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Der Morgen

Poe

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18.07.2003
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Der Morgen

Morgen

Der Duft, den ich gleich nach dem Aufwachen einatmete, war mir fremd. Lavendel, dachte ich, irgendetwas Blumiges auf jeden Fall, also nicht mein Kopfkissen. Bevor ich es wagte, die Augen zu öffnen, tastete ich vorsichtig das Bett nach weiteren Personen ab, doch ich schien glücklicherweise die einzige zu sein, die in diesem Moment hier lag. Fest stand allerdings, dass das nicht die ganze Nacht so gewesen sein konnte, denn in den siebenundzwanzig Jahren meines Lebens war ich noch nie auf ein herren-, oder vielmehr damenloses Bett getroffen, dass nach Lavendel roch. Vorsichtig drehte ich meinen Kopf und blinzelte. Ich war alleine. Vielleicht hatte ich ja doch nur hier übernachtet, ohne dass irgendetwas passiert war, doch während ich mich erhob und nach den letzten Erinnerungen an den vergangenen Abend kramte, wurde mir schnell bewusst, dass diese Hoffnung eher unwahrscheinlich war. Die letzte Kneipe, an die ich mich erinnern konnte, war das Creamy Cheese, das nur zwei Straßen von meiner Wohnung entfernt lag. Warum sollte ich also um ein anderes Nachtquartier gebeten haben, wenn das eigene keine fünf Minuten weit weg war? Hinzu kam, dass man im Normalfalle auf Sofas oder Schlafcouchen erwachte, wenn man als reiner Übernachtungsgast eingeladen wurde. Ich suchte meine Jeans und mein Hemd und entdeckte sie schnell auf dem Schaukelstuhl, der in einer Ecke des großzügigen Schlafzimmers stand. Das Zimmer war sehr hübsch eingerichtet, ein wenig kitschig vielleicht, aber doch recht ansprechend. Möbel wie Kleiderschrank, Kommode und Bücherregale waren in Kiefernholz gehalten, das Bett, ein französisches, war aus Messing und mit blauer Satinbettwäsche bezogen. An den Wänden hingen Bilder, die nicht unbedingt meinem Geschmack entsprachen, allerdings auch niemandem weh taten: Van Goghs „Café de Nuit“, Picassos „La Casserole Emaillée“ und irgendein impressionistisches Landschaftsbild, dessen Maler ich nicht kannte. Während ich mein Hemd zuknöpfte warf ich einen Blick in das Bücherregal, dessen Inhalt mich genauso wenig überraschte wie die Bilder an den hellgelben Wänden. Ein paar Bücher, die wohlmöglich noch aus Schulzeiten stammten, das verriet nicht nur der Zustand des Einbandes, Hesses gesammelte Werke, die Romane von Zimmer Bradley und mehrere Gedichtbände von Erich Fried. Ich war im Schlafzimmer einer Frau, dass stand eindeutig fest. Wahrscheinlich war ihr Haar mit Henna gefärbt und sie trug weite Pullover und enge Jeans, studierte Sozialpädagogik oder auf Lehramt.

Mein Kopf schmerzte. So sehr ich mich auch an das Ende des Abends zu erinnern versuchte, ich kam über mein erstes Bier im Cheese nicht hinaus. Eigentlich war es nicht meine Art, mit Erinnerungslücken in fremden Wohnungen zu erwachen, aber ich musste mir eingestehen, dass es in den vergangenen Monaten immer häufiger vorkam, wenn auch nicht immer gleichzeitig, und dass mir dieser Zustand nicht wirklich gefiel. Vielleicht war das eine typische Randerscheinung des Singledaseins, immerhin Neuland für mich, erst vor wenigen Monaten aus einer vierjährigen Beziehung entlassen.

Ich warf einen Blick auf den Schreibtisch, der für meine Begriffe zu aufgeräumt wirkte, als dass wirklich an ihm gearbeitet würde. Ich hatte gehofft, vielleicht ein Foto oder etwas anderes zu finden, dass mir ein wenig über die Besitzerin der Wohnung verriet, doch abgesehen von ein paar Zeitschriften, einem Füllfederhalter und einem unbeschriebenen Block hatte er nichts zu bieten. Also warf ich einen kurzen Blick in den Spiegel, ordnete mein Haar und ging vorsichtig zur Tür, um den Schritt in das nächste Zimmer zu wagen.

„Guten Morgen“, schallte mir eine unbekannte Stimme entgegen, deren Besitzerin ich nicht sehen konnte, „das Bad ist geradeaus und dann die erste Türe links, wenn Du unter die Dusche springen möchtest, sonst setzt sich an den Tisch, das Frühstück ist gleich fertig.“ Schweigend ging ich in die Mitte des Raumes, der das Wohn- und Esszimmer bildete, und dem Schlafzimmer stilistisch sehr ähnlich war. Selbst der steinerne Buddha, der mir als Freund der fernöstlichen Philosophie ein positives Gefühl hätte geben müssen, änderte nichts an dem Unwohlsein, das sich in meinem Magen festgesetzt hatte. Während ich überlegte ob ich mich an den Tisch setzen, im Bad verschanzen oder aus der Wohnung flüchten sollte, betrat sie das Zimmer und stellte ein Tablett mit Brot, Marmeladen und Obst auf den Tisch.
Lächelnd kam sie auf mich zu und gab mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund, wie es nur sehr vertraute Menschen machten.
„Was ist los mit Dir, nicht gut geschlafen?“ Sie drehte sich um und ging zurück zum Esstisch. Sie war hübsch, sehr hübsch, hatte naturrotes, lockiges Haar, zu einem Zopf zusammengebunden, trug nur einen schwarzen String und darüber ein offenes Hemd, dass den Blick auf ihre Brüste hin und wieder freigab. Diese Vertrautheit war mir unangenehm und ich wandte meinen Blick von ihr ab, aus Angst, sie unentwegt anstarren zu müssen. Sie trug fast nichts, küsste mich und ich kannte nicht einmal mehr ihren Namen.
„Trinkst Du Kaffee oder Tee?“ fragte sie, als sie wieder in der Küche verschwand.
„Schwarzen Kaffee“, antwortete ich, um nicht unhöflich zu sein und verschwand in Richtung Bad.
„Ich habe Dir ein sauberes Handtuch herausgelegt“, rief sie mir nach, „und die blaue Zahnbürste ist auch für Dich.“
Mir war, als würde ich diese Frau erst wenige Sekunden kennen, wenn man von kennen überhaupt sprechen konnte, und schon hatte ich mein eigenes Handtuch und meine eigene Zahnbürste. Bei Laura, meiner Ex-Freundin, hatte es immerhin vierzehn Tage gedauert, bis die Zeit der eigenen Zahnbürste gekommen war. Bis dahin musste ich mit der winzigen Reiseversion auskommen, die ich immer in meiner Lederjacke trug.

Das Bad war weiß gefliest und mit allem ausgestattet, was in das Badezimmer einer jungen Frau gehörte: Ein weinrotes Duftpotpourri, Kerzen, mehrere Flaschen Badezusatz und verschiedene Lotionen, sowie eine stattliche Sammlung winziger Parfumflakons, die in einem Setzkasten neben dem Spiegel untergebracht waren. Während ich mich auszog fragte ich mich, ob in dem Schrank unter dem Waschbecken auch schon mein eigenes Rasierzeug auf mich wartete. Ich suchte ein recht neutral riechendes Duschgel und drehte das Wasser auf. Eiskalt lief es meinen Körper hinunter. Wäre ich ehrlich zu ihr, würde ich erzählen, dass ich mich an nichts mehr erinnerte und deshalb nur ungern mit ihr frühstücken würde, wäre sie sicherlich nicht sonderlich angetan gewesen. Allerdings wäre die Geschichte damit recht schnell beendet. Andererseits war es gefährlich, sich mit ihr an den gedeckten Tisch zu setzen und zu unterhalten, denn spätestens, wenn das Gespräch auf den gestrigen Abend kommen würde, hätte ich nicht mehr mitreden können.

Während ich mich mit dem großen, weißen Handtuch abtrocknete, entschloß ich mich für die letzte Variante, nicht nur, weil ich ein wenig hungrig war. Ich zog mich an und setzte mich zu ihr an den Tisch.
„Ich bin echt froh, dass ich Dich noch getroffen habe“, begann sie, während sie sich ein Croissant und etwas Himbeermarmelade nahm, „vorher war das irgendwie nicht so mein Abend.“
Ich blickte Sie erwartungsvoll an und bis in mein Brötchen, um eine Antwort zu umgehen.
„Naja, eigentlich war ich mit jemand anderem verabredet, ich weiß nicht, ob ich Dir das erzählt habe.“
„Nein“, antwortete ich bestimmt und nahm einen Schluck Kaffee.
„Ach, so ein Typ von der Uni, David heißt er, nicht sonderlich interessant, aber ganz nett.“
Sie studierte also.
„Und dieser David hat Dich versetzt. Hat er wenigstens abgesagt?“
„Er hat ’ne SMS geschrieben. ‚Schaffe es heute doch nicht. David’. Sonst nichts, und die kam auch noch eine Stunde nach der ausgemachten Zeit.“
Hätte er sie nicht wenigstens anreden können? Ein kurzes ‚Hi Yvonne’ oder ‚Hallo Nadine’ hätte gereicht, um mir wenigstens den Namen zurück in Erinnerung zu rufen.

„Arschloch“, kommentierte ich knapp, und wandte mich erneut dem Frühstück zu. Auch die Tatsache, dass ich nun immerhin eine Sache über sie wusste, änderten nichts an dem Unbehagen, dass mich umfing.
„Aber zum Glück gibt es ja noch andere Männer“, lächelte sie mich an.
Ich fühlte mich elendig schlecht. Es war gewiss kein feiner Zug, ein Mädchen zu versetzen, aber mit einer Frau ins Bett zu gehen und sich am anderen Tag an nichts mehr zu erinnern war eine ganz andere Liga, und bestimmt keine höherklassige.
Ich lächelte verkniffen zurück und versuchte, meinen Blick im Honigglas zu verstecken.
„Du, war das eigentlich ernst gemeint, was Du gestern gesagt hast?“ fragte sie nach einer kurzen Pause. Es war es soweit. Jetzt hätte mir auch kein Name mehr geholfen. Nur noch wenige Sätze und Tränen würden fließen, Geschirr würde fliegen, und ein Herz wäre gebrochen.
„Was denn?“ fragte ich unschuldig und legte mein charmantestes Lächeln auf. Ich hatte in der Schule Theater gespielt, 15 Punkte für eine Rolle im Sommernachtstraum bekommen und hoffte nun, dass noch ein wenig Talent übrig geblieben war.
„Na“, sie atmete ein, „dass Du seit einem halben Jahr nicht mehr verliebt warst und dass es, na ja, dass es jetzt wieder passiert sei.“
Mein Gott. Ich kannte diese Frau nicht. Nicht mehr. Vielleicht war es gestern tatsächlich so, aber heute... Ich wusste nicht einmal in welcher Straße ich gelandete war, konnte nur hoffen, dass ich mich noch in meiner Stadt befand.
„Mmmh.“ Immer noch trug ich dieses Lächeln und mir war, als würde ich es den Rest meines Lebens behalten müssen. Ich stand auf, ging zum Fenster und blickte hinaus. „Darf ich?“ fragte ich und zeigte ihr meine Zigarettenschachtel.
„Ausnahmsweise. Ich hol’ Dir einen Aschenbecher.“

Ich öffnete das Fenster, zündete eine Zigarette an und blickte hinaus. Ich war noch in meiner Stadt, gar nicht so weit von meiner Wohnung entfernt. Wenn wir nicht im dritten Stock gewesen wären, dann wäre ich wohlmöglich gesprungen und gerannt.
„Hier.“ Sie stellte den Aschenbecher auf die Fensterbank und setzte sich zurück an den Tisch, das Hemd zugeschlagen und die Arme verschränkt.
„Wenn Dir zu kalt ist, dann kann ich auch...“
„Nein, ist schon ok.“
„Ok.“ Ich machte eine Pause und holte tief Luft. Ich wollte nach Hause, wohin auch immer, auf jeden Fall raus aus dieser Wohnung.
„Naja, ich habe Dir doch von Laura erzählt, oder?“
Sie nickte.
„Weißt Du, ich mag Dich, Du bist eine unglaublich schöne Frau, Du bist charmant, hast göttliche Augen, kochst tollen Kaffee.“
Sie lachte.
„Aber irgendwie... irgendwie geht mir das alles zu schnell. Ich meine, wir kennen uns doch gar nicht.“ Ich hatte immerhin die Wahrheit gesagt. Das redete ich mir auf jeden Fall ein.
Sie stand auf und stellte sich neben mich. Statt der erwarteten Ohrfeige nahm sie mich in den Arm, nicht sinnlich, eher freundschaftlich.
„Vielleicht ist das ganze tatsächlich ein wenig zu schnell gegangen.“
Sie legte ihren Kopf auf meine Brust und atmete tief ein.
„Die letzte Nacht war echt schön, aber eigentlich ist so was auch nicht mein Ding.“
Ihre Hände lösten sich und fassten um meine Hüfte.
„Wir sollten noch einmal ganz von vorne anfangen“, sagte sie, gab mir einen Kuss und lachte.
„Ich bin Tina.“

 

Hallo Poe,

das ist aber mal eine originelle Masche von der Kleinen :)

Lustige Geschichte :)

Gruß
Rainman

 

Hallo Poe,
ich finde deine Geschichte sehr gut geschrieben. Man kann mit den Protagonisten richtig mitfühlen. Du schilderst sehr anschaulich und spannend.
Großes Lob! Marion

 
Zuletzt bearbeitet:

Hallo ihr beiden!

Ich freue mich, dass Euch meine Geschichte gefällt. Der Schluss hat mir eigentlich am meisten Kopfschmerzen bereitet. Dass das Ganze mit "Ich bin Tina!" aufhört stand fest, aber mir war, als sei die Hinleitung zu "plötzlich", im Vergleich zu der sehr langen Vorgeschichte...
Aber da das keinem von Euch aufgestoßen ist, nehme ich an, dass das vielleicht nur die übliche "Unzufriedenheit mit dem eigenen Werk" war...
Nochmal danke für das Lob!!!

Volker

 

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