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Der Moment der Macht
Ich betrat die Küche und schaltete das Licht ein. Ich betrachtete die Fotos, die mit bunten Magneten am Kühlschrank befestigt waren. Marie mit Freundinnen am Strand von Barossa im letzten Sommer. Marie, ihre Großmutter umarmend, davor eine große Geburtstagstorte auf dem Tisch. Marie neben ihrer Schwester, beide trugen Weihnachtsmützen und Wollpullover mit Rentieren darauf. Daneben ein Notizzettel, eine Einkaufsliste. Ich öffnete den Kühlschrank, nahm Wurst, Käse und eine Dose Coke heraus, griff zwei Scheiben Toast aus der Packung neben dem Kühlschrank und machte mir ein Sandwich. Ich setzte mich an den runden Küchentisch in der Mitte des Raumes, aß und trank. Es war totenstill im Haus und während ich aß und trank, schaute ich mich in der aufgeräumten Küche um. Durch die Reflexion im Fenster sah ich den Mann am Küchentisch. Er saß da, aß und trank. Er hatte acht Stunden an einem kleinen Schreibtisch in einem kleinen Büro verbracht und erledigte kleine, unbedeutende Dinge, die ihn langweilten. Er sah aus wie ein ganz normaler, durchschnittlicher Kerl. Er hatte einen kurzen, akkuraten Haarschnitt, trug eine Brille und führte eine Beziehung mit einer Frau, die ihn langweilte. Und nun saß er hier in der Küche. Ich schaute auf die Uhr. Es war kurz nach zehn. Ich trank den letzten Schluck Coke, warf die leere Dose in den Mülleimer, spülte den Teller ab und stellte ihn zum restlichen Geschirr neben die Spüle.
Ich ging durch den schmalen Flur zum Wohnzimmer, blieb in der Tür stehen und schaute mich um. Auf dem Couchtisch stand ein benutztes Weinglas, daneben eine Flasche Wein. Das Wohnzimmer war klein, aber gemütlich. Ich zuckte zusammen, als die Stille plötzlich durch das schrille Klingeln eines Telefons zerrissen wurde. Es klingelte drei, vier Mal, dann ging der Anrufbeantworter an.
„Hallo Marie, hier ist Mama. Ich wollte nur kurz Bescheid geben, dass wir uns morgen Abend um halb acht im Restaurant treffen, vorher schafft es deine Schwester leider nicht. Die Reservierung habe ich geändert. Wahrscheinlich schläfst du schon, mein Schatz. Ich hoffe, ich habe dich nicht geweckt. Bis morgen. Ich hab dich lieb.“
Das rote Licht am Telefon blinkte und es war wieder still. Marie war bereits vor einer guten Stunde ins Bett gegangen, schlief vermutlich schon tief und fest. Sie hatte einen harten Tag auf der Arbeit. Ich drehte mich um, ging zur Treppe und während ich leise die Stufen hinauf schritt, betrachtete ich im Vorbeigehen die Bilder an der Wand. Sie zeigten Familie und Freunde, alle sahen fröhlich und unbeschwert aus, lächelten oder machten Grimassen. Ich erreichte die oberste Stufe der Treppe und blickte den Flur entlang, dann stand ich vor der Schlafzimmertür.
Ich öffnete sie leise und trat hinein, ohne das Licht einzuschalten. Ich setzte mich auf die Bettkante. Marie lag da, ganz ruhig. Nur ihre Brust bewegte sich, hob und senkte sich in einem gleichmäßigen Rhythmus. Einzelne Strähnen ihrer langen, blonden Haare hingen ihr im Gesicht. Ich strich sie ihr zurück hinters Ohr. Sie war Mitte Zwanzig, hatte vor einem Jahr ihr Studium beendet und war nun dabei, Karriere in einer Marketingfirma zu machen. Sie war eine schöne Frau, zweifellos. Aber das war nicht wichtig. Es war nichts Sexuelles. Es ging um Macht. Das Gefühl der Macht, wenn das Leben eines Menschen in den eigenen Händen liegt. Es war ein befreiendes Gefühl. Ich griff in die Tasche meiner Jacke und zog zwei schwarze Lederhandschuhe heraus. Ich ballte meine Hände zu Fäusten und das Leder knarzte. Mein Herz begann schneller zu schlagen. Als ich ihren zarten Hals umfasste, riss Marie die Augen auf. Sie starrte mich an, blickte in das Gesicht eines ihr völlig fremden Mannes. Noch bevor sie einen Schrei von sich geben konnte, erhöhte ich den Druck. Sie wehrte sich, zerrte an meinen Armen. Ich blickte in ihre angsterfüllten Augen und spürte diesen Moment der Macht. Und ich genoss diesen Moment. Mein Puls raste. Während sie erfolglos versuchte, sich von meinem Griff zu befreien, konzentrierte ich mich auf den panischen Ausdruck in ihren Augen. Die kleinen Äderchen darin waren bereits geplatzt und ihr Gesicht wurde blass-blau. Dann wurde sie schwächer, ihre Hände ließen langsam von mir ab. Sie zuckte noch einige Male heftig. Dann lag sie nur noch da, regungslos, als würde sie wieder schlafen. Doch in ihren Augen schien die Panik wie eingefroren. Einzelne Strähnen ihrer langen, blonden Haare hingen ihr im Gesicht. Ich strich sie ihr zurück hinters Ohr. Mein Herzschlag beruhigte sich wieder. Ich stand auf, zog die Handschuhe aus und steckte sie zurück in die Jacke.
Ich ging die Treppe hinunter, vorbei an den Bildern mit den fröhlichen, unbeschwerten Menschen. Das rote Licht am Telefon blinkte und es war still. Die Glasscherben der zerbrochenen Scheibe der Hintertür knirschten unter meinen Sohlen, als ich das Haus verließ. Ich setzte mich in meinen Wagen, den ich schräg gegenüber vom Haus geparkt hatte und von dem aus ich Marie beobachtet hatte. Wie sie spät von der Arbeit nach Hause gekommen war, wie sie zum Abschalten ein Glas Wein getrunken hatte. Und wie sie ins Bett gegangen war. Ich startete den Wagen, steckte mir eine Zigarette an und fuhr los. Ich fühlte mich gut. Ich hatte mich danach immer gut gefühlt, erleichtert. Als könnte ich jedes Mal etwas bei ihnen lassen.
Ich bog in die Auffahrt ein und stellte den Wagen ab. Ich schaute auf die Uhr. Es war halb zwölf. Als ich die Haustür aufschloss, stand Lisa bereits im Flur. Wo ich gewesen sei, wollte sie wissen. Ob es zu viel verlangt sei, dass ich anrufe, wenn ich nach der Arbeit noch unterwegs bin. Sie sagte, sie habe es satt. Sie hatte Tränen in den Augen. Ich küsste sie auf die Wange, sagte, es täte mir leid. Sie drehte sich um und verschwand ins Schlafzimmer, knallte die Tür hinter sich zu. Ich betrat die Küche und schaltete das Licht an. Am Kühlschrank hingen keine Magneten und keine Fotos. Ich schaute mich um. Die Küche war unaufgeräumt, dreckig. Ich setzte mich an meinen Laptop. Das Profil von Marie war noch geöffnet. Bilder von ihrem Urlaub in Barrosa, von ihrer Großmutter und ihrer Schwester, von Familie und Freunden. Und ihr letzter Eintrag:
„Auf der Arbeit war heute die Hölle los! Gleich geht’s in den verdienten Feierabend und dann ab ins Bett. Bis morgen!“