Der Nachmieter
Rüdiger saß im Sessel und die Federn im Sitzkissen verichteten schon seit 2 Jahrzehnten ihre Arbeit.
Sie wurden zusammengedrückt als Rüdiger seinen Schwerpunkt auf die rechte Seite verlagerte und nach dem Glas Wein griff, das dort schon seit Beginn der Sendung stand und sich langsam auf Zimmertemperatur erwärmte. Rüdiger führte seine Hand zum Mund, die Federn entspannten sich wieder und er nahm einen Schluck aus dem Glas.
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Die alkoholische Flüssigkeit spülte durch seine Mundhöhle, er ließ sie mit langsamen Zungenbewegungen hin und her schwappen und schluckte, als einige elektronische Impulse den Synapsen in seinem Kopf mitteilten, dass die Rezeptoren auf der Zunge und in seinem Rachenraum von C2H5-Elementen betäubt wurden, den Wein hinunter.
Mit dem Zurückstellen des Glases begann wieder das Belasten der Federn, die leise ächzten und die Belastung an die kleinen Metallplättchen, mit denen sie am Rahmen des Sessels befästigt waren, weitergaben.
Der Elektronenstrahl im alten Fernseher zeichnete 50 doppelte Fernsehbilder in der Sekunde, die von Rüdigers Auge als ungefähr 25 komplette Bilder wahrgenommen und in seinem Kopf zu einem bewegten Film zusammengesetzt wurden. Mit den zusätzlichen Informationen, die der Fernseher über einen quäkigen Lautsprecher aussandte und die nach etwa 0,01 Sekunden von Rüdigers Ohr empfangen wurden, konnte das Gehirn den vollen Zusammenhang zwischen Bild und Ton herstellen und Rüdiger mitteilen, was ihm der Fernseher vermitteln wollte.
Die letzten Schallwellen, die das Gehirn verarbeitete, ergaben einen Satz, der mit "...beginnend mit dem höchsten" endete.
Von früheren Fernsehabenden wusste Rüdiger schon, was gleich passieren würde und so reagierte sein Gehirn dementsprechend: einige Synapsen schickten sich an, in Rüdigers Gedächtnis nach der letzten Fussballweltmeisterschaft zu suchen, während sich die Augen auf die untere Hälfte des Fernsehschirmes ausrichteten, wo gleich 4 Spiele der deutschen Nationalmannschaft erscheinen würden, die alle siegreich ausgegangen waren. Die Ohren schalteten wieder auf Empfang um die von den Augen gesammelten Informationen etwas später bestätigen zu können.
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Draussen im ersten Stock des Hausflures stiegen schwere Stiefel die hölzerne Treppe hoch.
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Die oberste Treppenstufe wurde belastet und durch das Gewicht in der Mitte an den Seiten hochgedrückt. Dicke Stahlnägel wehrten sich gegen das Herausreissen aus den tragenden Balken der Treppe und ächzten, als sich das Metall dem alten Eichenholz widersetzte. Der Fremde hatte schon auf der vorletzten Stufe den Arm gehoben und drückte, während er zeitgleich den anderen Stiefel auf der Matte vor der Haustür absetzte (Sandkörner fielen aus dem Profil an ihrer Unterseite und kullerten wie Flipperkugeln durch die Fasern auf die Holzbohlen darunter), mit einem behandschuhten Finger den Klingelknopf in das weiße Plastikgehäuse.
Ein Stromkreis wurde geschlossen, an der Klingel im Hausflur setzt ein Elektronenaustausch ein und avtivierte damit einen kleinen Elektromagneten. Ein eiserner Schlägel innerhalb des jungen Magnetfeldes wurde angezogen, bewegte sich aber aufgrund seines befestigten Endes in einer Kreisbahn, wurde abgelenkt und schlug gegen die metallene Halbkugel, die in Schwingungen versetzt wurde und einen hellen Ton erklingen ließ. Die Schallwellen breiteten sich im Hausflur aus, prallten von Wänden und Boden ab, wurden teilweise vom weichen Stoff zweier Winterjacken verschluckt und drangen schließlich durch 2 geschlossene Türen.
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Eine verbargt die Sicht zum Wohnzimmer, die andere führte zur Küche, wo sich Mona gerade über den geöffneten Kühlschrank beugte.
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Monas Gehör verarbeitete die Schallwellen, leitete die Informationen ans Gehirn weiter, was dem aufgefangenen Geräusch eine eindeutige Situation und damit verbundene Assoziationen zuordnen konnte: Jemand hat geklingelt. Weiter gab es Befehl an die Rückenmuskeln, den Oberkörper aufzurichten und bereitete die Beinmuskeln darauf vor, sich in Kürze auf den veränderten Schwerpunkt einzurichten.
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Mona sah auf die Uhr.
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Im Inneren der Uhr wurde eine kleine Feder von einem Elektromotor solange gespannt, bis sie eine gewisse Kraft erreicht hatte, dass das mit ihr verbundene Zahnrad einen Haken hochdrücken konnte und sich weiterdrehte, bis es von einer kleinen Wippe, die der Haken im Gegenzug gesenkt hatte, wieder gestopt wurde und dabei ein leises "Tick" erzeugte. Mit dem Zahnrad wurde der Sekundenzeiger um 6° weiterbewegt. Die angezeigte Zeit sagte Mona, dass es schon ziemlich spät für Besucher sein müsste - da erreichte neue Schallwellen ihr Ohr. Das Gehirn sammelte fleissig die Geräusche ein und wusste 0,9 Sekunden später wo deren Quelle lag und auch ihre Bedeutung. Rüdiger hatte sie aus dem Wohnzimmer mit einem barschen "Gehma ran" angewiesen, dem unbekannten Besucher zu öffnen.
Mona hob den Arm und ihre Bizepsmuskeln zogen sich auf einen Impuls des Gehirns zusammen.
Die Hand übertrug die erzeugte Kraft auf die Tür des Kühlschrank, welche mit einem Schmatzen zuklappte. Im Inneren des Kühlschranks wurde ein Stromkreis unterbrochen und die Lampe erlosch. In einem kleinen Plastikschälchen wuchs ein Bündel Kresse auf einem Faserblock, das sofort jegliche Photosynthesetätigkeiten einstellte als die einzige magere Energiequelle in seiner näheren Umgebung versiegte.
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Im Flur hieb Mona auf den Lichtschalter und diesmal startete sie damit einen Stromkreis.
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In den sechsarmigen Kronleuchter, der von der Decke baumelte, strömten Elektronen über ein einzelndes Kabel. Sie wurden im Inneren des Leuchters in sechs Ströme aufgeteilt und jeweils in einen Arm geleitet. Am Ende eines jeden Armes landeten die Elektronen in einer Glühbirne und wurden durch einen Faden gequetscht, der im Vergleich zu den Kabeln vorher für solch einen Elektronenstrom nicht ausgelegt war. Die Elektronen kamen ins Stocken, stießen gegeneinander und der Fluß wurde langsamer. Die mitgeschleuste Energie setzte sich als Wärme frei und der Drahtfaden im Inneren der Glühbirne begann zu Glühen. Mit dem entstehenden Licht hätte man der Kresse ein gutes Gedeihen ermöglichen können.
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Sie ging zur Tür und öffnete sie.
Der Mann im langen Mann draussen griff in seine Tasche und zog eine kleine Pistole hervor: "Guten Abend, ich bin ihr Nachmieter."
Dann hob er die Pistole, richtete sie auf Monas Gesicht und drückte ab.