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Der Morgen danach
Langsam öffnete sie die Augen und blinzelte in das Sonnenlicht, das sich seinen Weg durch die nur grob zugezogenen Vorhänge bahnte und ihr direkt ins Gesicht fiel. Das Dunkelrot schien ihr nicht vertraut. Sie rieb sich die Augen, die inzwischen leicht verklebt waren von der Mascara, ein unangenehmes Gefühl. Nochmal blinzelte sie und langsam gewöhnten sich ihre überreizten Augen an das Licht und sie nahm ihre Umgebung wahr. Die dunkelroten Vorhänge verdeckten eine große Fensterfront, in der Ecke gegenüber stand ein großer dunkler Sessel, voll bepackt mit allen möglichen Kleidungsstücken. Über ihr hing eine dieser hässlichen, runden Ikea-Lampen, in Lila, wenigstens nicht weiß. Die Erinnerung an die letzten Stunden vor dem Schlaf sickerte durch. Vorsichtig drehte sie ihren Kopf zur Seite um einen Blick auf ihn zu erhaschen, was gar nicht so einfach war, in dem Wust aus Decken und Kissen. Bitte lass ihn nicht aufwachen. Der Sex war gut gewesen, so fern sie sich noch daran erinnern konnte. Sie hatten doch eine gefühlte halbe Stunde rumgetan bis er schließlich erschöpft und verschwitzt über ihr zusammen gefallen war. Sie erinnerte sich noch an die Kondomkontrolle, alles war in Ordnung gewesen. Dann verschwand er in die Dusche und sie war wohl einfach eingepennt. Er war ihr also noch einen Orgasmus schuldig, aber den wollte sie jetzt auch nicht mehr einfordern. Der Morgen danach. Vorsichtig wand sie sich aus der Decke und krabbelte aus dem Bett. Wenn sie es schaffte ihre Kleidung aufzusammeln ohne dass er wach wurde, konnte sie sich aus der Wohnung stehlen. Er war keiner gewesen, mit dem sie noch das Frühstück verbringen wollte. Nett, relativ gut aussehend, groß und muskulös. Aber auch ordentlich, angepasst und naja, vielleicht langweilig. Gut für einen One-Night-Stand, aber nicht mehr. Während sie auf Zehenspitzen über den Teppichboden schlich und ihre Unterwäsche anzog, fiel ihr Blick auf sein Gesicht. Es war durchaus schön. Dunkle Wimpern und Brauen, drei Tage Bart um ein kantiges Kinn, geschwungene Lippen. Sie erinnerte sich an den ersten Kuss im Club gestern, der war lang und voll gewesen, ihre Zunge bereits schwer vom Alkohol und sie hatte gleich dieses Kribbeln gespürt und gewusst, dass sie ihn noch haben müsste. Vielleicht sollte sie ihm doch eine Nachricht hinterlassen, ein Zettel mit ihrer Handynummer? Doch wo sollte sie jetzt einen Zettel herbekommen? Gerade als sie in ihre Leggings schlüpfte, drehte er sich mit einem Seufzen auf den Rücken. Sie hielt den Atem an. Jetzt fing er an zu schnarchen. Gut, er schlief noch. Auf dem großen Sessel lag ihre Tasche, ihr Handy sagte ihr, dass es fast zwölf war. Doch wo war ihr Pulli? Sie ließ ihren Blick nochmal durch das Zimmer schweifen. Im Zwielicht erkannte sie ein Bild an der Wand, das ihr noch nicht aufgefallen war. Ein Mann und eine Frau irgendwo am Strand. Er und seine Freundin? Oder seine Schwester? Hatte er nicht sowas erwähnt gestern? War vermutlich besser keine Nachricht zu hinterlassen. Sie entdeckte ihren Pullover am Kopfende des Bettes, halb unter den Kissen begraben. Mist. Ganz langsam zog ihn heraus, er schnarchte lauter, dann verschwand sie durch die Schiebetür in den Flur. Die Wohnung hatte ihr gefallen, ein wenig lieblos eingerichtet aber coole Räumlichkeiten, daraus konnte man durchaus mehr machen. Sie sparte sich den Gang auf die Toilette, auch wenn der wirklich nötig gewesen wäre und sie sich nach kühlem Wasser in ihrer ausgetrockneten Kehle verzehrte. Ordentlich hatten sich ihre Sneakers in die Schlange der Schuhe eingereiht. War sie das gewesen? Wohl eher nicht. Ihre Jacke hing einsam an der Garderobe. Jetzt nochmal ganz vorsichtig die Türklinke drücken und die Tür öffnen. Sie schliff ein wenig auf dem verkratzten Laminatboden. Mit einem leichten „klick“ fiel sie hinter ihr ins Schloss. Die letzte Hürde war geschafft. Aufatmen. Leichtfüßig lief sie die Treppen der drei Stockwerke hinunter, in der Eingangshalle begegnete ihr eine Frau, sie grüßten sich. Sie kam ihr bekannt vor. Das Foto? Oder nur Einbildung? Hoffentlich hatte sie nichts vergessen, aber jetzt war es eh zu spät. Als sie aus der Eingangstür in die kühle Februarluft trat und die Sonne in ihrem Gesicht spürte überkam sie ein tiefes Gefühl der Melancholie. Warum nur musste alles immer so schnell vorbei gehen? Der Tag nahm immer den Zauber der Nacht, blickte grausam und mitleidslos auf ihre Opfer und ließ sie in seinem Licht müde und ausgelaugt erscheinen. Während sie sich auf den Weg nachhause machte und ihre Füße sie durch die farblosen Straßen trugen, hallte noch immer der Bass in ihren Ohren. Vor ihrem inneren Auge sah sie sich entschweben, fort von hier, in ferne Welten. Es war ein ganz normaler Morgen in einer ganz normalen Stadt. Doch warum, verdammt nochmal, musste alles immer so normal sein?