiche des Professors mehrere Hämatome an Armen, Beinen und Stirn festgestellt, die dafür sprächen, dass der Professor von mindestens fünf Personen und mit äußerster Brutalität gewaltsam nach hinten durchgebogen worden sei. Dann würden die weitere Auswertungsergebnisse jedoch skurril. Der Schnitt, mit dem der oder die Täter den Brustkorb geöffnet haben, sei mit einem völlig undefinierbaren Werkzeug ausgeführt worden. Eine ähnliche Schnittstruktur sei ihm, dem durchaus berufserfahrenen Pathologen, bislang erst einmal untergekomment: Als sich während des Studiums der Chirurgie-Professor mit seinen Studenten einen Scherz erlaubt und die angehenden Pathologenschar mit einem Feuersteinmesser gefoppt hatte. Er, der Pathologe, empfehle zudem, unbedingt einen Profiler in den Fall einzubinden, da dem armen Professor das Herz offenbar bei lebendigem Leibe herausgerissen worden war. Zudem fehle auf dem Hinterkopf ein ganzes Büschel Haare - beides Handlungen, die dem Profiler Rückschlüsse auf das Täterprofil ermöglichen sollten.
Sonderbares, so Fellbach weiter, enthalte auch der Bericht der Spurensuche. Obwohl der vermutete Tathergang eigentlich Unmengen an Blutspuren erwarten lasse, sei keine einzige gefunden worden - außer dem großen Blutspritzer unterhalb der Büste, den man ohnehin mit bloßem Auge erkennen könne. Auch seien von den doch mindestens sechs Beteiligten weder Finger- oder Fußabdrücke noch sonstige Spuren nachweisbar.
Sowohl die Befragungen an der Universität als auch die Studenten- und Patientenakten hätten keinerlei verwertbare Hinweise erbracht. Lediglich im Archiv der Chirurgischen Abteilung sei die Sekretärin auf einen Patienten namens Hernandes Morales gestoßen, den der Professor vor fast drei Jahrzehnten während seiner Assistenzzeit am Blinddarm operiert habe und der an überraschend aufgetretenen postoperativen Komplikationen verstorben sei.
Auch in der Nachbarschaft habe niemand Auffälliges beobachtet. Lediglich die Wohnungspartei aus der zweiten Etage, ein pensionierter Beamter und seine Frau, gaben an, dass der Professor, der stets nur zu duschen pflegte, am Abend vor seinem Tod überraschender Weise ausgiebig gebadet habe. Auch seien die beiden gegen Mitternacht durch rhythmisches Klatschen und Stampfen sowie einen lauten Singsang in einer fremdländischen Sprache in ihrer Nachtruhe gestört worden, „wo doch der Herr Professor all die Jahre so ruhig gewesen ist!“
Schließlich zog Fellbach mit ironischem Grinsen einen beschriebenen Bogen von seinem Klemmbrett und reichte ihn Grimm: „Ihr 'Abschiedschiedsbrief' ist wohl doch keiner. Ich hab' den Text übersetzen lassen – ist irgend so'n spanischer Uralttext und stammt aus der 'Chronik des Fray Bernardino de Sahagún'...“ Der Hauptkommissar nahm wortlos den Zettel und überflog ihn:
„ … so vom Volke aber auch Raubthier und unheilvolles Zeichen genannt wird, bringt Ciuacoatl aber als Rachegöttin Armut, Tod uns Elend über jeglichen Menschen. Derenthalben werden ihr im Maismonat am „Adlerleutetag“ mannigfache Ehrengaben und zahlreiche menschliche Blutopfer dargebracht. Zur Abendstunde jenes Tages aber, der dem Tage vorangeht, an welchem die Totgeweihten, die „Adlerleute“, ihren Opfertod erleiden sollen, werden selbige ausgiebig gereinigt, einem feierlichen Bade unterzogen und mit dem prächtigen Adlerfedermantel bekleidet. Um Mitternacht tanzen alsbald die federgeschmückten Krieger mit Jaguarschild und Obsidianschwert im Gemeinschaftshaus stampfend und dumpf brüllend den „Adlerleutetanz“. Auch schmücken sie eine Büste Ciuacoatls mit Haarsträhnen der „Adlerleute“, so sie jenen mit dem Knochenmesser am Wirbel abgeschnitten haben. Am Opfertage selber wird geblasen, werden die Muschelhörner geblasen, man pfeifet, singet und schlägt die Rasselstäbe. Derweil aber werden die „Adlerleute“, die nach dem Sonnenland bestimmten, von den Kriegern einzeln die hohe Tempeltreppe hinauf vor das Angesichts des steinernen Uitzilopochtlis gezerrt und feierlich den federgeschmückten Priestern übergeben. Fünfe von jenen indess, mit Reihenfederfahnen auf den Schultern, pressen den „Adlermann“ mit der Brust nach oben auf den Opferstein. Dann tritt, in das Fell des Jaguars gehüllt, über und über mit blutroten Streifen bedeckt und mit weißen Truthahnfedern beklebt, „der in der Nacht trinkt“ nach vorn. Denn dessen Amt, dessen besonderes Geschäft ist das Vollziehen des Opfers, ist das Töten. Der „Nachtrinker“ aber ergreift das dicke, breite Obsidianmesser und schneidet mit raschem Schnitt dem „Adlermann“ die Brust auf. Dannach greift er in den Leib des Opfers und reißt selbigem mit schaurigem Schrei das pochende Herz, die „Adlerfrucht“, aus dem Leib, das er bluttriefend weihend der Sonne, dem „Türkisprinzen“, unter dem entsetzten Aufschrei der Stammesmitglieder emporhält, damit die, so nennen sie es selbst, im Opferblute baden könne. Endlich ergreift der „Nachtrinker“ das „Adlersaugrohr“, stellt es in die Brust des „Adlermannes“, an selbige Stelle, wo dessen Herz gewesen, saugt es voll Blut und übergießt damit die Büste Ciuacoatls, die, so ihr religiöser Irrglaube, solchermaßen getränkt, in ihrem Bluttriebe nunmehr gestillet sei.“
Weil sie bereits seit Tagen in ihren Ermittlungen nicht weitergekommen waren, wollten sich Grimm und Fellbach nochmals im Areitszimmer des Professors umsehen. Plötzlich wirkt Grimm elektrisiert: „Frau Koziol, Sie haben das versiegelte Arbeitszimmer doch nicht mehr betreten - auch nicht Staub gewischt?“ „Ganz bestimmt nicht, Herr Hauptkommissar!“ Während Fellbach seinen Chef verständnislos von der Seite ansieht, laufen diesem kalte Schauer über den Rücken: Alles im Zimmer ist von einer dünnen Staubsicht überzogen - nur die Büste nicht.