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Der Nachhaltigkeitsfaktor (überarbeitete Version)
Seit vielen Jahren bin ich jetzt in meinem Job tätig. Ich war bisher immer davon überzeugt, etwas Sinnvolles zu tun, bis ich gestern zufällig ein Gespräch mit einem neuen Kollegen hatte. Danach ist mein Glaube an die Richtigkeit meiner Arbeit grundlegend erschüttert worden. Sie fragen, was ich eigentlich mache?
Haben Sie sich eigentlich schon einmal Gedanken darüber gemacht, warum eine Waschmaschine meist nach sieben bis acht Jahren kaputt geht? Wie alt ist Ihr Laptop? Oder warum sind die meisten Autos nach zwölf bis dreizehn Jahren schrottreif?
Das hat mit dem Nachhaltigkeitsfaktor zu tun. Nie gehört? Glaube ich gerne. Das ist ein Thema, welches nicht unbedingt an die Öffentlichkeit kommen soll. Mein Job besteht darin, diesen Faktor zu bestimmen. Als studierter Mathematiker bin ich bei der EU in Brüssel in der Abteilung für europäische Wirtschaftssteuerung beschäftigt. Auch nie gehört? Kein Wunder, unsere Arbeit soll gezielt im Hintergrund ablaufen. Um Ihnen meine Tätigkeit zu erklären, nehmen wir als Beispiel das Auto. Zum Einstieg ein paar Zahlen: In den fünfzehn alten EU Staaten hängen rund 12 Millionen Arbeitsplätze direkt oder indirekt vom Auto ab. Weltweit werden etwa sechzehn Millionen Fahrzeuge pro Jahr gebaut. Die Bundesrepublik nimmt über den Kraftstoff jährlich knapp 40 Milliarden Euro ein – der drittgrößte Posten im Steueraufkommen.
Nun betrachten wir die technische Entwicklung. In den siebziger Jahren des letzten Jahrhunderts, war ein PKW nach sieben-bis acht Jahren und 100.000km „klinisch tot“. Alle 5.000km musste man in die Werkstatt zum Motorölwechsel und Abschmieren. Im Laufe der Jahre wurden die Intervalle immer länger, 7.500km, 10.000km, 20.000km und heute sind 30.000km normal. Das nennt man technischen Fortschritt.
Eine positive Entwicklung hat auch der Durchschnittsverbrauch im Laufe der letzten Jahrzehnte absolviert. Fuhr man früher einen Mittelklassewagen mit 12-15l/100km so sind heutige Modelle, die deutlich schwerer sind, mit 5-8 Litern zu bewegen.
Eine angenehme Entwicklung für den Verbraucher. Dennoch – wenn man mal genauer darüber nachdenkt, muss man sich fragen, ist die technische Weiterentwicklung in den letzten Jahren stehengeblieben? Wo bleibt das Ein-Liter-Auto? Neue Reifen haben eine Profiltiefe von ca. 9 Millimetern und halten dann je nach Mischung 40.000 - 60.000 Kilometer. Warum produziert man nicht einfach Pneus mit 12 oder 15 Millimetern und fährt doppelt so lange?
Die Antwort ist mathematisch lösbar. Ich stelle Ihnen ein paar Rechenaufgaben, die Sie selbst lösen können:
Wie hoch sind die jährlichen Steuereinnahmen, wenn alle Fahrzeuge einen Verbrauch vom einem Liter haben? Wie viel Umsatz macht dann eine Tankstelle noch? Wie viele Reifen verkauft die Gummiindustrie, wenn die Dinger doppelt so lange halten?
Denken Sie mal weiter, welche Bauteile und Betriebsstoffe im Auto noch verwendet werden. Oder bei Waschmaschinen, Toastern… Denken Sie an Ihren gesamten Haushalt.
Wenn der technische Fortschritt ungezügelt umgesetzt würde, stünde binnen kürzester Zeit die gesamte Wirtschaft, ja sogar der Bestand der Gesellschaft auf der Kippe. Mein Job besteht darin, für neue Technologien und Entwicklungen eine Art Bremse einzubauen. Meine Ansprechpartner in der Industrie sind eigentlich sehr aufgeschlossen dafür.
Diese Bremse ist der Nachhaltigkeitsfaktor.
Den neuen Kollegen traf ich gestern Mittag in der Kantine. Es war mal wieder drängend voll und nur noch wenige Plätze frei. Ich grüßte und setzte mich mit meinem Tablett ihm gegenüber. Beim Nachtisch kamen wir ins Gespräch. Er erzählte, dass er promovierter Mediziner sei und in der, vor einem Jahr neu gegründeten Abteilung für Medizintechnik arbeite. Was genau er machte, konnte ich nicht herausfinden. Langatmig dozierte er über die statistisch seit Jahrzehnten immer weiter steigende durchschnittliche Lebenserwartung der in den Industrieländern lebenden Menschen und was das für die Rentenkassen und die Zusammensetzung der Gesellschaft bedeute.
Als der Gong die Mittagspause beendete, ging ich erleichtert wieder in mein Büro. Das Gespräch hatte mich gelangweilt. Nachdem mein Rechner wieder hochgefahren war, öffnete ich meine Terminplaner. Ende des Monats stand ein für mich sehr wichtiger Termin an. Ich würde einen Herzschrittmacher eingesetzt bekommen.
Plötzlich lief mir ein kalter Schauer über den Rücken. Mir ging nochmal durch den Kopf, was der Kollege eben erzählt hatte.
Die würden doch wohl nicht…