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Meine ersten Gehversuche im kosmischen Grusel/Horror
Triggerwarnung / SPOILER:
Suizid
Der Monolith
Es war ein Sonntagnachmittag im Mai, als Helmut den Fremden das erste Mal sah. Auf dem Rückweg vom Garten zur Terrasse bemerkte er ihn, still stand der Mann hinter dem hüfthohen Jägerzaun und starrte herüber. »Kann ich Ihnen helfen?«, rief Helmut.
Er antwortete nicht, zeigte gar keine Reaktion.
Helmut zögerte. Etwas an dem Fremden bereitete ihm Unbehagen: Wie er mit unbewegter Miene dastand, sich einfach nicht rührte. Das Erscheinungsbild wirkte ärmlich, nicht wie ein Landstreicher oder Obdachloser, eher wie ein Typ, den man eben erst aus dem Knast entlassen hatte. Abgenutzt, dachte Helmut, er sieht abgenutzt aus. »Sprechen Sie Deutsch?«, versuchte er es ein wenig lauter. Womöglich war der Kerl ja Ausländer. Vielleicht einer dieser Ukrainer? Über die hörte man ja so einiges.
Der Mann starrte weiterhin an ihm vorbei, unverwandt auf den Rasen, fixierte das gemähte Grün als sei es die spannendste Sache der Welt.
Helmut wurde es zu bunt. Er machte einen Schritt auf ihn zu. Das gehörte sich nicht, so ungefragt in fremder Bürger Gärten zu glotzen.
Da klopfte es von rechts gegen die gläserne Terrassentür. Erika stand dort, eine stumme Frage im Blick, die Handflächen erhoben.
Helmut signalisierte seiner Frau, drinnen zu bleiben, schließlich hatte er alles unter Kontrolle. Als er sich wieder zum Zaun umwandte, war der seltsame Mann verschwunden.
Zwei Wochen später hatte Helmut den Fremden fast vergessen. Es war wie eine dieser Begegnungen, über die man sich ein, zweimal mit Freunden unterhielt, rasch bereits nicht mehr als eine schräge Anekdote: Hab ich schon von dem Typen erzählt, der eines schönen Tages hinter unserem Zaun auftauchte?
Sie saßen zu zweit im Sonnenschein am Gartentisch bei Kaffee und Bienenstich. Der Sommer war angekommen, um zu bleiben und Helmut berichtete Erika gerade von seinen Überlegungen einer Radtour mit dem neuen, elektrischen Fahrrad, wenn ihr Sohn mit Enkel Paule zu Besuch käme: »… Dann könnten wir auch am Meierteich vorbei, da gibt’s doch diese Bänke? Dort legen wir dann ein Päuschen ein.«
Erika antwortete nicht, sie starrte über seine Schulter hinweg. Noch immer hatte sie den letzten Bissen im Mund. Ihre Kuchengabel fiel klirrend auf den Porzellanteller.
»Was ist denn …?«, fragte Helmut verwundert und drehte den Kopf.
Da war er wieder. Hinter dem Zaun. Als wäre er nie weggegangen. Starrend. Regungslos.
»Jetzt reicht’s aber!« Helmut stand energisch auf, warf die Serviette auf den Tisch und stapfte entschlossenen Schrittes auf ihn zu: »Hör’n Sie mal, was fällt Ihnen eigentlich ein? Wer sind Sie?« Helmut ballte die Hände zu Fäusten, insgeheim war er froh über die Barriere zwischen ihnen. Der Mann war gute dreißig Jahre jünger, Helmut schätzte ihn auf Mitte Vierzig, wenn auch von kleinerer Statur. Er erreichte ihn, baute sich auf und versperrte dem Typen die Sicht: »Sind Sie noch ganz dicht?« Aus der Nähe fiel ihm die Hasenscharte auf. »Was soll …?«, setzte Helmut an, doch die Augen ließen ihn verstummen: Kalt und gebrochen, als sähe er einen Toten vor sich. Wie damals, als er Erikas Vater auf dem Dachboden fand, aufgehängt am Deckenbalken. Trotz der warmen Junisonne fröstelte Helmut.
Der Mann blieb stumm und blickte scheinbar durch ihn hindurch. Ein leicht süßlicher Geruch ging von ihm aus, als hätte er verdorbenes Fleisch bei sich. Unvermittelt bewegte er sich, machte einen kleinen Schritt zur Seite und erlangte so wieder freien Blick auf den Rasen.
Verunsichert drehte Helmut den Kopf, wollte sehen, was der Mann ansah. Es musste die Mitte der Rasenfläche sein, etwa zwei Meter vom Gartentisch entfernt, von dem Erika sorgenvoll herüberschaute. Helmut wandte sich wieder um: »Was ist denn da?«
Der Fremde rührte keinen Muskel, doch die Gardine nebenan bewegte sich. Scham und Wut stiegen in Helmut auf und überlagerten das Unbehagen. Dies war sein Garten, sein Haus. Was sollten denn die Nachbarn denken? Er hob den Zeigefinger: »Hören Sie, Freundchen! Ich weiß nicht, was das hier soll, aber sie machen meiner Frau Angst, ja? Ich zähle jetzt bis drei und dann rufe ich die Polizei. Ist das klar?« Helmut schrie beinahe.
Der Mann machte keine Anstalten, zu gehen.
»Eins!«
Der Fremde blinzelte.
»Zwei!«
…
»D-!«
»Sie sind auserwählt«, sagte der Mann emotionslos, ohne den Blick vom Rasen zu wenden.
Helmut runzelte die Stirn. Was hatte der Kerl gesagt? »Wie bitte?«
»Sie. Sind. Auserwählt.« Sein Stimmchen war hell und klar, fast wie das eines Kindes. Nachdem er den Satz wiederholt hatte, wandte er sich wortlos ab und ging. Arme und Beine schlenkerten dabei leicht, als habe er keine Kontrolle über die Gliedmaßen. Wären plötzlich gigantische Fäden über ihm sichtbar geworden, es hätte Helmut nicht gewundert. Ratlos stand er da und sah dem Fremden nach. Er drehte sich erst zu Erika um, als die Gestalt außer Sicht war.
»Und was ist dann passiert?« Mit einer Handbewegung fegte ihr Sohn Tabakkrümel vom Gartentisch, steckte die Selbstgedrehte zwischen die Lippen und entzündete sie.
Die Radtour hatte sie alle hungrig gemacht, Erika servierte Kirschtorte und jetzt saßen sie zu dritt beisammen, während Enkel Paule wenige Schritte abseits auf dem Rasen mit seinem Plastikbagger spielte.
»Nix. Er ist auf diese merkwürdige Weise weggegangen«, antwortete Helmut. Sein Blick suchte die aufglühende Zigarettenspitze. Wie jeher kroch die Lust heran, drängte wortlos und doch gierig, bezirzte ihn, er möge doch wieder mit dem Rauchen anfangen. Helmut beschloss, noch ein Stück Torte zu essen.
»Einfach so?«, fragte sein Sohn.
»Einfach so.«
»Meinst du, er kommt wieder?«
»Oh Gott, ich hoffe nicht«, kam Erika ihm zuvor. »Der war so gruselig. Dieses Starren. Ich hab sogar von ihm geträumt.«
Helmut hielt in der Bewegung inne, den Tortenheber in der Hand. »Wann das denn? Hast du ja gar nicht erzählt.«
»Seit wann interessieren dich meine Träume?« Sie nahm ihm den Heber aus der Hand und hebelte ein Stück auf. Ihr Sohn hüstelte, scheinbar hatte er sich verschluckt.
Helmut wollte erwidern, dass ihre Träume und Gedanken ihn sehr wohl beschäftigten und öffnete den Mund, doch auf halber Strecke entfleuchten ihm die Wörter und dann sah sein Sohn ihn mit diesem vorwurfsvollen Gesichtsausdruck an, den er so gar nicht leiden konnte und so schloss er ihn wieder.
»Was genau hast du denn geträumt, Mama?« Ungeniert aschte ihr Sohn auf den Rasen und das, obwohl Helmut ihm extra seinen alten Aschenbecher auf den Tisch gestellt hatte.
Erika bugsierte Kirschkuchen auf Helmuts Teller. »Ach, das weiß ich doch nicht mehr. Wie das so ist, bei Träumen«, antwortete sie leise.
Helmut suchte ihren Blick, doch zufällig huschten Erikas Augen hierhin und dorthin, sie wich ihm eindeutig aus! Warum log sie? Er glaubte, diese Momente zu erkennen. Es war so einer.
»Und er hat die ganze Zeit nur in den Garten geglotzt?«, hakte ihr Sohn nach.
»Auf den Rasen«, verbesserte Helmut. »Genau da, wo Paule gerade …«, er stockte, denn er hatte nach dem Enkel gesehen. Der spielte nicht mehr, sondern stand kerzengerade und still, mit dem Rücken zu ihnen und schaute hinab aufs Gras.
»Paul?«, fragte Helmut.
Der Enkel rührte sich nicht. Der Bagger lag neben ihm, umgekippt auf der Seite, offensichtlich uninteressant.
»Hey, Großer!«, rief sein Sohn, doch der Junge schien wie versteinert.
Helmut stand auf, ging die paar Schritte hinüber. »Was hast du denn da?«
Zwischen den Halmen, vor den Füßen des Kleinen, erkannte Helmut ein bleiches Gebilde, nicht größer als eine Kinderfaust, in der Form einer Pyramide en miniature.
»Papa?« Ihr Sohn blies Rauch aus und zerdrückte die Kippe im Aschenbecher.
Helmut antwortete nicht, stattdessen fragte er Paul: »Hast du das ausgebuddelt, hm?« Er ging neben seinem Enkel in die Hocke und legte dem Jungen eine Hand auf den Rücken. Paule blieb still und reagierte auch sonst nicht auf die Berührung. Die glasigen Kinderaugen fixierten das seltsame, helle Ding, Helmut streckte seine andere Hand nach dem Konstrukt aus.
»Fass ihn nicht an!«, kreischte Erika, offenbar aufgesprungen, der Gartenstuhl umgekippt. Sie hastete heran, grabschte Pauls Ärmchen und zog den Enkel in Richtung Terrasse. Dort blieb sie hinter ihm stehen und hielt ihn fest, die Hände schützend vor seiner Brust. Jegliche Farbe war aus ihrem Gesicht verschwunden, ihr flehender Blick traf Helmut ins Mark.
Doch es war der Junge, der Angst in ihm schürte, wandte er doch die Augen nicht vom Gebilde im Rasen ab.
Am Abend stand Helmut im halbdunklen Wohnzimmer, nachdenklich schaute er durch das Panoramafenster.
Das Ding war noch da.
Im letzten Licht des Tages erkannte er vage die helle Spitze, winzig und harmlos zwischen den Grashalmen. Er sah zum Zaun, doch dort stand niemand.
Sie sind auserwählt. Beim Gedanken an die Fistelstimme kroch ihm ein Schauer über den Rücken.
Es konnte kein Zufall sein, dass dieser Kerl mit den toten Augen aus dem Nichts auftauchte und nur kurze Zeit später Paule die kleine Pyramide im Garten entdeckte. War es tatsächlich eine Pyramide? Hatte er es ausgebuddelt? Sein Sohn hatte den Enkel so schnell ins Auto verfrachtet und sich hastig verabschiedet, Helmut war keine Zeit geblieben über das Geschehene zu sprechen. Der Junge wirkte bei der Abfahrt noch immer apathisch, stierte vor sich hin und sah selbst dann nicht auf, als Helmut zum Abschied rief und winkte.
Erneut suchte Helmut den hellen Fleck im Gras. Was genau war dieses Teil? Da stand der noch immer gedeckte Tisch: Zahllose Fliegen krabbelten über die Kirschtorte, die Teller und die kleine Schale, in der die Schlagsahne mittlerweile längst zerlaufen war.
Erika hatte ihm untersagt, den Garten zu betreten, geschweige denn das Geschirr abzuräumen. Nachdem sie wieder allein waren, schloss sie die Terrassentür ab. »Wehe dir, wenn du es wagst!«, drohte sie, sogar mit dem Finger hatte sie gezeigt, die Lippen gepresst und dabei doch wunderschön.
Ihre vehemente Forderung brachte Helmuts Welt ins Wanken, denn sie erinnerte ihn an vergangene, ja, an bessere Zeiten. Sie brachten ihm die Erika zurück, in die er sich verliebt hatte.
Es waren wilde Jahre, als auf Dutschke, Warhol und Bobby geschossen wurde. Sie hörten Hannes Wader, Degenhardt und natürlich die Stones, im Kino liefen Streifen wie ›Zur Sache, Schätzchen‹. Erika diskutierte leidenschaftlich über die Kriegsverbrechen in Vietnam und die Taten von Baader und Ensslin. Sie ließ sich von niemandem den Mund verbieten.
Ein gemeinsames Leben später – und natürlich nur, wenn sie unter sich waren –, nannte er sie liebevoll ›mein Fels in der Brandung‹, da er die simple Erkenntnis erlangt hatte, dass sie schlicht und ergreifend genau das für ihn war.
Doch der Freitod des Vaters änderte alles. Helmut konnte das Bild vor seinem inneren Auge problemlos projizieren, wie er ihn nach erfolgloser Suche schließlich auf dem Speicher hängend fand. Zu den Füßen ein einzelnes Blatt Papier, mit nur einem einzigen Wort darauf: Monolith.
Das war sechs Jahre her und seitdem hatte sich Erika schleichend von der Welt entfernt, zurückgezogen, eigenbrötlerisch und immer häufiger wortkarg. Helmut kam es so vor, als versuchte das, was seinen Schwiegervater dazu brachte, sich das Leben zu nehmen, Erikas eigenes, starkes Ich in einem tiefschwarzen Sumpf aus Selbstschuld und giftiger Resignation zu ersäufen. Die Frau, in die er sich einst aufgrund ihrer selbstbewussten und resoluten Art verliebt hatte, drohte in den Tiefen der Depression zu versinken.
Doch heute war etwas mit ihr geschehen, Helmut konnte es bloß noch nicht greifen. Es war, als ob die seltsamen Geschehnisse der letzten Stunden einen Teil von ihr aufgebrochen hatten. Er hoffte so sehr, dass sie es schaffen würde dem Sumpf zu entkommen.
Helmut sah zum Zaun. Dort stand niemand. Er fand das Gebilde im Rasen wieder. Die Klinke der Terrassentür zog seinen Blick an.
Nachdem er Erika versichert hatte, ihrer Bitte zu entsprechen, war sie kurz darauf in alte Muster verfallen, klagte über stechende Kopfschmerzen und Unwohlsein und wollte sich schlafen legen. Seinen Versuch, über die merkwürdigen Vorkommnisse zu reden, wehrte sie mit müder Geste ab: »Ich kann das jetzt nicht. Morgen ist auch noch ein Tag. Mach du nicht mehr so lang.«
Helmut spürte eine innere Unruhe keimen, die zur Neugierde anwuchs. Er machte einen Schritt und die Hand umschloss den Türgriff. Er zögerte. Da klingelte das Telefon, das Display zeigte die Handynummer des Sohnes. Er nahm den Anruf entgegen: »Hallo, mein Lieber, seid ihr …«
»Papa, jetzt sei mal kurz ruhig!«
»…«
»Wir sind im städtischen Krankenhaus.«
»Was? Wi-«
»Paule ist umgekippt! Einfach so.«
»Was meinst du mi-«
»Er ist in Ohnmacht gefallen! Von jetzt auf gleich. Einfach so!«
»Und jetzt? Wie … ist sein Zustand?« Helmut wusste nicht, was er sonst sagen, oder fragen sollte. Der Stress in der Stimme seines Sohnes war unüberhörbar. Am anderen Ende stöhnte und raschelte es, dann hörte er gedämpfte Geräusche. Er wartete ab. Paule war ein kräftiger, gesunder Junge. Er war noch nie einfach umgefallen! Zumindest konnte Helmut sich an keinen Fall erinnern. Ihm war plötzlich schwummrig, also griff er nach dem Nächstbesten was da war, der Stuhllehne.
»Papa?«
»Ja?«
»Ich muss auflegen, die Ärztin will mich sprechen. Ich wollte nur Bescheid geben und …« Mitten im Satz brach er auf einmal ab.
Helmut nickte. »Ist gut. Meld dich, wenn du kannst, ja? Und wenn wir etwas tun können, ruf an, ich setz’ mich ins Auto und fahre sofort los!«
»Nein, mach das nicht, komm’ nicht hierher … Papa?«
»Hm?«
Es folgte rauschende Stille, der Moment zog sich, gerade wollte Helmut fragen ob er noch dran sei, dann: »Paules Hände, hast du … gesehen, hat er ES angefasst?«
»… ES …«, echote Helmut, doch instinktiv wusste er, was gemeint war. Er sah zum Zaun. Dort stand niemand.
»Das Ding … im Gras.«
»Ich … glaube nicht? Wieso? Was ist mi-«
»Ich muss Schluss machen, Papa. Ich melde mich.« Es klickte und die Leitung war tot.
Helmut erwachte mitten in der Nacht. Er tastete nach dem warmen Körper neben sich, doch die Bettseite war leer, die Tür zum Badezimmer stand offen, es lag im Dunkeln. Wo war Erika? Als er nach dem Telefonat nach ihr gesehen hatte, atmete sie schwer und wälzte sich hin- und her. Aus Sorge, sie mit der Nachricht zu überfordern, hatte er sie schlafen lassen. Sein Sohn hatte nicht noch einmal angerufen und auch jetzt, um 03:33 Uhr, zeigte das Telefondisplay keinen Anruf in Abwesenheit an. Den Garten hatte Helmut nicht mehr betreten, die Sorge über Paules Zustand beherrschte seine Gedanken.
Helmut schwang die Beine über die Bettkante und stand auf. Die Blase drückte. Erschöpft rieb er sich das Gesicht, da hörte er, wie ein Stockwerk tiefer die Terrassentür geöffnet wurde. Er ging zum Fenster und schob die Gardine beiseite.
Da war Erika, im Nachthemd, sie wankte über die Steinfliesen zum Rasen. Helmut sah zum Zaun. Dort stand der Mann. Doch etwas war anders, im Mondlicht konnte Helmut die Zähne sehen, das Grinsen glich dem eines Totenschädels, die Hasenscharte stach obszön hervor. So feixend starrte der Fremde Erika an und begann, über den Zaun zu klettern!
Helmut musste sie retten! In Unterhose und Feinripp polterte er die Treppe hinab. Zum Anziehen blieb keine Zeit, der Irre wollte seine Frau! Helmut erreichte die Terrassentür, doch sie öffnete nicht, Erika musste abgesperrt haben! Er sah auf. Sie hatte die Stelle jetzt beinahe erreicht.
Der Fremde überwand mit staksigen Bewegungen das Hindernis und richtete sich auf.
Dumpfe Laute, als Helmut mehrmals gegen das Fenster hieb. »He! Erika! Erika! E-«
Sie hielt inne und drehte langsam den Kopf, ihre toten Augen fanden ihn und sie hob die Hand wie zum Gruß.
Helmuts Kehle entfloh ein unmenschliches Wimmern, als der Fremde sich in sein Blickfeld schob. Das aufgesetzte Schädelgrinsen öffnete sich. »Sie! Sind! Auserwählt!«
Da erbebte die Erde und die Wände zitterten, ein Grollen erwachte unter dem Haus. Geschirr klapperte in der Anrichte, fiel heraus und zerschellte am Boden. Helmut stürzte hart aufs Steißbein, das Grollen stieg zu einem urgewaltigen Brodeln an und nahm immer noch zu. Im Garten schleuderten Erdfontänen feuchte Klumpen auf, als die weiße Spitze vor Erikas Füßen sich Bahn brach und emporstieg. Vom Boden aus sah Helmut hilflos mit an, wie der Monolith wuchs und wuchs, unter infernalischem Tosen gewann er an Größe, stieg immer höher und mächtiger auf, in der Farbe von Knochen, bedeckt mit verschlungenen Symbolen.
Erika war vor dem Monument auf Hände und Knie gefallen, der Fremde kniete sich hinter sie, schob ihr Nachthemd hoch und entblößte dabei weißes, faltiges Fleisch. Er grinste und nestelte am Verschluss der eigenen Hose.
Nein, das würde nicht passieren. Helmut mühte sich auf die Beine, da flog die Haustür auf und ein Sturm zog brüllend ein. Sein Sohn stand im Rahmen, die Haare windgepeitscht. Er hielt Paule im Arm, die Haut des leblosen Jungen leuchtete blass wie Milch.
»Sie dir an, was du getan hast!«, schrie sein Sohn und kam auf Helmut zu. Paules Hände waren verformt, statt Finger wuchsen nun bleiche Tentakel aus den Handgelenken, sie zuckten unkontrolliert nach ihm und Helmut spürte, wie Saugnäpfe über seine Haut tasteten. Hinter ihm erklang Erikas gequälter Schrei, der sogar das Inferno übertönte.
Erika erwachte mitten in der Nacht. Sie tastete nach dem warmen Körper neben sich, doch die Bettseite war leer. Das Fenster zum Garten war geöffnet und die Tür zum Badezimmer geschlossen, Licht drang durch den Spalt unter der Tür. Sie drehte sich um und versuchte weiterzuschlafen, doch ihr Kopf war voll von erdrückender Leere. Sie kniff die Augen zu, versuchte an etwas anderes zu denken als an den gruseligen Fremden und seinen starrenden Blick. Was machte Helmut so lange da drin? »Schatz?«, rief sie, doch bekam keine Antwort. Sie richtete sich auf, lauschte in die Stille. Aus dem Bad war kein Geräusch zu vernehmen, weder Wasserrauschen noch die Toilettenspülung. »Schatz? Alles in Ordnung?«, versuchte sie es erneut, diesmal lauter. Nichts. Sie schwang die Beine über die Bettkante und stand auf, dabei trat sie auf etwas Hartes und zuckte vor Schmerz zusammen. Ihre Finger ertasteten eine Art Hülse unter dem Fuß, Erika identifizierte es als Kappe eines ihrer Lippenstifte. Wie kam das denn hierhin? »Schatz?«, fragte sie ein drittes Mal. Eine Brise wehte herein und spielte mit den Vorhängen. Erika fröstelte. Sie ging zum Fenster, um es zu schließen und sah dabei hinaus. Am Zaun stand der Mann. Er starrte auf den Rasen. »Schatz!« Sie eilte zur Badezimmertür und öffnete sie.
Er hatte den robusten Stahlrahmen des Duschvorhangs und seinen Gürtel benutzt. Der Lippenstift lag im Waschbecken. Auf dem Spiegelschrank stand nur ein einziges Wort.