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Der Nächste

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03.07.2004
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Der Nächste

Der langhaarige bärtige Mann stand an der Straßenecke. Ein Sozialarbeiter schaute in seine Augen und fühlte sich zu ihm hingezogen. Ohne seine gewohnte Zurückhaltung wandte er sich an den Mann, der eine Art Kaftan trug, und klagte ihm sein Leid: „Wie soll ich noch der vielen Flüchtlinge, die zu mir kommen, Herr werden. Manche Probleme kann ich einigermaßen flott lösen, aber oft weiß ich gar nicht weiter. Dann muss ich eine Stelle finden, zu der ich die Hilfesuchenden schicken kann. Und vor der Tür drängeln sich die Menschen und wollen der Nächste sein ohne Rücksicht auf die Wartenummer, die sie eigentlich haben sollten.“
Unerwartet scharten sich einige Neugierige um die beiden und der Langhaarige begann zu erzählen:

„Professor Dr. Dr. Blankenschoen hatte es eilig. Er war von einem Chauffeur abgeholt worden und wurde nun in einem Dienstwagen des Bundeskanzleramts als Berater zu einer Konsultation mehrerer EU-Staaten über die Flüchtlingsfrage gefahren. Am Straßenrand sah er eine vermutlich arabische Familie sitzen. Zwei Erwachsene und vier Kinder drängten sich aneinander und an ihre wenige Habe. Sie schauten recht hoffnungslos drein.
‚Wir müssen möglichst bald zu einer sinnvollen Vereinbarung über die Aufnahmequoten kommen’, murmelte Professor Blankenschoen angesichts dieses Anblicks und bat den Fahrer, schneller zu fahren: ‚Die Konsultation soll in zehn Minuten beginnen und ich muss doch auch noch zum Sitzungssaal hinkommen.’
Er seufzte leise und rekapitulierte: ‚Man muss diese Gespräche mit hohem diplomatischen Fingerspitzengefühl führen. Niemandem zu nahe kommen, keine Entscheidungen der Regierungen in Frage stellen, aber vor allem die kleinen Stellen suchen, an denen Bewegung möglich ist, an denen die festgefügten Mauern ins Wanken geraten könnten. Das dauert alles viel zu lange, aber wenn man ungeduldig wird, rudern alle zurück und es gibt nur Rückschritte.’

Kurze Zeit später wurde das Mitglied des Bundestages Dr. Hermann Stoehr auf dem Weg zu einer Konferenz in seinem Dienstwagen an der Familie vorbeigefahren. Er schaute dieses Häuflein an und murmelte: ‚Dieses Treffen ist wirklich dringend erforderlich. Die Hilfsorganisationen werden uns erzählen, wo es noch nicht rund läuft und wir können von den jüngsten weitreichenden Beschlüssen der Regierung erzählen. Ich hoffe vor allem, das wir von weitschweifigen allgemeinen Statements verschont werden und konkrete Vorschläge und Ideen sammeln können. Es gibt so viele Möglichkeiten zu helfen und es gibt viele Bürger, die sich ehrenamtlich engagieren wollen. Wir benötigen auf jeden Fall tragfähige Strukturen, damit nicht jeder wild vor sich hin arbeitet und letztlich das Chaos ausbricht.’ Zufrieden lehnte sich Dr. Stoehr in seinem weichen Sitz zurück.

Dann kam Alan Manschur in seinem alten Mercedes angefahren. Er lebte seit zwölf Jahren in Deutschland und arbeitete bei der Berliner Müllabfuhr, wo er den Spitznamen Türke-Ali verpasst bekommen hatte. Dabei war er ein irakischer Kurde. Als er die Familie sah, bremste er und fuhr einfach auf den Bürgersteig, stieg aus und lief zu der Familie zurück.
‚Friede mit euch. Was ist euch geschehen?’
Der Vater hob den Kopf, während die Familie zu Boden schaute. ‚Wir haben einen Hotelschein bekommen. Aber dort ist kein Platz mehr. Wir wurden weggeschickt und wissen nicht, was wir tun sollen.’
Alan sah sich das amtlich gestaltete Formular aufmerksam an. ‚Wegen Überbelegung Aufnahme abgelehnt’, las er die Antwort des Hotels. ‚Ich werde mich darum kümmern, aber erst einmal kommt ihr mit.’
Er nahm zwei Pappkoffer in die Hände und lotste die Familie zu seinem Auto. Sobald alle eingeladen waren, fuhr er los.
‚Wohin reisen wir?’
‚Ich bringe euch in meinen Garten. Dort steht ein kleines Häuschen und ich habe gerade ein großes Zelt für die Party am Wochenende aufgebaut. Da könnt ihr erst einmal bleiben, bis ich mich um eine ordentliche Unterkunft für euch gekümmert habe.’
Wer ist nun in dieser kleinen Geschichte der Nächste?“

Je länger der Langhaarige erzählte, desto ärgerlicher wurde der Sozialarbeiter. Wieso hatte er diesen Penner überhaupt angesprochen? Hatte er wirklich gedacht, dieser Typ könnte ihm helfen? „Ach hör doch auf mit dieser abgehobenen Sozialkacke. Sicher, wir brauchen auch Menschen die anpacken können und Ahnung haben. Ehrenamtliche Helfer sind unbedingt erforderlich. Aber Träumer, die sich eine bessere Welt wünschen, helfen gar nicht. Das wichtigste für eine erfolgreiche Arbeit sind eine funktionierende Organisation und eine kompetente Leitung. Sonst rennt doch jeder barmherzige Samariter auf eigene Faust los und schließlich hat ein Asylbewerber zwanzig Hilfspakete erhalten, weil er so mitleidserregend gucken kann und andere bekommen gar nichts. Ihre Geschichte ist einfach völlig daneben. Jeder von den dreien hilft so, wie er es am besten kann. Bei Ihnen klingt das ja, als ob nur die spontane direkte Hilfe gut ist. Soll ich etwa meine Beratungsstelle schließen und auf den Straßen umherwandern? Nein, Ihre Geschichte ist einfach nur dumm.“
Der Sozialarbeiter grummelte noch weiter und verschwand, wobei er vor sich hin gestikulierte. Auch die anderen Zuhörer zerstreuten sich und nur der Langhaarige blieb auf dem Gehweg stehen, richtete seinen Blick zum Himmel und murmelte. Dann breitete er hilflos die Arme aus und ging.

 

Hallo Feuerwanze,

ich habe mich über Dein Profil gefreut. Ich bekomme ab und an zu hören, meine Geschichten seien micht emotional genug. Sie sind nicht sehr emotional, das ist richtig und ich freue, jemandem zu begegnen, der auch nicht für zu viele Emotionen ist.

Den Fehler habe ich ausgebessert. Und Deine Frage: ich denke, Du bist auf dem richtigen Weg.

Liebe Grüße

Jobär

 

Das ist schon mal eine ungewöhnliche Idee und ich denke, es ist gut, wenn wir aus eingefahrenen Gleisen herauskommen und auch mal anders agieren, als wir es gewohnt sind. Warum beschränken sich die "wichtigen" Menschen auf ihre Sitzungen und Diskussionen. Jetzt begeben sich zwar einige auf Reisen, aber spontan zu handeln, wenn einem Hilfsbedürftige vor die Augen kommen - das fällt doch vielen schwer.

 
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Ich lehne mich jetzt einfach mal aus dem Fenster, Jobär.
Sich eines brisanten Themas anzunehmen, weil es einem unter den Nägeln brennt, mag zwar ein hehres Ansinnen sein, aber es bedeutet nicht zwangsläufig, dass daraus eine gute Geschichte wird.
Ja, als (literarische) Geschichte finde ich den Text misslungen.

Der langhaarige bärtige Mann stand an der Straßenecke. Ein Sozialarbeiter schaute in seine Augen und fühlte sich angenommen.
Ein Sozialarbeiter fühlte sich angenommen.
Hm. Ich hab den Satz einfach nicht kapiert, also eigentlich hab ich die ganze Szene, die die ersten zwei Sätze beschreiben, nicht kapiert. Schon die Formulierung: ein Sozialarbeiter, nicht der Sozialarbeiter, klang eigenartig, als würde da nicht ein Individuum auftreten, sondern ein Typus, der eine bestimmte Rolle zu spielen hat.

Er wandte sich an den Mann, der eine Art Kaftan trug, und klagte ihm sein Leid: „Wie soll ich noch der vielen Flüchtlinge, die zu mir kommen, Herr werden. Manche Probleme kann ich einigermaßen flott lösen, aber oft weiß ich gar nicht weiter. Dann muss ich eine Stelle finden, zu der ich die Hilfesuchenden schicken kann. Und vor der Tür drängeln sich die Menschen und wollen der Nächste sein ohne Rücksicht auf die Wartenummer, die sie eigentlich haben sollten.“
Einige Neugierige scharten sich um die beiden und der Langhaarige begann zu erzählen:
Offenbar ist dieser erste Absatz nur so eine Art einleitende Rahmenhandlung für die nun folgende Erzählung des Langhaarigen. Kapieren tu ich sie trotzdem nicht. Soll ich mir das so vorstellen, dass irgendein Typ einen anderen wildfremden Typen auf der Straße einfach anquatscht und ihm von seinen Problemen im Job vorjammert? Und dass sich dann gleich mal ein Haufen Passanten um die beiden schart? Soll ich mir das echt als eine glaubwürdige Situation vorstellen?
Also da hatte ich schon den Verdacht, es hier nicht mit einer in sich stimmigen Geschichte zu tun zu haben, sondern mit so einer Art … äh, so einem parabelhaften Ding halt. Vielleicht gar mit einer Analogie zu Jesuslegenden, was ja schon das Outfit des Typen nahelegt. Und erst recht der letzte Satz der Geschichte:

der Langhaarige blieb auf dem Gehweg stehen, richtete seinen Blick zum Himmel und murmelte. Dann breitete er hilflos die Arme aus und ging.

Und dann kommt halt dieser Monolog des Langhaarigen, also wörtliche Rede. Jetzt ist das aber in einem Sprachduktus verfasst, in dem kein Mensch üblicherweise redet. Präteritum, Plusquamperfekt – das verwendet doch niemand in der Alltagssprache.

Er lebte seit zwölf Jahren in Deutschland und arbeitete bei der Berliner Müllabfuhr, wo er seinen Spitznamen verpasst bekommen hatte.

Zufrieden lehnte sich MdB Dr. Stoehr
usw.

Und überdies erzählt der Kaftanträger nicht zusammenfassend, sondern als wäre er im Moment Zeuge der Szenen. Sogar was die Figuren, von denen er erzählt, sagen, zitiert er wortwörtlich. (Was du wiederum in Anführungszeichen setzt, was wiederum mich stört, weil Anführungszeichen als Kennzeichnung wörtlicher Rede innerhalb einer wörtlichen Rede einfach eigenartig ausschauen.)

Also auch dieser Teil wirkt aufgrund der verwendeten Sprache vollkommen unglaubwürdig auf mich. Und überhaupt: Worüber redet der Typ da? War er dabei, wie das geschehen ist? Oder denkt er sich das gerade aus, weil er seinen Zuhörern damit quasi gleichnishaft was vermitteln will? So wie es weiland Jesus ja angeblich auch getan haben soll? Hm.
Und dann diese Gegenüberstellung der drei Figuren: Die zwei abgehobenen, wenn auch beflissenen Politiker/Verantwortungsträger in ihren Dienstlimousinen mit Chauffeur und weichen Sitzen und auf der anderen Seite der Türken-Ali in seinem klapprigen Mercedes. Und natürlich ist es der brave Ali, der ganz pragmatisch das Naheliegendste tut und einfach hilft, wie weiland der heilige Martin. Also ich weiß nicht, hier lässt du aber wirklich kein Klischee aus.
Na ja, und die Botschaft, die ich daraus offenbar mitnehmen soll, ist ehrlich gesagt doch eine Binse: Wir werden die Welt nur dann zu einem besseren Ort für alle machen können wenn jeder, wirklich jeder sich ununterbrochen seiner persönlichen Verantwortung für diese Welt und deren Menschen bewusst ist und entsprechend handelt. Und diese Verantwortung nicht an irgendwelche anonymen Entscheidungsträger delegiert.

Noch einmal, Jobär, deine Absicht in Ehren, dich überhaupt mit diesem Thema zu beschäftigen. Allerdings funktioniert der Text in der jetzigen – beinahe surreal wirkenden - Form für mich überhaupt nicht. Ich glaube, dass man dem Thema eher gerecht werden kann, wenn man es irgendwie realitätsnäher behandelt. (Wie es z. B. barnhelm so wunderbar und eindrücklich in ihrem Blogbeitrag vom 14.8. gelungen ist.) Oder meinetwegen eine überzeichnete Groteske schreibt, wie es z. B. Simba mit Flüchten macht frei so berührend vorgeführt hat.
Mich brächte es vermutlich mehr zum Nachdenken, wenn ich literarisch glaubwürdige Szenen mit authentischen Figuren lese, anstatt eine seltsame Mischung aus einer real wirken wollenden Szene und quasi Fantasyfiguren, die in einer Kunstsprache reden.

Oder anders gesagt, eigentlich versteh ich überhaupt nicht, was genau du mir mit dieser Geschichte erzählen willst, was deine Intention dahinter ist.
Aber vielleicht steh ich auch einfach nur auf der Leitung.


offshore

 

Lieber ernst offshore,

um die Verwirrung anzuheizen, habe ich gerade noch eine Geschichte veröffentlicht, in der aber noch nicht einmal Menschen vorkommen, so dass sie wohl noch surrealer ist.
Ist schade, dass mein*Stil bei Dir nicht ankommt. Aber einen*Satz noch zu meiner Intention: Ist das Jesus-Gleichnis vom barmherzigen Samariter eigentlich noch zeitgemäß?

Danke für Deine Kritik
LG

Jobär

 
Zuletzt bearbeitet:

Jobär schrieb:
Ist schade, dass mein*Stil bei Dir nicht ankommt. Aber einen*Satz noch zu meiner Intention: Ist das Jesus-Gleichnis vom barmherzigen Samariter eigentlich noch zeitgemäß?

Sofern man sich auf die Bibel einlässt, findet man darin wohl jede Menge Gleichnisse von immerwährender Gültigkeit, darüber sind wir uns wohl einig, Jobär, ob man nun gläubig ist oder nicht.
Aber ich glaube halt, dass es nicht reicht, wenn man einfach eines dieser Gleichniisse nimmt und in die Gegenwart transformiert. Noch einmal, ich erkenne ntürlich die Botschaft, die in deinem Text steckt, allerdings gefällt mir die Form nicht, in der du sie verpackst. Und das hat nichts mit deinem Stil zu tun, sondern mit der Dramaturgie und der mangelnden Nachvollziehbarkeit der Szene.
Das Ganze wirkt auf mich einfach sehr, sehr unausgegoren und der Dramatik des Flüchtlingsproblems einfach nicht angemessen.

 

Hi Jobär,
da hast du dich eines hochbrisanten Themas angenommen; sicherlich nicht einfach. :(

Also, ehrlich gesagt kommt mir die Geschichte wie ein biblisches Gleichnis vor; das könnte auch Absicht gewesen sein. Der bärtige Mann, klar ...

Nicht verstanden habe ich:

( ... ) Ein Sozialarbeiter schaute in seine Augen und fühlte sich angenommen.

Was meinst du mit "angenommen?".

Die Geschichte ist schön geschrieben, wenn ich sie lese, lese ich sie mit einem inneren Ton, mit der ich Fabeln, Gleichnisse lese. Das kommt auch dem gewählten Sprachstil entgegen.

Mir gefällt nicht, dass du den Dr. Dr. Blankenschoen und den Dr. Hermann Stoehr anreißt, aber eigentlich nicht ausführst, um direkt den Türken-Ali ins Spiel zu bringen, der dann das Problem gleich löst. Das macht die Geschichte unrund. Die Lösung selbst (Gartenhäuschen und dann sehen wir weiter) gefällt mir natürlich schon.

Als Gleichnis kann man die Geschichte gelten lassen, wirklich literarisch ist das in meinen Augen aber nicht.

Lass dich nicht entmutigen, das ist nur eine persönliche Meinung von Freegrazer, der deine Beiträge eigentlich gerne liest!

Liebe Grüße,

Freegrazer

 
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Hallo Freegrazer,

danke für Deine Kritik. Ja, es ist die "moderne" Fassung des alten Gleichnisses vom barmherzigen Samariter, wobei es mir eher darauf ankam, dass es vielleicht nicht so einfach ist, zu sagen, der hats richtig gemacht.

Du machst einige Vorschläge, über die ich weiter nachdenken werde und schauen, wie ich sie umsetze.

Vielen Dank

Jobär

Nachtrag: Ich habe versucht, die Geschichte zu erweitern und Deine Kritikpunkte dabei zu berücksichtigen.

31.08.2015

Jobär

 

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