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Der Nächste
Der langhaarige bärtige Mann stand an der Straßenecke. Ein Sozialarbeiter schaute in seine Augen und fühlte sich zu ihm hingezogen. Ohne seine gewohnte Zurückhaltung wandte er sich an den Mann, der eine Art Kaftan trug, und klagte ihm sein Leid: „Wie soll ich noch der vielen Flüchtlinge, die zu mir kommen, Herr werden. Manche Probleme kann ich einigermaßen flott lösen, aber oft weiß ich gar nicht weiter. Dann muss ich eine Stelle finden, zu der ich die Hilfesuchenden schicken kann. Und vor der Tür drängeln sich die Menschen und wollen der Nächste sein ohne Rücksicht auf die Wartenummer, die sie eigentlich haben sollten.“
Unerwartet scharten sich einige Neugierige um die beiden und der Langhaarige begann zu erzählen:
„Professor Dr. Dr. Blankenschoen hatte es eilig. Er war von einem Chauffeur abgeholt worden und wurde nun in einem Dienstwagen des Bundeskanzleramts als Berater zu einer Konsultation mehrerer EU-Staaten über die Flüchtlingsfrage gefahren. Am Straßenrand sah er eine vermutlich arabische Familie sitzen. Zwei Erwachsene und vier Kinder drängten sich aneinander und an ihre wenige Habe. Sie schauten recht hoffnungslos drein.
‚Wir müssen möglichst bald zu einer sinnvollen Vereinbarung über die Aufnahmequoten kommen’, murmelte Professor Blankenschoen angesichts dieses Anblicks und bat den Fahrer, schneller zu fahren: ‚Die Konsultation soll in zehn Minuten beginnen und ich muss doch auch noch zum Sitzungssaal hinkommen.’
Er seufzte leise und rekapitulierte: ‚Man muss diese Gespräche mit hohem diplomatischen Fingerspitzengefühl führen. Niemandem zu nahe kommen, keine Entscheidungen der Regierungen in Frage stellen, aber vor allem die kleinen Stellen suchen, an denen Bewegung möglich ist, an denen die festgefügten Mauern ins Wanken geraten könnten. Das dauert alles viel zu lange, aber wenn man ungeduldig wird, rudern alle zurück und es gibt nur Rückschritte.’
Kurze Zeit später wurde das Mitglied des Bundestages Dr. Hermann Stoehr auf dem Weg zu einer Konferenz in seinem Dienstwagen an der Familie vorbeigefahren. Er schaute dieses Häuflein an und murmelte: ‚Dieses Treffen ist wirklich dringend erforderlich. Die Hilfsorganisationen werden uns erzählen, wo es noch nicht rund läuft und wir können von den jüngsten weitreichenden Beschlüssen der Regierung erzählen. Ich hoffe vor allem, das wir von weitschweifigen allgemeinen Statements verschont werden und konkrete Vorschläge und Ideen sammeln können. Es gibt so viele Möglichkeiten zu helfen und es gibt viele Bürger, die sich ehrenamtlich engagieren wollen. Wir benötigen auf jeden Fall tragfähige Strukturen, damit nicht jeder wild vor sich hin arbeitet und letztlich das Chaos ausbricht.’ Zufrieden lehnte sich Dr. Stoehr in seinem weichen Sitz zurück.
Dann kam Alan Manschur in seinem alten Mercedes angefahren. Er lebte seit zwölf Jahren in Deutschland und arbeitete bei der Berliner Müllabfuhr, wo er den Spitznamen Türke-Ali verpasst bekommen hatte. Dabei war er ein irakischer Kurde. Als er die Familie sah, bremste er und fuhr einfach auf den Bürgersteig, stieg aus und lief zu der Familie zurück.
‚Friede mit euch. Was ist euch geschehen?’
Der Vater hob den Kopf, während die Familie zu Boden schaute. ‚Wir haben einen Hotelschein bekommen. Aber dort ist kein Platz mehr. Wir wurden weggeschickt und wissen nicht, was wir tun sollen.’
Alan sah sich das amtlich gestaltete Formular aufmerksam an. ‚Wegen Überbelegung Aufnahme abgelehnt’, las er die Antwort des Hotels. ‚Ich werde mich darum kümmern, aber erst einmal kommt ihr mit.’
Er nahm zwei Pappkoffer in die Hände und lotste die Familie zu seinem Auto. Sobald alle eingeladen waren, fuhr er los.
‚Wohin reisen wir?’
‚Ich bringe euch in meinen Garten. Dort steht ein kleines Häuschen und ich habe gerade ein großes Zelt für die Party am Wochenende aufgebaut. Da könnt ihr erst einmal bleiben, bis ich mich um eine ordentliche Unterkunft für euch gekümmert habe.’
Wer ist nun in dieser kleinen Geschichte der Nächste?“
Je länger der Langhaarige erzählte, desto ärgerlicher wurde der Sozialarbeiter. Wieso hatte er diesen Penner überhaupt angesprochen? Hatte er wirklich gedacht, dieser Typ könnte ihm helfen? „Ach hör doch auf mit dieser abgehobenen Sozialkacke. Sicher, wir brauchen auch Menschen die anpacken können und Ahnung haben. Ehrenamtliche Helfer sind unbedingt erforderlich. Aber Träumer, die sich eine bessere Welt wünschen, helfen gar nicht. Das wichtigste für eine erfolgreiche Arbeit sind eine funktionierende Organisation und eine kompetente Leitung. Sonst rennt doch jeder barmherzige Samariter auf eigene Faust los und schließlich hat ein Asylbewerber zwanzig Hilfspakete erhalten, weil er so mitleidserregend gucken kann und andere bekommen gar nichts. Ihre Geschichte ist einfach völlig daneben. Jeder von den dreien hilft so, wie er es am besten kann. Bei Ihnen klingt das ja, als ob nur die spontane direkte Hilfe gut ist. Soll ich etwa meine Beratungsstelle schließen und auf den Straßen umherwandern? Nein, Ihre Geschichte ist einfach nur dumm.“
Der Sozialarbeiter grummelte noch weiter und verschwand, wobei er vor sich hin gestikulierte. Auch die anderen Zuhörer zerstreuten sich und nur der Langhaarige blieb auf dem Gehweg stehen, richtete seinen Blick zum Himmel und murmelte. Dann breitete er hilflos die Arme aus und ging.