Der Nachtfahrer
Nachts schien die Sonne nie. Während andere schliefen, lag Roberto wach und dachte
nach. Er dachte ohne Ergebnis, dachte ohne Zusammenhang. Immer wieder besah er
sein bisheriges Leben. Dreiunddreißig Jahre – irgendwann hatte er eine Ausfahrt
verpasst, dessen war sich Roberto gewiss. Dann richtete er sich immer auf, blickte in
das dunkle kleine Zimmer, indem tagsüber ein kleiner Esstisch und zwei Stühle zu
sehen waren. Es gefiel ihm, dass er in der Nacht nichts sah, es kam ihm vor als ob er
schwebte.
Nichts hielt er nach dreiunddreißig Jahren in der Hand. Er trat auf der
Stelle. Er vermisste auch nichts aus seiner Vergangenheit. Das heißt bis auf seine
Sorglosigkeit, die er an irgendeiner längst vergangenen Kreuzung vergessen hatte.
Und die Nächte waren still, sie sprachen nicht mehr zu ihm, sie waren nicht mehr die
Komplizen seiner Hoffnungen. Die Nacht war nun eine stille Freundin geworden,
eine die nicht mehr urteilte, aber eine, die verständnisvoll schwieg.
Tagsüber schlief er wenige, verteilte Stunden, nachts nicht mehr. Wenige Wochen
zuvor hatte er beschlossen seinen Lebensunterhalt durch die nächtliche
Schlaflosigkeit zu verdienen. Als Kurierfahrer für eine Sicherheitsfirma musste er
interne Post für eine namhafte Bank von Filiale zu Filiale transportieren. Um 23 Uhr
begann seine Schicht und endete meist um sechs Uhr in der Früh. Die Arbeit war
simpel. Er konnte sie durchführen ohne damit aufhören zu müssen seinen Gedanken
nachzuhängen. Auch hatte er mit niemandem zu tun. Er lud die Taschen in den
Lieferwagen und fuhr los. Wenn er morgens zurückkehrte, entlud er die leeren
Taschen, stellte das Fahrzeug ab und ging nachhause. Es waren 36 Taschen für 36
Bankfilialen. Ortschaft für Ortschaft musste er anfahren. Seine Route umfasste
insgesamt 213 Kilometer und führte über Landstraßen in ländliche Gebiete. Er liebte
die Landstraßen in der Nacht, vor allem ab zwei Uhr, wenn sie tatsächlich verlassen
waren und es ihm vorkam als wäre er allein auf der Welt, als würden sich die Sterne
nur ihm offenbaren. Hier merkte er, dass es keinen Unterschied machen würde, ob er
existierte oder nicht. Oft hielt er das Auto am Straßenrand, stieg aus und sah in den
Nachthimmel, atmete die frische und kalte Luft ein, die von den Wäldern ringsum
ausströmte. Roberto fühlte sich sicher in der Nacht. Keine Blicke von Menschen,
keine Verstellung, keine Hintergedanken. Die Nacht kannte keinen Neid, sie war
nicht streitsüchtig, sie war gelassen, sie war hingebungsvoll und ließ alles geschehen -
wie sehr er das liebte. Wie viel mächtiger als der Tag sie ihm erschien. Die Nacht
hatte nichts mehr vor, sie plante nicht, sie hoffte nicht und dennoch, die Nacht war da
und nichts machte ihr den Platz streitig. Klein und beschaulich war die Welt im
Lichtkegel der Scheinwerfer; weit und unendlich wenn er aus dem Fenster auf die
vorbeiziehenden Bäume blickte. Die schönste Zeit war im Winter, wenn die Straßen
verschneit, die Straßenlampen erloschen waren und der Mond alles in bläulichschimmerndes
Silberlicht tauchte. Wenn es so war, stieg er öfter aus dem Auto und
verweilte einige Minuten in der Einsamkeit und der Schnee legte sich auf seine
Hände.
In dieser Nacht war er sehr müde, was selten war. Roberto hatte tagsüber kaum ein
Auge zugemacht. Doch er freute sich auf die Arbeit, denn er hatte sich die Bibel als
Hörbuch gekauft und nun schon einige Nächte die Worte Gottes auf dem Weg durch
die Nacht gehört.
In dieser Nacht also bereitete er sich auf die Arbeit vor. Er belegte drei Brötchen,
wickelte sie hektisch in Alufolie, nahm eine Flasche Wasser und legte all das in seine Tasche. Nachdem er
geduscht hatte, putzte er sich die Zähne mit der einen Hand, wobei er versuchte, sich
mit der anderen die Dienstkleidung überzustreifen, die aus einem weißen Hemd, einer
grauen Krawatte, einem schwarzen V-Kragen-Pullover und einer schwarzen Hose
bestand. Die schwarzen Schuhe wurden ihm nicht gestellt. Er trug schwarze
Sportschuhe; mit diesen fühlte er sich sicherer, sie würden ihm ermöglichen schnell
zu laufen, falls es einmal nötig sein sollte. Obwohl er selbst noch nie eine bedrohliche
Situation erlebt hatte, noch von seinen Kollegen jemals etwas derartiges gehört hatte,
gefiel es ihm, sich vor der Arbeit Situationen vorzustellen, die ihm das Blut in den
Adern gefrieren ließen. Doch der Job in dieser ländlichen Gegend hatte nichts
gefährliches, er traf so gut wie nie auf Menschen, außer an einer Tankstelle, die er
immer gegen kurz vor zwei anfuhr um zu tanken und einen Espresso zu trinken.
Immer wenn er dabei war sein Hemd zuzuknöpfen, bemerkte er, dass er es mit einer
Hand nicht würde schaffen können. Er biss auf die Borsten der Zahnbürste, knöpfte sich das
Hemd zu und putzte anschließend weiter.
Die Nacht war sehr kalt, acht Grad unter Null. Es schneite nicht, doch der Schnee der
letzten Tage war liegengeblieben, die Straßen mit schneebedecktem Eis überzogen.
Roberto nahm den Bus und fuhr zur Arbeit. Von der Haltestelle ging er zur
Firmenpforte, wo er sich zu melden hatte um die Autoschlüssel samt Inventarliste der
Taschen entgegen zu nehmen. Der Pförtner war russischer Abstammung und zog die
Vokale unter Anstrengung in die Breite.
„Hallo!“
„Hallo“
„Wie geht’s?“
„Gut... und ihnen?“
„Ich lebe, ich lebe“, sagte der Russe und lächelte dabei.
Roberto lächelte und schritt langsam auf die Tiefgarage zu in der das Dienstauto
stand. Ein schwarzer Rover Kombi. Schlicht. Er lud die Taschen ein und fuhr aus der
Tiefgarage auf die Straße. Seine Kollegen grüßte er selten. Keiner grüßte mehr als
selten. Alle luden schweigend ihre Taschen in die Autos und fuhren los. Roberto
mochte sie nicht. Sie hatten alle etwas gegen die Nacht, sie hatten nur im Sinn schnell
wieder zuhause zu sein und die Nacht so kurz wie möglich zu halten. Er war immer
der letzte – auch wenn andere längere Touren fuhren. Sobald er auf der Straße war,
fühlte er sich wohl. Er legte die Hörbibel in den CD-Player ein und lauschte der
Botschaft Jesu.
Manchmal, da stieg er mitten auf einer Landstraße aus und schloss die Augen, einige
Sekunden lang mit abgestelltem Motor. Totenstille. Als gäbe es niemanden außer ihm.
Bis sein Herz begann aufzuwallen und ihn die Furcht überkam, er die Augen aufriss
und ins Auto sprang, die Türen von innen verriegelte, den Motor anließ und mit aller
Gewalt aufs Gaspedal trat.
Es gab keine Gefahr. Doch er spielte mit der Vorstellung.
Die Bäume, die an ihm vorbeizogen, warfen undeutliche Schatten auf die Straße. In
einem Teil seiner Seele und seiner Augenwinkel erwartete er Gestalten aus den
Bäumen auf die Straße treten. Eine Frau, hilflos, nackt, blutüberströmt, um Hilfe schreiend. Diese
Vorstellung plagte ihn in jener Nacht auf der Tour. Dieser eine Moment, der sein
Leben für immer verändern würde. Eine hilflose Gestalt vor ihm, in der Dunkelheit.
Immer wenn er sich darin verlor, schlug sein Herz schneller und die Gedanken
wurden kurzzeitig zum Wahn, er fuhr schneller, immer schneller und dann waren die
Gedanken plötzlich verschwunden und er wurde wieder langsamer, so wie der Schlag
seines Herzens.
„Und ob ich schon wanderte im finstern Tal, fürchte ich kein Unglück; denn du bist
bei mir, dein Stecken und dein Stab trösten mich.“
Lauschend fuhr er weiter durch die Nacht.