- Zuletzt bearbeitet:
- Kommentare: 35
Der Mond über dem Finsteraarhorn
Ein Geräusch hatte Jolanda geweckt. Ein kehliger Laut. Ihr eigenes Stöhnen. Das Nachthemd war bis zum Bauchnabel hochgeschoben und klebte am Körper. Zwischen ihren Brüsten stand Schweiß. Noch bevor sie die Augen öffnete, tastete sie über das Kopfkissen im Nebenbett. Leer. Micha, durchfuhr sie der erste klare Gedanke des frühen Morgens und die Erkenntnis kam mit einer Wucht, die sie in das Laken drückte, sodass sie glaubte, nie mehr die Kraft zum Aufstehen zu finden.
Er schaut mich nur an mit diesem Blick, der mich erspürt und Stromstöße durch meine Eingeweide schickt. Er riecht nach Harz, Leder und Motorenöl. Ohne zu fragen, umschließt er mit seiner rauen Hand die meine, zieht mich mit sich. Und ich nehme es als Versprechen, dass er mich niemals loslassen wird. Mit seinem Lachen brechen die federleichten Tage an.
Sie hätte nicht sagen können, wie lange sie so reglos lag und an die Decke starrte – Zeit war ohne Bedeutung für sie –, als sie zu zittern begann. Sie drückte eine Tablette aus dem Blister und spülte sie mit einem Schluck Wasser hinunter. Dann bückte sie sich nach der Bettdecke, die auf die Dielen gerutscht war, und wickelte sich in sie ein. Jolanda sehnte sich nach Schlaf, der dem ewigen Grübeln nach dem Warum ein Ende setzte. Wünschte sich zurück in den Traum, der nur noch eine Ahnung war und ein diffuses Gefühl von Sehnsucht hinterlassen hatte.
Es regnete. Seit Tagen nichts als Regen, auch in Jolanda. Eine samtene Taubheit geleitete sie durch ihr neues Leben, das sie sich so nicht ausgesucht hat. Maria stand neben ihr, hatte sich untergehakt, um Jolanda zu stützen. Sie lauschte dem Trommeln der Tropfen und beobachtete, wie sie in Zeitlupe von den Schirmen auf die Schultern der Trauergäste fielen. Urs versank mit dem Rollstuhl im Matsch. Er war geschrumpft und wirkte zerbrechlich. Sein Blick irrte heimatlos über die Grabsteine. Speichel rann ihm übers Kinn.
Urs mustert mich mit stechendem Blick, sagt kein Wort. Nur die Sprache des Körpers ist deutlich. Er hat Angst vor mir, der Fremden, die ihm seinen Sohn stehlen will. Durch die angelehnte Küchentür höre ich ihn poltern: “Sie gehört nicht hierher, ein Püppchen aus Deutschland, zu schwach, zu zerbrechlich.“ Die Menschen hier haben sich an die Natur angepasst, sind schroff und kantig und kalt, denke ich und ergreife verletzt und wütend meinen Koffer. Nur Micha ist anders, ich seufze und bleibe.
Jolanda spürte, wie der Regen durch jede einzelne Pore in sie eindrang und ihr Blut verwässerte. All die schwarz gekleideten Menschen, die sich um das Grab drängten, sie sollten verschwinden, sollten die weißen Callas und Rosen mitnehmen. Sie erinnerten Jolanda daran, dass etwas Furchtbares passiert sein musste.
Erde zu Erde, Asche zu Asche. Als die Sargträger die Holzkiste in die Grube absenkten, fühlte Jolanda, dass sie zerfloss wie ein zu nasses Aquarell.
Als sie klingeln, scheint die Sonne. Die Luft duftet nach Erde, Gras und neuem Leben. Ich öffne die Haustür und vor mir stehen zwei Polizisten in Uniform. Zu zweit überbringen sie die Nachricht, als hätte ein einzelner zu schwer an ihr zu schleppen. Aber ich muss sie aushalten. Ich taumle rückwärts, finde Halt am Treppengeländer, umklammere die Stäbe aus Kiefernholz, die Micha erst vor wenigen Tagen geölt hat.
Jolanda schaufelte Blumenerde in die Balkonkästen. Sie trug keine Handschuhe, sie wollte die feuchte Kühle, das Leben, das der fetten schwarzen Krume innewohnte, spüren. Liebevoll löste sie die Wurzeln der weißen Geranien und setzte sie neu ein. Als sie jemand von hinten ansprach, fiel ihr beinahe der Topf aus den Händen und sie stieß einen spitzen Schrei aus.
„Entschuldige, das wollte ich nicht!“
„Wer bist du?“
„Ich bin dein Mann.“
„Mein Mann? Der hat mich verlassen.“
„Du musst nur genau hinschauen!“ Er nahm den Integralhelm ab. Während er ihr eine Haarsträhne hinters Ohr strich und ihr Gesicht in beide Hände nahm, umwehte sie ein Hauch von Leder. Der Kuss war weich und sie wünschte sich, er würde niemals enden. Micha, dachte sie, er ist zurückgekommen. Er hob Jolanda hoch, als wäre sie eine Puppe, trug sie über die Schwelle ins Haus, weiter ins Schlafzimmer und legte sie behutsam aufs Bett, um sie nicht zu zerbrechen. Als er sie langsam entkleidete, rannen Jolanda wohlige Schauer über die Haut.
„Micha“, flüsterte sie. „Wo kommst du her?“
„Aus den Tiefen des Steins, von dort, wo der Mond das Finsteraarhorn berührt.“
Sie legte ihren Kopf an seine Brust. „Ja, das ist schön, erzähl mir ein Märchen!“
„Kein Märchen, Jolanda. Es ist wahr, ich liebe dich.“ Und er streichelte ihren Rücken, bis sie in einen tiefen Schlaf fiel.
Am Morgen saß die Müdigkeit wie ein trotziger Kobold in Jolandas Nacken. Die Medikamente, der Preis, den sie gerne zahlte, um nichts zu fühlen. Sie gähnte, während sie den Tisch für die Eheleute Koller aus Berlin, die einzigen Gästen der Pension, deckte. Ein Gedanke kreiste in ihrem Hirn, klopfte an die Schädeldecke. Immer, wenn sie kurz davor war, das Bild zu fassen, versank es wieder im Nebel. Sie ließ sich auf die Eckbank sinken und zeichnete Kreise aufs Tischtuch. Die dunklen Trauerränder unter ihren Nägeln bildeten einen obszönen Kontrast zum Weiß. Jolanda schüttelte den Kopf. Die Kollers schwärmten vom Rhonegletscher, vom Blick auf das Finsteraarhorn. Plötzlich schob sich ein Negativ aus der Dunkelkammer ihres Hirns und gewann an Kontur. Der Mond steht über dem Finsteraarhorn. Micha wiegt Jolanda im Arm. Kalt und heiß und übel wurde ihr. Die Kaffeemaschine röchelte, die Brötchen dufteten und Jolanda verschwand im Bad, um sich zu übergeben.
Die Stiege zum Dachboden knarzte bei jedem Schritt. Der Geruch von trockenem Holz kroch Jolanda in die Nase, noch bevor sie die Tür vollständig aufgeschoben hatte. Jolanda schlug die Hand vor den Mund und ihr Herz setzte einen Schlag aus. An einem Querbalken schwebte eine schwarze Gestalt. Jemand hatte sich erhängt. Dann erkannte sie ihn. Jolanda versuchte, gleichmäßig zu atmen und näherte sich Michas Motorradanzug mit vorsichtigen Schritten, strich über das brüchige Leder, ertrug den Schmerz kaum, der in ihrem Inneren tobte.
Mit steifen Beinen steige ich auf den Beifahrersitz, umklammere Michas Taille, kralle mich in das Leder, als er Gas gibt. Die Honda jault auf und wir schießen pfeilschnell davon. Ich halte die Luft an. Ganz grau sitze ich hinter ihm, kann mich nicht bewegen. Mit jeder Kurve werde ich schwerer, während er federleicht zu schweben scheint.
Sie musste sich auf die Truhe setzen, auf deren Intarsienarbeit Urs immer so stolz war. Seit er im Pflegeheim lebte, lagerten hier seine letzten Habseligkeiten. Micha und sie hatten es nicht übers Herz gebracht, sie wegzuwerfen. Fotoalben, Urkunden, Fachbücher lagen noch so, wie sie sie hinterlassen hatten. Jolanda fragte sich, was sie hier überhaupt machte und was sie sich von der Kramerei in den alten Sachen versprach. Sie ließ den Deckel fallen, Staub wirbelte auf und tanzte in den schräg einfallenden Sonnenstrahlen. Ein letztes Mal drehte sie sich nach dem schwarzen Anzug um.
Dann holte sie das Fahrrad aus dem Schuppen. Sie trat kräftig in die Pedale. Sie musste zu Maria. Der Wind begleitete sie, mal schob er sie an, mal stemmte er sich ihr entgegen, zerrte an den Haaren.
Die Kirchenglocken begannen zu läuten, als Jolanda die Tür zur Buchhandlung aufstieß. Mit geröteten Wangen schob sie sich durch die Regalreihen.
Maria legte den Stapel Kriminalromane auf die Theke und ging der Freundin entgegen. „Meine Güte, du bist ja ganz durch den Wind.“
„Maria! Was weißt du über das Finsteraarhorn?“
„Setzt dich erst mal!“, sagte Maria.
„Sag schon!“
„Na ja, der höchste Berg der ...“
„Nein, das mein ich nicht. Etwas Magisches, ein Märchen vielleicht, das sich um den Berg dreht. Ach, ich weiß auch nicht. Hast du nichts hier?“
Maria runzelte die Stirn und fragte: „Hast du schon mal ins Netz geschaut?“
„Kein Anschluss, weißt du doch“, sagte Jolanda und trat von einem Bein aufs andere, während Maria die Datei öffnete.
„Reiseführer, Touristeninfos, Klettertouren“, sagte Maria. „Von Magie keine Spur. Aber ich werde recherchieren. Vielleicht hat Paps eine Idee. Warum musst du das wissen?“
„Erzähl ich dir später.“
„Pass auf dich auf, versprich es mir!“
Jolanda fühlte sich nach dem Ausflug unendlich ausgelaugt. Sie beschloss, sich eine halbe Stunde auszuruhen, nachdem sie das Geschirr in die Maschine geräumt hatte. Die geschlossenen Lider wurden zur Kinoleinwand, auf der die Bilder der federleichten Tage abliefen.
Wir schlendern durch die Stadt, Hand in Hand. Schlecken Eis, schauen Kindern beim Spielen zu. Ein Dreijähriger plantscht mit den Händen im Brunnen. Die Rufe der Mutter, die den leeren Buggy schiebt, erreichen ihn nicht. Micha sieht mich lange an, spürt meine Sehnsucht, zieht mich an sich und murmelt in mein Haar: „Wir haben alle Zeit der Welt, Jola.“
Die Stimme war ganz nah an ihrem Ohr, das Timbre von Micha. Jolanda schreckte hoch, blinzelte. Dann ein Klopfen an der Scheibe. Sie stand auf, zog die Gardine zur Seite und war nicht überrascht, Micha zu sehen. Die wirren Locken fielen ihm in die Stirn und er lachte sein Jungenlachen.
„Willst du mich nicht reinlassen?“
„Geh doch durch die Tür!“, sagte Jolanda und öffnete beide Fensterflügel.
„Wer braucht eine Tür?“ Mit einem Satz sprang er ins Zimmer.
„Ach, Micha, wo kommst du denn her, am helllichten Tage?“
„Von dort, wo die Gletscher knirschend ins Tal kriechen.“
„Und diesmal bleibst …“
Mit einem Kuss verschloss er ihren Mund. Seine Umarmung war so fest, dass Jolanda glaubte, gleich keine Luft mehr zu bekommen. Doch sie wollte es aushalten.
Ein Windhauch streifte Jolandas erhitzten Körper. Die Vorhänge blähten sich im Abendwind und durch das geöffnete Fenster hörte sie ein Motorengeräusch näherkommen. Als sie sich erhob, schmerzten die Glieder.
Die Scharniere der Gartenpforte quietschten. Maria stand auf dem Kiesweg und versuchte ein Lächeln, aber es rutschte weg.
„Hier! Das könnte es sein, wonach du suchst. Aus den alten Beständen meines Vaters. Er lässt schön grüßen. Auch Urs.“
Jolanda nahm das dünne, abgegriffene Büchlein zögerlich entgegen. „Danke, Maria! Du bist ein Schatz!“
„Magst es behalten, sagt Vater. Es soll dir Glück bringen.“
Jolanda umarmte Maria und nickte nur.
Das Buch lag auf dem Küchentisch und Jolanda zeichnete mit den Fingerkuppen die Prägung nach. Die goldenen Lettern waren abgeblättert.
Der Mond über dem Finsteraarhorn. Schweizer Sagenschatz. Originalausgabe 1912. Als sie die erste Seite umblätterte, zitterten die Hände. Die Bewegung übertrug sich auf das Papier und es sah aus wie ein lebender Organismus, der atmete. Sie hörte ihr Herz in den Ohren schlagen. Sie begann zu lesen:
„Dort, wo das Finsteraarhorn den Mond berührt, die Gletscher knirschend ins Tal kriechen, lebten tief unten, zwischen Kristallin und Schiefer, durchscheinende, gütige Wesen: die Aaren. Sie hatten die Gabe, menschliche Gestalt anzunehmen und ihre Bestimmung war es, den Bewohnern der Bergregion in Stunden tiefster Not beizustehen. Des Nachts besuchten sie die Menschen, schenkten ihnen wundervolle Träume und erfüllen ihnen die sehnlichsten Wünsche. Am helllichten Tage spürte man sie als das Streicheln des Windes auf der Haut.
Niemand weiß, woher sie kamen und wohin sie gegangen sind.“
Jolanda atmete schwer und flüsterte: „Sie sind gar nicht weg.“
Die Wände rasten auf sie zu.
Die Luft war warm und feucht und duftete nach Kirschblüten. Jolanda lag mit geschlossenen Augen in der Wanne. Der Schaum knisterte. Sie konnte hören, wie die Bläschen zerplatzten. Sie hatte die Sage so oft gelesen, dass sie den Text auswendig kannte: „Es geschah, dass sich ein noch unerfahrener Aar einer jungen, schönen Witwe annahm. Mit jeder Nacht, in der er in ihre Träume eindrang, gab er ein Stück von sich selber her, bis er sich unsterblich in sie verliebte.“
Jolanda seifte sich ein und tauchte unter Wasser. Später trug sie Bodylotion auf, sie wollte duften heute Nacht – für ihn. Dann öffnete sie den Lippenstift, den sie seit Wochen nicht gebraucht hatte. Er kroch aus der Hülse wie eine rosa Raupe und legte sich schimmernd auf ihre Lippen.
Jolanda ging zu Bett. Sie versuchte einzuschlafen, wollte den Traum herbeizwingen, doch sie wälzte sich von einer Seite auf die andere und die Zeilen spukten in ihrem Kopf: „Der jungen Frau erschienen die Tage nach den Glücksmomenten der Nacht nur noch trostloser und ihr Herz wurde schwerer und schwerer. Sie sehnte sich danach, bei ihrem verstorbenen Mann zu sein. Der Aar konnte die Trauer der Witwe nicht länger ertragen, nahm die Gestalt des toten Ehemannes an und blieb fortan bei ihr.“
Jolanda strich über das kühle Linnen, tastete das Kopfkissen neben sich ab und verfing sich in wilden Locken.
„Du bist ja schon da?“, rief sie.
„Ja.“ Er küsste ihre Halsbeuge, streichelte ihre Brüste. So viele Hände und Münder, dass sie überall gleichzeitig sein konnten. Jolanda öffnete sich. Speichelbenetzte Haut, gespannte Muskeln, zuckende Leiber, die sich in die Lüfte erhoben, durch Schluchten segelten, in tiefe Bergseen eintauchten. Fließende, geschmeidige Bewegungen zweier Balletttänzer unter Wasser. Ein Schrei stieg in den Himmel und wurde von den schneebedeckten Gipfeln zurückgeworfen.
Langsam tauchte Jolanda aus der Trance auf. Zwischen ihren Schenkeln pochte es rhythmisch. Micha hatte sich auf die Seite gedreht, den Kopf abgestützt und betrachtete sie.
„Bleibst du jetzt für immer?“, flüsterte sie.
Er ließ sich Zeit mit der Antwort: „Ja, Liebste, so wie es geschrieben steht.“
Doch als sie ihn berühren wollte, begann sein Körper zu zittern, zerfloss vor ihren Augen wie ein zu nasses Aquarell.
Das Krankenzimmer versank im Halbdunkel. Es roch nach Pfefferminze und Urin. Die Gestalt auf dem Bett lag still, nur der Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig. Urs’ Hände ruhten schwer und leicht und gläsern auf der Decke. Seine Lider flatterten.
Erst als sich Jolanda räusperte und sagte: „Ich will mich verabschieden, Urs“, sah er sie an, stierte auf die Wölbung ihres Kleides.
Er schwieg.
Jolanda trat ans Fenster, schob die Lamellenvorhänge auseinander, suchte den Parkplatz ab, hob die Hand, ließ sie wieder sinken. Sie lächelte. „Weißt du, wir werden weggehen. Dahin, wo wir zuhause sind.“ Jolanda streichelte über ihren Bauch und lächelte wieder. Mit einem Mal konnte sie die Federleichtigkeit des Tages spüren.